Interview

Klaus Ottomeyer

Anzeichen von der Rückkehr zum Realismus und zu einer handwerklichen Orientierung im Leben

Zusammenfassung: Die Finanz- und Staatskrise ist noch nicht in den Realwirtschaften angekommen. Die materiellen Auswirkungen der Krise sind (noch) nicht massiv. Und doch reagieren die Menschen bereits auf die neue Situation. Einerseits gibt es zumindest in Österreich weniger Verfolgungsbereitschaft Minderheiten gegenüber, andererseits finden Menschen Sicherheit darin, dass sie vermehrt im Hier und Jetzt, mit einer größeren Bewusstheit „nur noch auf Sichtweite fahren“, obwohl der Konsum ungebrochen weiter geht. Man ist kritischer Populisten gegenüber einerseits und großen Projekten andererseits. Die Rückkehr zum Realismus wird unterstützt durch kritische Medien und soziale Bewegungen wie „Occupy Wall Street“.

Schlüsselwörter: Realwirtschaft, Minderheiten, Rechtspopulismus, Hier und Jetzt, Bewusstheit, Flüchtlinge, soziale Bewegung, Konsum

Abstract: Signs of a return to realism and to a non-industrial orientation in life. The financial and governmental crisis has not yet reached the German speaking real economies. The effects of the crises are not (yet) strong enough, and yet people already react to this new situation. On the one hand at least in Austria there is less intention of persecution of minorities, on the other hand people seek security by minimizing risks though unlimited consumption still exists. There is more critical distance towards populist politicians and big projects. The return to realism is supported by critical media and social movements just like Occupy Wall Street.

Key words: Real economy, minority, rightwing-populism, here and now, awareness, refugee, social movement, consumption

Das Interview fand im Dezember 2011 statt; die Fragen stellte Ulrich Sollmann.

1. Wie schätzen Sie die aktuelle Krisensituation ein? Welches sind typische Merkmale? (z.B. extremer Anstieg der Suizidrate in Griechenland?)

Es ist seltsam: die 2011 immer wieder prognostizierte Finanz- und Staatskrise scheint Anfang 2012 in den deutschsprachigen Realwirtschaften (Deutschland, Österreich, Schweiz) nicht angekommen zu sein. Deutschland hat – auch wenn sie etwas geschönt sind – die besten Wirtschaftsdaten seit langem. Sogar der vorsichtige Aktienkauf soll sich wieder lohnen. Andererseits herrscht in Griechenland Verzweiflung. In Ungarn steht sie vor der Tür, obwohl Viktor Orban sie mit einer chauvinistischen Großgruppen-Inszenierung („Chosen Trauma von Trinanon“, Kult um die heilige Stefanskrone, Entmachtung der Banken usw.) zu überspielen versucht. Die Jagd auf Minderheiten wird den Verzweifelten als kurzfristige Entlastung angeboten. Bei uns glauben wahrscheinlich viele – zu Recht oder zu Unrecht-, dass der Kelch an ihnen vorübergeht. Jedenfalls wird die aufgeregte Krisendiskussion von oben genutzt, um einen Sozialabbau en detail durchzusetzen. In Kärnten wurde gerade den etwa 300 noch lebenden Nazi-Opfern und WiderstandskämpferInnen die früher übliche Weihnachtszuwendung von 75 Euro gestrichen, mit der Begründung, dass viele von ihnen „Doppelbezüge“ hätten.

2. Was für einen sozialen und psychologischen Einfluss haben vier Jahre Krise auf die Menschen ausgeübt? Wie haben sich diese Einflüsse in den vergangenen vier Jahren geändert? Und wie hat sich dies auch innerhalb der Psychotherapie geäußert?

