Interview

Hans-Jürgen Wirth

Zur Neubestimmung des Solidaritätsprinzips und kollektiver Identität

Zusammenfassung: Die Krise ist nicht mehr nur eine Finanzkrise, sondern eine gesellschaftliche und politische Krise. Das wissen inzwischen nicht mehr nur die Experten und Politiker, sondern die gesamte Bevölkerung. Wirth erörtert dies insbesondere auch auf die europäische Situation. Europa- und weltweit gibt es neue soziale Bewegungen wie Attac, Occupy usw. Sie sind Ausdruck einer spontanen Reaktion von unten gegen die Politik von oben. Sozialpsychologisch gesehen müssen die Europäer ihre kollektive Identität stärken. Durch die Krise insgesamt aber auch durch die sozialen Bewegungen bedingt, kommt es zu einer Wiederbelebung und Neubestimmung des Solidaritätsprinzips.

Schlüsselwörter: Ökonomische und gesellschaftliche Auswirkungen, Occupy, Ohnmacht, neue soziale Bewegungen in Europa, kollektive Identität, Solidaritätsprinzip

Abstract: On the re-definition of the principle of social solidarity and collective identity. The crisis is no longer just a financial crisis, but a social and political crisis. Meanwhile this is realized not only by experts and politicians, but also by society as a whole. Wirth discusses this with special regard to the situation in Europe. Worldwide new social movements like Occupy, Anonymous or Attac emerge which are a spontaneous bottom-up reaction towards the top-down politics. Seen from a Social Psychology perspective, the Europeans have to reinforce their collective identity. There is also a re-vitalisation and a re-definition of the solidarity principle being urged by these social movements.

Keywords: Economical and social effects, occupy, powerlessness, new social movements, collective identity, solidarity principle

Das Interview fand im Dezember 2011 statt; die Fragen stellte Ulrich Sollmann.

1. Wie schätzen Sie die aktuelle Krisensituation ein? Welches sind typische Merkmale?

Die aktuellen Folgen der Finanzkrise sind für die einzelnen Staaten und ihre Bevölkerungen und auch für jeweils einzelne soziale Schichten höchst unterschiedlich. Während beispielsweise in Griechenland drastische Sparmaßnahmen beschlossen wurden, die Teile der Bevölkerung hart treffen und zu entsprechenden Protestaktionen geführt haben, halten sich die ökonomischen Auswirkungen in der Bundesrepublik bislang noch in Grenzen. Die Bundesrepublik trägt einerseits die Hauptlast was die finanziellen Stützungsmaßnahmen und die Garantien anbelangt, profitiert aber auch von der Krise, z. B. durch extrem niedrige Kreditzinsen. Obwohl die unmittelbaren Auswirkungen auf die Bevölkerung bislang gering sind, sind auch in Deutschland Ansätze einer Occupy-Bewegung entstanden. Dies ist weniger in realer materieller Not als vielmehr darin begründet, dass man über die Irrationalität und Ungerechtigkeiten des Gesamtfinanzsystems empört ist.

Die Entstehung der Occupy-Bewegung zeigt, dass in Teilen der Bevölkerung ein moralisch motiviertes Unbehagen am internationalen Finanzsystem entstanden ist. Doch noch führen die Berufspolitiker und Fachleute auf den verschiedenen Diskussionsbühnen das Wort. Es gibt praktisch noch keine anerkannten Sprecher der Occupy-Bewegung, die der Öffentlichkeit eine einsichtige Alternative vermitteln könnten. Es fehlt sozusagen eine Petra Kelly oder ein Horst-Eberhard Richter der Occupy-Bewegung, die kompetent und zugleich glaubhaft erklären könnten, was am gegenwärtigen Finanzsystem zu kritisieren ist und wohin denn eine alternative Orientierung führen könnte. Auch die Grünen und die SPD haben bislang noch kein wirklich überzeugendes Konzept entwickelt.

2. Was für einen sozialen und psychologischen Einfluss haben vier Jahre Krise auf die Menschen ausgeübt? Wie haben sich diese Einflüsse in den vergangenen vier Jahren geändert? Und wie hat sich dies auch innerhalb der Psychotherapie geäußert?

