Originalarbeit (Titelthema)

Johannes Gabriel

Die Zukunft schlägt zurück

Zusammenfassung: Der Autor befasst sich mit Krisen aus Sicht der Zukunftsforschung und geht der Frage nach, wie und warum sich Finanz- oder Wirtschaftskrisen auf den Menschen übertragen und was mögliche Gegenmaßnahmen sein könnten. Es wird argumentiert, dass sich Krisen dann auf das Individuum übertragen, wenn diese zuvor die Ungewissheit der Zukunft unterbewertet oder ausgeblendet hat. Eine Übertragung der Ungewissheit auf den Menschen führt dazu, dass er sich seiner eigenen Anpassungsmaßnahmen an eine sich durch Krisen schnell in ihrer Struktur verändernden Umwelt unsicher wird. Der Übertragung von Krisen auf den Menschen kann vorgebeugt werden, wenn Ungewissheit der Zukunft akzeptiert und gedanklich vorausbehandelt wird. Rechtzeitige Antizipation mittels Gedankenexperimenten könnte ein Instrument dafür sein. Zukunft schlägt folglich nicht nur mit Krisen zurück, wenn sie mit Unachtsamkeit gestraft wird, sondern mobilisiert auch Anpassungsfähigkeiten und ermöglicht einen Lernprozess.

Schlüsselwörter: Krise, Zukunft, komplexe Systeme, Antizipation von Handeln, Ungewissheit.

Abstract: The future strikes back. The author addresses the phenomenon of crisis from a future studies’ perspective. He raises the question of how and why financial or economic crisis can devolve to the personal level and how we can find counter measures. He argues that crisis is taken up by individuals if those have underestimated or ignored a future’s given uncertainty. A transmission of uncertainty to a person leads to an increasing insecurity concerning his or her adjustment measures. These measures can help to adapt fast changing structures of surrounding systems that run in crisis mode. An individual’s crisis can be avoided if future’s uncertainty is accepted and notionally examined in advance. Timely anticipation via thought experiments could be an appropriate instrument. Future does not only strike back with crisis if its uncertainty is ignored but also mobilizes adaptation capabilities and enables a learning process.

Keywords: crisis, future, complex systems, anticipation of acting, uncertainty.

Man kann heute bereits in der Summe auf etwa fünf Jahre Immobilien-, Finanz-, Wirtschafts-, Staatsschulden- und Währungskrise zurückblicken. Nach solch langer Zeit drängen sich einige Fragen auf: Was ist die Ursache für das Ausbrechen von Krisen? Wie und warum übertragen sich Krisen konstruierter Systeme auf den einzelnen Menschen? Wie kann man diesem Übergriff auf die Person entgegenwirken oder vorbeugen? Andererseits: Warum kommt beispielsweise die Eurokrise bei der Mehrheit der Deutschen nicht an, wie eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie vom 29. Dezember 2011 belegt?

Allein die Tatsache, dass wir heute solche Fragen stellen, zeigt eindeutig, dass es auch nach dieser längeren Krisenerfahrung immer noch nicht gelingt, die verschiedenen Krisen in ihren Zusammenhängen zu verstehen und ihre Folgen für den Menschen abzuschätzen. Fragen nach dem Verständnis können kaum abschließend beantwortet werden, da sie immer an die Perspektive des Betrachters gebunden sind. WirtschaftswissenschaftlerInnen haben ein anderes Verständnis von Krise als Soziologen oder Psychologen. Das ist unproblematisch, es zeigt nur, dass sich ein Phänomen nicht aus einer einzelnen Perspektive fassen lässt.

Diese kurze Untersuchung möchte sich der Krise aus Sicht der Zukunftsforschung nähern und der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis Zukunft und Krise zueinander stehen (als Zukunft wird im Folgenden immer ein Zeithorizont von einigen Jahren verstanden). Wenn diese Perspektive zum Verständnis beitragen kann, dann dürften sich auch Rückschlüsse in Bezug auf die übergeordneten Fragen ziehen lassen. Die hier vertretene Behauptung lautet wie folgt: Wenn man zu lange unachtsam mit Zukunft umgeht, schlägt Zukunft irgendwann plötzlich zurück. Doch auch wenn sie uns mit Krisen schlägt, meint sie es im Grunde nicht schlecht mit uns. Denn mit Krisen rettet sie uns nicht selten vor dem Niedergang.

