Interview
Wolfgang Looss
Das mühsame Geschäft erneuter Selbstvergewisserung oder:
Erstes Spurenelement von Demut?
Zusammenfassung: Die nochmals gestiegene Komplexität überfordert die Menschen. Sie ist einfach nicht mehr zu verstehen. Dies zeigt erste Spuren von Demut bei den sonst eher Arroganten der Welt. Die extremen Leistungsverdichtungen bei den Personen und der Unüberschaubarkeit von Handeln führt zu extremen Beschädigungen auf der Personenebene. Looss plädiert daher für das mühsame Geschäft erneuter Selbstvergewisserung aber auch für die Chance, sich neu zusammenzusetzen, um sich im eigenen relevanten Umfeld Geschichten über das Leben und die Erfahrung von Krise zu erzählen.
Schlüsselwörter: Komplexität, Bewältigungsmuster, Demut, Selbstvergewisserung, widersprüchliche Zukunftsentwicklung
Abstract: The arduous business of renewed self-assurance or: The first trace of humbleness? The still increasing complexity deepens the inability to cope. The crisis is no longer understandable. This shows first signs of humility concerning the more arrogant people in the world. The extreme concentration on efficiency by the individual and the influences on coping which are hard to understand, lead to big damages on a personal level. Looss thus pleads for the uncomfortable way to renew self-reassurance in the relevant community by using the effect of storytelling about one’s own life and about the individual experience of crisis to achieve that goal.
Keywords: complexity, coping patterns, humility, self-reassurance, conflicting development of future.
Das Interview fand im Dezember 2011 statt; die Fragen stellte Ulrich Sollmann.
1. Wie schätzen Sie die aktuelle Krisensituation ein? Welches sind typische Merkmale? (z.B. extremer Anstieg der Suizidrate in Griechenland?)
Diese Neuauflage der Krise ist gekennzeichnet durch eine nochmals gestiegene Komplexität, was das „Verstehenkönnen“ und was die Bewältigungsideen betrifft. Die Kommentare und Deutungen der Expertencommunity sind vielfältig und oft widersprüchlich, d.h. es gibt einerseits keine klare Diagnose mehr und schon gar nicht irgendeine sich anbietende handlungsleitende, einsichtsträchtige Form des Umgangs mit der Situation. Gefühlt handelt es sich um den berühmten „slidingslope“, die großflächig ins Rutschen kommende Realität.
2. Was für einen sozialen und psychologischen Einfluss haben vier Jahre Krise auf die Menschen ausgeübt? Wie haben sich diese Einflüsse in den vergangenen vier Jahren geändert? Und wie hat sich dies auch innerhalb der Psychotherapie geäußert?
Die Krise überfordert die Menschen in vieler Hinsicht: Sie ist nicht mehr zu verstehen, es mehren sich die Zeichen erlernter Hilflosigkeit. Die organisatorischen Bewältigungsmuster folgen dem Motto des Pferdes „Boxer“ aus Farm der Tiere: Mehr und härter arbeiten. Mittelbar führt das zu extremen Leistungsverdichtungen bei den Personen, was zusammen mit der Unüberschaubarkeit zu extremen Beschädigungen auf der Personenebene führt („Noch jemand ohne Burnout?“).
3. Welches sind typische Bewältigungsstrategien der Menschen im Umgang mit der Krise? Was hat sich dabei aus Ihrer Sicht, die Sie 2010 hier geäußert hatten, bestätigt oder aus welchem Grund etwa nicht?
Die Bewältigungsmuster sind gekennzeichnet durch den inneren Ausstieg aus den Mühen des „noch Verstehenwollens“. Das hat resignative Züge und führt zu Eskapismus: Ungebrochener Sofortkonsum nach dem Motto: Wer weiß, was noch alles kommt. Das gilt auch für positive Phänomene: In einem großen Konzern wird offen gesagt: „Wir verstehen noch nicht einmal mehr, warum wir noch erfolgreich sind. Wir bemühen uns auch nicht mehr, wir nehmen es einfach, solange es läuft“. Es gibt einen verstärkten Rückzug auf die „überschaubare Nahwelt“ (Dirk Baecker).
4. Sie haben sich 2010 zur möglichen Neuorientierung der Menschen aus der Krise heraus geäußert. Wie sehen Sie die Situation aus heutiger Sicht?