Die materielle Auswirkung der Krise ist in unseren Breiten (noch) nicht massiv. Die Legitimation kapitalistischer Herrschaft ist aber bereits weitgehend auf der Strecke geblieben. Keiner freut sich mehr, wenn von „den Märkten“ die Rede ist, ein ungenaues Wort, das mittlerweile die Finanzmärkte bezeichnet. Auch politische Figuren mit Glamour-Faktor und Retter-Image (von Jörg Haider und Karl-Heinz Grasser über von Guttenberg bis hin zum Bundespräsidenten Wulff) sind als ruhm- und geldgierige Blender enttarnt. Ob demnächst die ganz großen Betrüger kommen? Eine große rechte Bewegung mit mächtigen Vereinfachungsparolen und extrem einfachen Welterklärungen wie bei der Tea Party in den USA scheint bei uns nicht in Sicht.

3. Welches sind typische Bewältigungsstrategien der Menschen im Umgang mit der Krise? Was hat sich dabei aus Ihrer Sicht, die Sie 2010 hier geäußert hatten, bestätigt oder aus welchem Grund etwa nicht?

Es ist ein wenig wie bei Descartes: Kaum etwas ist gewiss, außer unserem eigenen Zweifel. In meinem Umfeld – auch bei PatientInnen – erlebe ich keine Panik. Eher Kopfschütteln, signalisierte Unsicherheit und viel Skepsis gegenüber Wichtigtuern. Im Land Kärnten, in dem ich lebe ist, entgegen meinen Prognosen vor zwei oder drei Jahren die Verfolgungsbereitschaft und Hassrhetorik gegenüber Minderheiten, der slowenischen autochtonen Minderheit wie aber auch gegenüber Flüchtlingen, deutlich geringer geworden. Allerdings liegen österreichweit die beiden Haider-Nachfolgeparteien zusammengenommen bei 30 % Zustimmung. Von den Behörden geplante Abschiebungen von Flüchtlingsfamilien mit kleinen Kindern nach Tschetschenien konnten mit Unterstützung der regionalen Medien (bislang) verhindert werden. Die oben erwähnte Kürzung der Weihnachtszuwendung für NS-Opfer rief eine Fülle von kritischen Leserbriefen und einfallreiche Protestinitiativen auf den Plan, die den zuständigen Sozialpolitiker dumm aussehen ließen. Rechter oder rechtspopulistischer Beifall zur schlechten Behandlung von Menschen waren anders als zu Jörg Haiders Lebzeiten in der Öffentlichkeit nicht zu vernehmen.

4. Was ist an die Stelle alter Sicherheiten und zerstörter, desillusionierter Lebensentwürfe getreten? Wo finden Menschen Sicherheit in der heutigen Zeit, wenn Wirtschaft, Politik usw. versagen?

Neben der Skepsis finden viele Menschen Sicherheit darin, dass sie im Nebel der drohenden wirtschaftlichen Krise „nur noch auf Sichtweite fahren“. Es findet eine Reduktion auf das direkt Wahrnehmbare und vielleicht gerade noch Gestaltbare statt. Das ist psychologisch ambivalent. Wir wissen auf der einen Seite, dass die „Normalisierung“: die Freude über den blauen Himmel, einen „Frühling wie immer“, die angenehmen Alltagsroutinen usw. ein Abwehrvorgang gegenüber dem Schrecklichen sein kann, der zum Beispiel am Vorabend und noch zu Beginn des Nationalsozialismus bei vielen Angehörigen von jüdischen Familien zu finden war und sie das Leben gekostet hat. Bruno Bettelheim hat dies in seinem Kommentar zum Tagebuch der Anne Frank angemerkt. Ein Leben, das vermehrt im Hier und Jetzt stattfindet, eine größere „Awareness“ jenseits oder diesseits der großen Erfolgs- und Größenprojekte beinhaltet, kann aber auch heilsam sein. Für die Individuen problematisch ist dann vielleicht wieder die konsumistische Variante einer Konzentration auf das Hier und Jetzt, die u. a. zur Verschuldung führen kann. Der Konsum scheint ja trotz oder wegen aller Zukunftswarnungen ungebrochen weiterzugehen. Aus der Sicht der Volkswirtschaftler soll er auch weitergehen, weil sonst die verordnete große „Schuldenbremse“ die Konjunktur abwürgt und die Krise verschärft.

