Interview

Emilio Modena

Die Systemkrise wird auch 2020 nicht bewältigt sein

Zusammenfassung: Die Krisensituation hat sich seit 2008 zugespitzt. Die wesentlichen Konsequenzen muss die Unterschicht tragen. Die Konsequenzen werden individualisiert gemanagt und werden persönlich erlebt. Es entsteht eine tiefe Scham und Wutreaktion. Modena sieht einen gewissen Lerneffekt in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (vgl. Occupy usw.). Auf der anderen Seite suchen viele Menschen eine Stabilisierung ihres Selbst in Sekten. Psychotherapie ist daher aktive Unterstützung der Menschen aber auch Gesellschaftskritik in und durch die Therapiebeziehung.

Schlüsselwörter: Unterschicht, subjektive Wahrnehmung, Verlust von Lebensqualität, soziale Bewegungen, Sekten, Systemkrise bis 2020

Abstract: The System Crisis will not be overcome in 2020 eitherThe crises hasrapidly worsened since 2008. Mostly the precariat suffers from the main consequences. These consequences are individually coped with and are mainly experienced as specifically personal fate. Shame and aggression as main reactions emerge. Modena experiences a certain effect of learning in society an in public (see Occupy movement). On the other hand many people look for self stabilization joining sects or similar communities. Psychotherapy therefore is an effective support for people and at the same time effects social criticism within and by the therapy relationship.

Keywords: Precariat, subjective awareness, loss of quality of life, social movement, sects, systemic crises until 2020.

Das Interview fand im Dezember 2011 statt; die Fragen stellte Ulrich Sollmann.

1. Wie schätzen Sie die aktuelle Krisensituation ein? Welches sind typische Merkmale? (z.B. extremer Anstieg der Suizidrate in Griechenland?)

Die Krisensituation dauert seit 2008 unvermindert an. Die Hoffnung, die betroffenen Staaten könnten durch einmalige Finanzspritzen die in Schwierigkeiten geratenen und vom Konkurs bedrohten Finanzinstitute retten und damit eine wirtschaftliche Stabilisierung zu Stande bringen, hat sich zerschlagen. Einerseits werden die zur Rettung der Banken eingesetzten Kapitalien weiterhin durch Sozialabbau und allgemeiner Sparpolitik refinanziert, andererseits geht die Spekulationstätigkeit der grossen Finanzinstitute ungebremst weiter. Das Finanzkapital hat seinen Bereicherungstrieb neu auf die Währungsspekulation gerichtet und zwingt dadurch die einzelnen Nationalstaaten zu weiterer und verschärfter Austerity-Politik.

2. Was für einen sozialen und psychologischen Einfluss haben vier Jahre Krise auf die Menschen ausgeübt? Wie haben sich diese Einflüsse in den vergangenen vier Jahren geändert? Und wie hat sich dies auch innerhalb der Psychotherapie geäussert?

Die Unterschicht ist weiterhin die Hauptleidtragende. Die Produktionsbedingungen werden weiter verschärft und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Gleichzeitig werden Arbeitslosen- und Sozialhilfe bei steigenden Gesundheitskosten prekarisiert. Wie sich diese objektiven Verhältnisse auf den einzelnen Arbeiter auswirken können, zeigt das Beispiel eines 40-jährigen italienischen Lageristen, der seit über 20 Jahren in derselben Firma in Zürich gearbeitet hat. Der zunehmende Arbeitsdruck hat ihn an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Seine subjektive Wahrnehmung, den verschärften Arbeitsrhythmen und der zunehmend geforderten Flexibilisierung seines Arbeitseinsatzes nicht mehr genügen zu können, hat eine depressive Reaktion zur Folge gehabt. Ohne genügende Einsicht in den allgemeinen Krisenzusammenhang hat er sein Unvermögen individuell verarbeitet und als Scham erlebt und die Arbeitsstelle von sich aus gekündet. Er wurde mir von einem Sozialarbeiter überwiesen, aber meine Krisenintervention kam zu spät. Auf Grund einer vagen Hoffnung, in seiner Heimatgemeinde Arbeit zu finden, und vor allem aus dem Bedürfnis nach Geborgenheit im Kreise der Familie, hat er beschlossen, die Schweiz zu verlassen und nach Süditalien zurückzukehren.