Zunächst: Nach wie vor sehe ich die Muster, die Heiner Keupp angesichts der Unübersichtlichkeit schon 2005 beschrieben hat:
- Proteisch: Super, ich kann alles sein, was ich will und mich ständig verändern
- Fundamentalistisch: Wir müssen in solchen Zeiten an ewigen Ordnungen festhalten und uns auf sie besinnen
- Reflexiv-kommunitär: Wenn die alten Strukturen ohnehin zerfallen, dann lasst uns neue Vergemeinschaftungen entwerfen
- Selbstsorgend: Ich vervollkommne mich permanent als Individuum und entziehe mich jeder Fremdsteuerung
- Anklagend: Das darf nicht so sein, wir müssen kämpfen, vor allem für die Unterprivilegierten, denn: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“
Gleichzeitig hat sich die Situation im beschriebenen Sinne verschärft und der existenzielle Charakter der Systemstörung wird deutlicher. Das Zutrauen zu irgendwelchen Instanzen, die es dann hoffentlich schon richten werden, verschwindet rasch. Was bleibt, ist die Hoffnung, es möge nicht so schlimm kommen.
5. Was ist an die Stelle alter Sicherheiten und zerstörter, desillusionierter Lebensentwürfe getreten? Wo finden Menschen Sicherheit in der heutigen Zeit, wenn Wirtschaft, Politik usw. versagen?
In der Gleichzeitigkeit von Beschleunigung und Erstarrung, im „rasenden Stillstand“ (Hartmut Rosa) tauchen vielfältige neue kollektive „Habits“ auf. Einerseits fallen Menschen immer weiter und immer zahlreicher aus den Sicherheiten heraus und beginnen zu driften, die Gemeingüter und Solidaritätskerne schmelzen weg, Personen gehen in ihren Beziehungen und in ihrem Engagement „auf standby“. Andererseits gibt es natürlich Krisengewinnler, die Arm-Reich-Schere öffnet sich immer weiter und es gibt Verzweiflungstaten von einiger Originalität: Die Piratenpartei wird gewählt, die occupy-Bewegung wird im Alltag von Pensionären und abtrünnigen Bankern unterstützt, Radikalisierung von Weltinterpretationen zugunsten einfacher Stammtisch-Aussagen greift um sich.
6. Worauf haben Sie in Ihrer Arbeit diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren besonders geachtet? Was haben Sie etwa an die neue Situation angepasst? Wo sind wenn ja warum Grenzen gesetzt?
Meine eigenen Planungshorizonte in der Arbeit werden kürzer. Ich vergemeinschafte mich mit vertrauten Menschen und gehe weniger Kontaktrisiken in Richtung des Unbekannten ein. Ich vereinfache mein eigenes Leben noch weiter und versuche, meinen Frieden mit der Begrenztheit zu machen.
In meiner Arbeit unterstütze ich Menschen in persönlicher Sinnproduktion im Sinne von V. Frankl. Ich mache die Schwierigkeiten und Chancen unscharfer Identitäten, vielfältiger Grenzauflösungen und loser Kopplungen beim Kontaktverhalten und bei der Gemeinschaftsbildung zum Thema. Ich versuche, alles Modische und Kurzfristige rechtzeitig zu denunzieren.
7. Was haben Gesellschaft, Wirtschaft und Medien etwa aus der Krise und in der Krise gelernt? Was hat den Lernprozess und wenn ja aus welchem Grund erschwert?
Gelernt wurde bestenfalls etwas über die Unmöglichkeit, die Prozesse noch machermäßig zu beherrschen. Hier zeigen sich erste Spurenelemente von Demut bei den sonst eher Arroganten dieser Welt. Gelernt wurde, dass alles Gesagte und Geschriebene irgendwie richtig ist, gleichzeitig aber auch das Gegenteil davon. Das Ende der Sicherheit ist erlaubt. Es wird erlebt, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist und dass die utopischen Energien sich weitgehend erschöpft haben.
8. Wenn man Sie im Jahre 2020 fragen würde, was geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, wie wäre Ihre Antwort? Und was wären zentrale Elemente der dann ja nicht mehr krisengeplagten Situation in 2020?
Auch ich habe nicht genug Zuversicht, um mir das wirklich auszudenken, bestenfalls bleibt das Prinzip Hoffnung im Sinne von Ernst Bloch. Bewältigung wird 2020 neu definiert worden sein. Was vielleicht geholfen haben wird, ist die Fähigkeit, sich im Sinne eines „reboot the system“ neu zusammenzusetzen, dabei die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung über soziale Netzwerke zu nutzen, die Wunden zu lecken, festzustellen, wie groß der Schaden ist und wieder mal neu anzufangen. Zentrale Elemente wären ein kollektiver Kater, ein paar Traumata, mehr Behutsamkeit beim Neuanfang und eine erhebliche Vereinfachung der Verhältnisse.
9. Bedeutet der aktuelle Konsum (gegen besseres Wissen): ich konsumiere, also bin ich lebendig (vital)? Was erschafft/erhält meinen Selbstwert?
Kurzfristig hilft Konsum, weil Objektbindungen aufgebaut werden können, wenn auch nur kurzfristig. Die Apps des I-Phone liefern die Illusion der Beherrschbarkeit. Selbstwerterhaltung folgt vielfältigen Mustern bis hin zur physischen Gewalt: Ich kann den anderen zur Not umhauen.