5. Worauf haben Sie in Ihrer Arbeit diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren besonders geachtet? Was haben Sie etwa an die neue Situation angepasst? Wo sind wenn ja warum Grenzen gesetzt?

In der therapeutischen Praxis mit „normalneurotischen“ ÖsterreicherInnen habe ich kaum anders gearbeitet als zuvor. Ehekrisen, Fragen des Älterwerden, Belastungen, die mit der Betreuung der ganz Alten zu tun haben, sind nicht sehr abhängig von der Finanzkrise. Das gilt auch für den Umstand, dass wir sterben müssen. Die Wiederkehr von Verfolgungstraumata aus der Nazi-Zeit (bei einem Teil meiner Klientel) ist eher vom politischen als vom wirtschaftlichen Klima mitbedingt. Die Lösung des Konflikts um die zweisprachigen Ortstafeln in Teilen Kärntens (Slowenisch und Deutsch) während der letzten zwei Jahre war – so unbefriedigend und partikular sie auch sein mag – für die Arbeit mit den „Kinder-Überlebenden“ des Nazi-Terrors eher förderlich. In der Arbeit mit Kriegsflüchtlingen und Folteropfern aus Tschetschenien, Afghanistan usw. gehen die retraumatisierenden Gemeinheiten eher von bestimmten Beamten und von Leuten aus, die Paragraphen wie Menschenfallen basteln und anwenden. Politiker spielen nach wie vor mit den Neidgefühlen der InländerInnen in Bezug auf die angeblich bestens versorgten und arbeitsunwilligen Flüchtlinge. Wie erwähnt scheinen die Empathieverweigerung und Bösartigkeit in Bezug auf die Opfer von Gewalt in den letzten Jahren nicht angestiegen zu sein. Dass es sie gibt, ist natürlich schon schlimm genug.

6. Was haben Gesellschaft, Wirtschaft und Medien etwa aus der Krise und in der Krise gelernt? Was hat den Lernprozess und wenn ja aus welchem Grund erschwert?

Viele Verantwortliche und Betroffene in Gesellschaft, Wirtschaft und Medien haben gelernt, auf die Gefahren der „Blasenbildung“ zu achten. Die Attraktivität und das Trügerische von schönen Seifenblasen gab oder gibt es auf der Ebene der „Marke-Ich“-Programme wie bei Karl-Heinz Grasser und von Guttenberg, auf der Ebene von Unternehmens-Bilanzen und auf der Ebene von Volkswirtschaften wie im Berlusconi-Italien.

7. Wenn man Sie im Jahre 2020 fragen würde, was geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, wie wäre Ihre Antwort? Und was wären zentrale Elemente der dann ja nicht mehr krisengeplagten Situation in 2020?

Ich werde vielleicht sagen können: Es hat mit Hilfe von kritischen Medien und sozialen Bewegungen wie „Occupy Wallstreet“ eine Rückkehr zum Realismus und zu einer handwerklichen Orientierung im Leben gegeben. Scharlatane wurden enttarnt und gerecht bestraft. Die Versprechungen von neuen Heilsbringern konnten nicht greifen. Die Rückkehr zu einem religiösen Wahn, wie sie zusammen mit der Abschaffung aller sozialen Funktionen des Staates von Teilen der amerikanischen Tea-Party Bewegung angestrebt wurde, blieb zum Glück auf kleine Gruppen beschränkt.

Autor

Dr. Klaus Ottomeyer, Univ.-Prof. (Jg. 1949); Sozialpsychologe an der Universität Klagenfurt,arbeitet als Psychotherapeut mit der Methode des Psychodramas und der traumazentrierten Psychotherapie.

Korrespondenz

O. Univ.-Prof. Dr. Klaus Ottomeyer, Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie, Institut für Psychologie, Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65–67, 9020 Klagenfurt, Österreich,
E-mail: Klaus.Ottomeyer@uni-klu.ac.at