Aber auch die Mittelschichten sind zunehmend verunsichert, da sie um den Wertverlust ihrer Ersparnisse fürchten müssen. Die Aktienkurse sinken und die Immobilienpreise steigen. Die Pensionskassen schränken ihre Zahlungen ein, und das Pensionsalter wird erhöht.

3. Welches sind typische Bewältigungsstrategien der Menschen im Umgang mit der Krise? Was hat sich dabei aus Ihrer Sicht, die Sie 2010 hier geäussert hatten, bestätigt oder aus welchem Grund etwa nicht?

Die Angst vor einem unausweichlich zunehmenden Verlust an Lebensqualität nimmt zu, wobei die persönliche Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Sozialhilfe meistens individualisiert wird und tendenziell eher Schamgefühle als Wutreaktionen hervorruft. Jede und jeder sind EinzelkämpferInnen (die „Ich-AGs“), die höchstens im familiären Umfeld und im Freundeskreis Verständnis und Unterstützung finden. Ich habe derzeit kaum PatientInnen, die sich aktiv in Gewerkschaften oder politischen Parteien engagieren würden. Doch wird im vertraulichen Gespräch zunehmend auch Kritik daran geübt, wie man „von den Politikern verschaukelt“ werde, und wütende Drohungen werden häufiger geäussert. Eine völlig unpolitische, psychisch chronisch kranke 50-jährige Patientin überraschte mich kürzlich mit genauen Kenntnissen über Leben und Sterben Che Guevaras, den sie bewunderte. Anderseits werden bei schweizerischen Sozialhilfeempfängern immer wieder fremdenfeindliche Schuldzuweisungen laut.

4. Sie haben sich 2010 zur möglichen Neuorientierung der Menschen aus der Krise heraus geäussert. Wie sehen Sie die Situation aus heutiger Sicht?

2010 schrieb ich, die Krise könnte als positiven Effekt eine Erweiterung des Bewusstseins über das Funktionieren der realkapitalistischen Wirtschaft zur Folge haben, man müsse aber abwarten, ob „der Lerneffekt von Dauer“ sein werde. In dieser Hinsicht stimmt die internationale Bewegung der „Empörten“ zuversichtlich, die ihren Protest kollektiv in die Öffentlichkeit getragen hat. Auch die Streik-Aktionen haben in verschiedenen Ländern (vor allem in Griechenland) stark zugenommen. Allerdings haben sich bei den nachfolgenden Regierungsumbildungen und Wahlen (z.B. Spanien) die konservativen Kräfte durchgesetzt. Wie lange noch? Die „Occupy“-Bewegung zeigt, dass immerhin eine nicht unbeträchtliche Minderheit klar verstanden hat, wo die volksfeindlichen Fäden der Wirtschaftsentwicklung gezogen werden. Doch auch bei dieser neuesten Massenbewegung fehlen weitgehend klare systemsprengende Alternativen.

5. Was ist an die Stelle alter Sicherheiten und zerstörter, desillusionierter Lebensentwürfe getreten? Wo finden Menschen Sicherheit in der heutigen Zeit, wenn Wirtschaft, Politik usw. versagen?

An die Stelle alter Sicherheiten und desillusionierter Lebensentwürfe sind abgesehen von den schon erwähnten familiären Nischen und dem Freundeskreis nur die genannten neuen politischen Bewegungen getreten. Da diese aber meistens nur locker organisiert sind und keine direkt umsetzbaren Forderungen stellen, vermögen sie zur Zeit nicht, mit jenen bereits etablierten Kräften zu konkurrieren, die über straffe hierarchische und ideologische Strukturen verfügen: Der Zulauf zu religiösen Sekten aller Arten und zu den Rechtspopulisten hält unvermindert an. Der „Sekteneffekt“ (Geborgenheit unter der Voraussetzung der unbedingten Unterwerfung und des Proselytismus) kann ein schwaches und verunsichertes Selbst ebenso stabilisieren, wie die Einübung von nationalistischen und rassistischen Grössenphantasien mit der entsprechenden Wendung der Aggression gegen Sündenböcke.