Die Argumentation setzt bei den Begriffen von Krise und Zukunft an. Erst davon ausgehend kann das Verhältnis von Zukunft und Krise genauer unter die Lupe genommen werden. Hier bietet sich eine Betrachtung auf zwei Ebenen an: Die Systemebene kann allgemeine Zusammenhänge darstellen und Hinweise liefern, welchen Bedingungen sich der Mensch auf der Handlungsebene mit Zukunft und Krise konfrontiert sieht. Diese Argumentation muss vor allem auf der Basis der Erkenntnistheorie geführt werden und kann sich eines abstrakten Charakters nicht ganz erwehren.

1. Definitionen von Krise und Zukunft

Nach der Brockhaus Enzyklopädie leitet sich der Begriff aus dem griechischem krísis ab und bedeutet „Entscheidung“ und „entscheidende Wendung“. Allgemein wird unter Krise eine schwierige und gefährliche Lage verstanden. Mediziner bezeichnen mit Krise den Wendepunkt im Krankheitsverlauf, der zu einer plötzlichen Verschlechterung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes führen kann. Wirtschaftswissenschaftler hingegen sehen in der Krise den plötzlichen Umschwung von Wachstum zu Schrumpfung, assoziieren also eine negative Entwicklung mit Krise. Gleiches gilt für die Psychologie. Hier wird unter Krise eine Phase großer Belastungen im Entwicklungsprozess verstanden, die oft mit Ängsten und Depressionen einhergeht. Einer negativen Weiterentwicklung kann häufig nur mit Hilfe einer Krisenintervention vorgebeugt werden. Hierzu heißt es im Brockhaus weiter: „Der Entwicklungsprozess in einer Krise kann langfristig positiv sein, indem die betroffene Person sich weiterentwickelt und neue Bewältigungsstrategien lernt.“

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Krise etwas zu tun hat mit grundlegenden, plötzlichen und zumeist auch als negativ wahrgenommenen Veränderungen. Dabei müssen diese Veränderungen noch nicht vollständig eingetreten sein. Plötzliche Veränderungen führen zu abnehmender Funktionsfähigkeit und können über kurz oder lang in einer Katastrophe münden. Deshalb gilt es, Krisen schnell zu überwinden, die negativen Folgen möglichst gering zu halten und den Niedergang abzuwenden. Bereits diese allgemeine Definition deutet darauf hin, dass Krisen immer auch etwas mit Zukunft zu tun haben.

Nach dem Historiker Reinhart Koselleck ist Zukunft differenziert zu betrachten. Da ist zunächst die Zukunft, die so eintreten wird, wie sie eintritt. Sie ist also eine zukünftige Gegenwart. Dann gibt es zudem die Zukunft, über die in der Gegenwart nachgedacht und kommuniziert werden kann. Das ist die gegenwärtige Zukunft. (Koselleck 1989, 355). Weil Erwartungen stets vom Betrachter abhängen, muss es viele gegenwärtige Zukünfte geben. Welche der gegenwärtigen Zukünfte sich erfüllen und ob überhaupt eine dieser eintritt, muss dabei verborgen bleiben. Zukunft ist also ein Raum möglicher Entwicklungen und als solcher ungewiss. Zukunft hat keine Faktizität, denn sie ist ja eben noch nicht (Neuhaus 2006, 146). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie von Natur aus ungewiss ist, sie kann schlicht nicht gewusst werden (Minx & Böhlke 2006). Es scheint tautologisch, nach den Ursachen für die Ungewissheit von Zukunft zu fragen. Doch in Zusammenhang mit dem Begriff der Krise lohnt ein zusätzlicher (wenn auch oberflächlicher) Blick in die verschiedenen Theorien komplexer Systeme.