Momentan sieht es so aus, als würde die Finanzkrise auf die sogenannte Realwirtschaft in der Bundesrepublik kaum durchschlagen. Im Krisenjahr 2011 war in der Bundesrepublik sogar ein Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Die Finanzkrise hat deshalb zwiespältige und schwer zu einzuschätzende Auswirkungen auf das Bewusstsein der Menschen: Auf der einen Seite bleibt die eigene wirtschaftliche Situation praktisch unverändert oder hat sich sogar mit dem aktuellen Rückgang der Arbeitslosigkeit verbessert. Auf der anderen Seite wird die Bevölkerung medial mit ständig neuen Schreckensmeldungen über die Schulden- und Finanzkrise der Staaten und der Banken konfrontiert. Das ist eine schwer zu begreifende Konstellation. Es entsteht ein Gefühl des Nicht-verstehen-Könnens. Trotz aller Talkshows und Experten-Dossiers bleibt die globale Finanzkrise für die meisten Menschen letztlich zu komplex und undurchschaubar. Dies ruft Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Unsicherheit und diffuse Zukunftsängste hervor.

Doch hat sich die objektive ökonomische Situation seit dem Beginn der weltweiten Finanzkrise weiter verschärft: Vor allem sind die Krisensymptome ökonomisch und psychologisch näher gerückt. Nicht nur einzelne Banken sind in der Gefahr, Pleite zu gehen, sondern ganze Staaten stehen vor der Insolvenz. Für das politische Handeln des Staates sind wir aber alle mitverantwortlich. War es bei der reinen Bankenkrise noch möglich, die Schuld ausschließlich auf „böse Spekulanten“ abzuschieben, fällt bei der Staatsschuldenkrise die Schuld (in Form der Schulden) auf den Staat und uns als Staatsbürger zurück. Wir alle müssen die Verantwortung dafür tragen, dass der Staat, d. h. auch wir in unserer Funktion als Bürger des Staates, über unsere Verhältnisse gelebt haben.

Aber was heißt das eigentlich, über seine Verhältnisse leben? Grundsätzlich hat jedes menschliche Verhalten eine zeitliche Dimension. Es ist in der Vergangenheit verwurzelt, findet in der Gegenwart statt und richtet sich auf die Zukunft. Jede Handlung ist gleichsam eine Investition in die Zukunft. Insofern ist es grundsätzlich ethisch gerechtfertigt, sich für Investitionen, von denen man sich in der Zukunft Erfolg verspricht, in der Gegenwart Geld zu leihen. Allerdings kann man auch mit zukunftsgerichteten Investitionen über seine Verhältnisse leben. Dies ist dann der Fall, wenn das geliehene Geld erst zu einem Zeitpunkt zurückgezahlt werden kann, die die eigene Lebensspanne übersteigt und insofern nicht mehr in der eigenen Verantwortung liegt. Keine Bank käme auf die Idee, einer Person Geld zu leihen für einen Zeitraum der die Dauer des menschlichen Lebens übersteigt. Im Falle von Staaten geht man aber offenbar davon aus, dass diese prinzipiell unsterblich seien. In gewisser Weise ist es ja zutreffend, dass Gesellschaften praktisch unsterblich sind, d.h. immer weiter existieren, auch wenn die Staatsform sich vielleicht verändert. Gleichwohl ist es ethisch nicht gerechtfertigt, dass eine Generation Schulden auftürmt, die erst nach mehreren Generationen oder vielleicht nie abgetragen werden können. Wir stoßen hier auf ein ähnliches Problem wie bei dem Verbrauch natürlicher Ressourcen. Auch in diesem Fall ist es ethisch nicht gerechtfertigt, dass eine oder wenige Generationen in menschheitsgeschichtlich sehr kurzer Zeit einen Großteil der natürlichen Energievorräte aufbrauchen.

3. Sie haben sich 2010 zur möglichen Neuorientierung der Menschen aus der Krise heraus geäußert. Wie sehen Sie die Situation aus heutiger Sicht?