6. Worauf haben Sie in Ihrer Arbeit diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren besonders geachtet? Was haben Sie etwa an die neue Situation angepasst? Wo sind, wenn ja, warum Grenzen gesetzt?

Ich unterscheide zwischen der Rolle des Psychotherapeuten/der Psychotherapeutin als „Bourgeois(e)“ und als „Citoyen(ne)“. Bei der Arbeit in der eigenen Praxis (ökonomisch gesehen als Kleingewerbetreibender) gilt es, den PatientInnen dabei zu helfen, ihre Ressourcen optimal zu entfalten. Wir versuchen, einerseits das Ich zu stärken, anderseits den Menschen gegen widrige institutionelle Einflüsse (von Arbeitgeberseite, Sozialversicherungen etc.) aktiv zu unterstützen. Das nenne ich notwendige Parteilichkeit, Parteinahme für den Patienten. Darüber hinaus ist auch der Einbezug der Gesellschaftskritik in den Deutungsprozess (Paul Parin) heilsam, um den Betroffenen zu ermöglichen, ihre Lage als Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Zurichtung zu erkennen und möglichst nicht paranoid zu verarbeiten.

Als Staatsbürger sollten wir PsychotherapeutInnen uns nicht nur standespolitisch engagieren (z.B. für die freie Arztwahl), sondern auch unser Wissen über Psychodynamik und unbewusste Konflikte öffentlich machen. Der Kampf gegen den Rechtspopulismus (der bei fortdauernder Krise zu einer Faschisierung Europas führen könnte) erscheint mir als absolut prioritär. Darüber hinaus könnten wir auch einen Beitrag an die Entwicklung einer neuen Utopie leisten. Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die nicht nur gerecht, sondern auch triebgerecht funktioniert?

7. Was haben Gesellschaft, Wirtschaft und Medien etwa aus der Krise und in der Krise gelernt? Was hat der Lernprozess und wenn ja aus welchem Grund erschwert?

Man hat allgemein erkannt, dass dem Casino-Kapitalismus Zügel angelegt werden müssten. Z.B. wurden bei der Bankspekulation höhere Eigenkapitalanteile verlangt. Ich halte allerdings die Versuche der internationalen Gemeinschaft, das Finanzkapital auszubremsen, für eine Sysiphos-Arbeit. Im globalisierten kapitalistischen Gesamtsystem hat das Finanzkapital die Leadership. Es kann nicht über den eigenen Schatten der Profitmaximierung springen. Das ökologisch gesehen notwendige Null-Wachstum (will man den Planeten ernsthaft vor weiterer unheilbarer Zerstörung retten) wäre sein Untergang.

8. Wenn man Sie im Jahre 2020 fragen würde, was geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, wie wäre Ihre Antwort? Und was wären zentrale Elemente der dann ja nicht mehr krisengeplagten Situation in 2020?

Für 2020 sehe ich keine Bewältigung der gegenwärtigen Systemkrise voraus. Der politökonomische Trend läuft darauf hinaus, den Lebensstandard der Ersten Welt (Europa und Nordamerika) auf denjenigen der Dritten Welt zurückzuschrauben. Sollten sich die politischen Widerstände dagegen in der Demokratie als nicht überwindbar erweisen, steht zu befürchten, dass die Demokratie abgebaut wird.

Autor

Dr. Emilio Modena, geb. 1941 in Neapel, seit 1950 in der Schweiz und seit 1974 Psychoanalytiker und Psychotherapeut in eigener Praxis. Dozent und Supervisor am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ); persönliche Analysen bei Paul Parin (Zürich) und Johannes Cremerius (Freiburg i.Br.); Themenschwerpunkten Psychoanalyse und Gesellschaft/Politik, Narzissmus- und Aggressions-Theorie, psychoanalytische Ausbildung; zahlreiche Publikationen als Autor und Herausgeber

Korrespondenz

Emilio Modena, Ausstellungsstraße 25, CH-8005 Zürich,
E-Mail: emodena@dplanet.ch