10. Was kommt nach dem flexiblen Menschen, nach dem auf seine Verwertung reduzierten Menschen?
Vermutlich der sich neu und ungekannt erfindende Mensch in großer Vielfalt und Variationsbreite. Neue und andere Formen, ein WIR zu bilden. Nicht alles daran würde uns gefallen, die wir es vielleicht noch mitbekommen.
11. Welche Gefahren entstehen, wenn man als „Gefangener des eigenen Denkens“ versucht die Krise zu meistern? Was ermöglicht in diesem Sinne Neues zu lernen?
Wenn es nicht gelingt, aus dem eigenen gewohnten Realitätstunnel auszubrechen, sich selbst sorgsam zu dekonstruieren, lauert Dumpfheit und Regression, wahrscheinlich auch die klassische Verschlimmbesserung des Zauberlehrlings.
12. Wir Psychotherapeuten wissen um das innere Unbewusste und äußere, gesellschaftliche Unbewusste. Daher die Frage: Was kann man tun, wenn man/da man seine „eigene Erlösung“ nicht selbst erschaffen kann, weil man selbst Teil des gesellschaftlichen blinden Flecks ist?
Menschen reagieren häufig dissoziiert auf die Krise. So bleibt beispielsweise das Kaufverhalten stabil trotz düsterer wirtschaftlicher Prognosen für 2012. So ist die Krise ein mediales Dauerthema und die Menschen scheinen wegzuhören. Kann in dieser Dissoziation auch eine Ressource liegen, neu und anders mit Zukunft umzugehen/ auf Zukunft zu reagieren?
Die Nachrichten zur Zukunftsentwicklung bleiben widersprüchlich. Der IFO-Index steigt, die Rentenversicherung hat Reserven wie nie, die Politiker reden von schicksalhaften Tagen und dass alles in Gefahr sei, Griechenland wird seine Schulden nie zurückzahlen und trotzdem haben wir die Krise erfolgreich bekämpft.
Solche Widersprüchlichkeit ist für die Menschen nicht mehr zu verarbeiten, deswegen steigen sie kognitiv und emotional aus dem Bemühen aus, sich noch einen Reim drauf zu machen und ihr Verhalten danach auszurichten. Stattdessen schauen sie auf ihre eigene Situation und auf die Lohntüte und die ist manifest erst mal ja noch ziemlich gut, jedenfalls in Deutschland. In Griechenland, Italien, Spanien, Portugal sieht das anders aus. Bei uns konsumieren die Menschen entsprechend gängiger jahreszeitlicher Muster, so als ob es die anderen Nachrichten nicht gäbe – und in der Tat scheinen sich die verschiedenen Nachrichten in ihrem Inhalt ja auch gegenseitig zu neutralisieren.
Seltsamerweise kann dieses kollektive Verhalten in gesamtökonomischer Sicht ja sogar ein beruhigendes Signal sein, weil die Krise ja ohnehin eine Krise der Erwartungen und Erwartungserwartungen, also eine Glaubens- und Vertrauenskrise ist, in Deutschland jedenfalls noch keine faktische Krise wie etwa Fukushima oder der seinerzeitige Zusammenbruch von Lehmann Brothers. Ich gestatte mir zur Erläuterung einen auszugsweisen Verweis auf Kurt Tucholskys kurzen Abriss der Nationalökonomie, veröffentlicht in der „Weltbühne“ vom 15.9.1931 (!):
„Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. ‚Stützungsaktion‘, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben.“
Bei dem heutigen Grad an Vernetztheit und bei den gegebenen nachrichtlichen Wirkungsketten in Echtzeit kann ja wirklich der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings woanders einen Wirbelsturm auslösen. Oder, noch einmal Tucholsky, schon 1931: „Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten“.
Entsprechend kann womöglich jedes wahrnehmbare Verhalten von Unerschütterlichkeit in diesem Sinne einen stabilisierendes Signal sein, einen Trend starten oder verstärken. Damit wird auch eine Sicht befördert, dass die Dinge offenbar irgendwie schon weitergehen werden. Auch so kann beim Ritt über den Bodensee Zuversicht entstehen nach dem Motto: „Nicht in den Abgrund schauen!“
Autor
Dr. Wolfgang Looss, gelernter Betriebswirt und Gestalttherapeut, berät seit nunmehr dreißig Jahren Personen, Gruppen und Organisationen im Profit- und Non-Profit-Bereich in Veränderungsprozessen, bildet Beratungspersonen aus und supervidiert sie.
Korrespondenz
Praxis für Management Development und Organisationsberatung, Darmstadt – Berlin, Büro: Hauptstraße 44d,
64331 Weiterstadt, Deutschland,
E-Mail: WLooss@t-online.de, www.Looss-Consult.de