In meiner Stellungnahme von 2010 hatte ich die These formuliert, dass „globale Krisen und Missstände wie die Finanzkrise, das Wettrüsten oder die Klimaveränderungen (…) in der Regel zu kollektiv-psychologischen Reaktionen“ führen. Ich hatte festgestellt, dass „bzgl. der Finanz- und Wirtschaftskrise noch keine neue soziale Bewegung entstanden“ sei und war auch eher skeptisch, dass eine solche Bewegung entstehen könnte. Inzwischen hat sich mit der Occupy-Bewegung eine neue soziale Kraft herausgebildet, die an die „Neuen Sozialen Bewegungen“ der 70er- bis 90er-Jahre, insbesondere an die Ökologie- und die Friedensbewegung, erinnert. Auch diese waren entstanden als spontane Reaktion von „unten“ gegen die Politik von „oben“, die über die Köpfe der Menschen hinweggeht. Beispielsweise verdankt die Friedensbewegung ihre Entstehung der Tatsache, dass die scheinbare Rationalität der Abschreckungspolitik dem Gefühl der Menschen widersprach, dass die Anhäufung von immer mehr Atomwaffen nicht zum Frieden führen könne. In gleicher Weise glauben die Anhänger der Occupy-Bewegung nicht mehr daran, dass man dem Irrationalismus des gigantisch aufgeblähten Finanzkapitalismus mit noch so raffinierten Finanzinstrumenten wirksam entgegentreten kann.

Welche Forderungen der Occupy-Bewegung letztlich weiterführen, müsste im Detail diskutiert werden. Wie häufig bei sozialen Bewegungen muss insbesondere der emotionale Gehalt der Kritik, d.h. das Bedürfnis nach einem grundlegenden Umdenken ernst genommen werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass eine zentrale Forderung von Attac, nämlich die Einführung der Tobin-Steuer, das heißt der sehr geringfügigen Besteuerung sämtlicher Finanztransaktionen, eine Forderung ist, die sich inzwischen auch die Bundesregierung zu eigen gemacht hat. Tatsächlich könnte eine solche Steuer dazu führen, dass die Dynamik der Finanztransaktionen etwas abgekühlt wird. Eine zweite Funktion besteht darin, eine gewisse Gleichbehandlung einzuführen, denn alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten in der Gesellschaft werden ja auch besteuert. Schließlich könnte die Gemeinschaft in Form von Steuereinnahmen für den Staat etwas von den Finanztransaktionen profitieren.

4. Wenn man Sie im Jahre 2020 fragen würde, was geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, wie wäre Ihre Antwort? Und was wären zentrale Elemente der dann ja nicht mehr krisengeplagten Situation in 2020?

Für die Europapolitik ist klar geworden, dass Schritte zu einer größeren Einigung der Europäischen Union in politischer und finanzpolitischer Hinsicht dringend notwendig sind. Die einzelnen Mitgliedstaaten waren bislang zu sehr darauf bedacht, ihren nationalen Entscheidungsspielraum zu wahren. Europa muss die Krise nutzen, um die politische Einigung auf ein neues Niveau zu heben.

Sozialpsychologisch gesprochen müssen die Europäer ihre kollektive Identität stärken. Es muss erreicht werden, dass sowohl die Politik als auch alle einzelnen Bürger sich mehr mit Europa, der europäischen Kultur und einem noch genauer zu definierenden europäischen Wertesystem identifizieren, um schließlich eine kollektive Identität zu entwickeln, die die nationale kollektive Identität umfasst und erweitert. Kollektive Identitäten beruhen auf der Identifikation mit bestimmtem charakteristischen Werten, Leitbildern, aber auch Utopien und Mythen (im Sinne von kollektiven Erzählungen) und gleichzeitig auch der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppierungen, die nicht unbedingt als Freunde und Gegner, wohl aber als außenstehend betrachtet werden. Wie kann man nun eine stärkere Identifikation mit dem europäischen Gedanken erreichen? Man muss deutlich machen, wohin sich die europäische kulturelle Identität beispielsweise von der Amerikas und der Chinas unterscheidet.

Amerika und China vertreten eine extrem machtorientierte und egoistische Politik. In China ist die einseitige Ausrichtung auf Profitmaximierung sogar noch ausgeprägter als in den USA. Der Marxismus als Ideologie und als ursprünglich humanistisch orientiertes Wertesystem hat für die Politik Chinas praktisch keinerlei handlungsanleitende Funktion mehr. Chinas Politik wird sowohl nach innen als auch nach außen vom nackten Prinzip des Raubtierkapitalismus bestimmt. Wenn es bei internationalen Verhandlungen, beispielsweise beim Klimagipfel, um die Einschränkung nationaler Entscheidungsspielräume und Interessen geht, gehen die USA und China eine bemerkenswerte Koalition der egoistischen Verweigerung ein. Gleichwohl gibt es eine traditionelle amerikanische Identität, die sich im amerikanischen Traum von Freiheit und individueller Selbstverwirklichung ausdrückt.

Die Europäer müssten sich selbst klarmachen, dass sie in der Tradition der Aufklärung stehend eine spezifisch europäische Identität vertreten, bei der der Kapitalismus durch das Prinzip der Solidarität gezähmt und damit humanisiert ist. Das Solidaritätsprinzip hat zwar zur Folge, dass die einzelnen Staaten ein Stück ihrer Autonomie aufgeben müssen, dafür aber ein höheres Maß an gemeinsamer Souveränität im Umgang mit den grundlegenden Problemen unserer Zeit (Umweltverschmutzung, finanzielle Turbulenzen, Arbeitslosigkeit etc.) erlangen. In der aktuellen Krise haben Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Führungsrolle übernommen, und ihr eingeschlagener Weg weist in die angedeutete Richtung. Letztlich akzeptieren die anderen EU-Länder diese Führerschaft Deutschlands und Frankreichs und es ist deutlich, dass beispielsweise der egoistische Kurs Englands ins Abseits führt.

Natürlich gehört zum Solidaritätsprinzip auch, dass es früher oder später zur Institutionalisierung eines Finanzausgleichs zwischen den europäischen Ländern kommt, ganz so, wie der Finanzausgleich zwischen den Bundesländern Deutschlands funktioniert und zu einem Ausgleich zwischen den strukturstarken und den strukturschwachen Bundesländer führt. Dazu gehört wahrscheinlich auch die Einrichtung der sogenannten Euro-Bonds oder vergleichbarer gesamteuropäischer Finanzinstrumente. Allerdings war es psychologisch nachvollziehbar, die Einführung der Euro-Bonds nicht zum jetzigen Zeitpunkt vorzunehmen, da man so jeden Anreiz zu grundlegenden Reformen der Staatshaushalte und der Wirtschaft leichtfertig aus der Hand gegeben hätte. Die Euro-Bonds können erst eingeführt werden, wenn nationale Egoismen eingeschränkt und mehr Entscheidungsbefugnisse an Europa abgetreten worden sind.

5. Menschen reagieren häufig dissoziiert auf die Krise. So bleibt beispielsweise das Kaufverhalten stabil trotz düsterer wirtschaftlicher Prognosen für 2012. So ist die Krise ein mediales Dauerthema und die Menschen scheinen wegzuhören. Kann in dieser Dissoziation auch eine Ressource liegen, neu und anders mit Zukunft umzugehen/ auf Zukunft zu reagieren?

Für die Bundesrepublik Deutschland sind die wirtschaftlichen Prognosen für 2012 keineswegs so düster. Vielmehr erleben wir momentan gerade die geringste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren. Was ihre persönliche Haushaltsplanung anbelangt, haben die Menschen in der Bundesrepublik momentan keinerlei Anlass, pessimistisch zu sein. Dass gleichzeitig Europa in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Bestehen der Europäischen Union ist, stellt ein irritierendes Phänomen dar, das Ausdruck der hochkomplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge ist. Dies löst Unsicherheit und auch in gewissem Umfang Ängste aus, die jedoch nicht so existenziell und stark sind, dass die Menschen zu dem doch sehr extremen Abwehrmechanismus der Dissoziation greifen müssten, der nur bei gravierenderen Ängsten zum Einsatz kommt.

Autor

Prof. Dr. habil. Hans-Jürgen Wirth, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet in eigener Praxis in Gießen. Lehrt als Außerplanmäßiger Professor für Psychoanalyse und Analytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/Main. Verleger des Psychosozial-Verlages. Wichtigste Buch-Veröffentlichung: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik (Giessen 2002).

Korrespondenz

Prof. Dr. habil. Hans-Jürgen Wirth, Psychosozial-Verlag, Walltorstraße 10, 35390 Gießen, Deutschland,
E-mail: hjw@psychosozial-verlag.de