2. Komplexe Systeme

Das Finanzsystem, das europäische Währungssystem, das Weltwirtschaftswachstumssystem: Alle diese Systeme bestehen aus einer unglaublichen Vielzahl von Elementen und den Verbindungen zwischen ihnen. Um sich das vor Augen zu führen, muss man sich nur fragen, wer und was alles Einfluss auf den Wechselkurs des Euro zum U.S.-Dollar hat. Keine Theorie der Ökonomie kann für sich in Anspruch nehmen, hier eine abschließende Antwort parat zu haben und kein Mensch ist auch nur annähernd in der Lage, alle Elemente und ihre Zusammenhänge zu kennen. Strukturelle Komplexität bedeutet, dass es mehr gibt, als man zu erfassen in der Lage ist. Die Welt ist voll von strukturell komplexen Systemen. Viele von ihnen mögen lange und gut erforscht sein, doch sie werden sich nie abschließend erfassen lassen. Schon allein die Anzahl von Entscheidungsträgern macht es unmöglich, die Struktur von sozialen Systemen vollständig zu wissen (Koselleck 2000, 220) und letztendlich hat man es immer dort mit sozialen Systemen zu tun, wo Menschen Entscheidungen treffen, also fast überall.

Die meisten strukturell komplexen Systeme weisen zudem eine dynamische Komplexität auf. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei dynamischer Komplexität um eine unüberschaubare Fülle von Veränderungsmöglichkeiten im Zeitverlauf. Hier ist nicht nur die Frage relevant, wer oder was Einfluss auf Wechselkurse hat, sondern auch, wie sich Elemente untereinander beeinflussen und wie sich ihr Zusammenspiel über die Zeit verändern kann. Dynamische Komplexität schließt dabei das Finden einer Regel oder Gesetzmäßigkeit für die Veränderung von Strukturen und Zusammenhängen nahezu aus. Denn auch Veränderungen sind im Zeitverlauf (Zukunft hat hier immerhin ein Zeithorizont von einigen Jahren) Veränderungen ausgesetzt.

Es ist hervorzuheben, dass sich Veränderungen heute schneller vollziehen als je zuvor. Der Soziologie Hartmut Rosa hat verschiedene Arten der Beschleunigung herausgearbeitet. Er sieht technologische Beschleunigung im Transport von Menschen, Gütern und Informationen, die Beschleunigung von Entscheidungs- und Kontrollprozessen sowie eine soziale Beschleunigung, die Handlungsorientierungen und Praxisformen verändern (Rosa 2005, 124-129).

Komplexe Systeme, so die Theorie, können trotz gleicher Ursachen sehr verschiedene Auswirkungen aufweisen, das Kausalitätsprinzip hat hier eingeschränkte Gültigkeit. In der Systemtheorie wird dies mit Hilfe der Chaostheorie beschrieben, die besagt, dass komplexe Systeme zwar nach Regeln funktionieren, ihr Verhalten jedoch unberechenbar ist und sich, wenn überhaupt, nur in groben Zügen erfassen lässt. Derartige Systeme können nur „am Rande des Chaos“ stabil existieren, wenn sie sich durch Selbstorganisation anpassungsfähig halten (Simon 2007, 28-31). Der Verlauf einer Anpassung muss, so kann hier ergänzt werden, ungewiss bleiben und ist nicht vorherzusagen.

Aus dem zuvor gesagten lassen sich zunächst drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens prägen strukturelle und dynamische Komplexität die Welt, in der wir leben, jeder einzelne ist umgeben von komplexen Systemen. Zweitens lässt sich hier, ohne vollständig in die Abstraktheit der Systemtheorie abzudriften, festhalten, dass Komplexität per se kein Problem für komplexe Systeme ist, da komplexe Systeme ja stabil existieren können. Die dritte Schlussfolgerung leitet von der System- auf die Handlungsebene über: Komplexität wird in dem Moment zu einem Problem, wenn sie aus der Umwelt auf ein System einwirkt und ihre Verarbeitung, den Umgang mit ihr einfordert. Denn eine komplexe Umwelt ist nicht vorherzusagen, das betreffende System kann über die Zukunft seiner Umwelt nicht sehr viel wissen. Mit dieser Tatsache gehen verschiedene Systeme oft nicht sehr achtsam um. Das gilt auch und vielleicht vor allem für den Menschen, für die einzelne Person. Der persönliche Umgang mit Zukunft soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen, bevor auf den Zusammenhang zwischen Zukunft und Krise weiter eingegangen werden kann.

3. Vom System zum Mensch

Menschen müssen die Zukunft antizipieren, um zielgerichtete Entscheidungen treffen zu können. Denn nur wenn Zukunft bereits vor der Handlungsentscheidung Berücksichtigung findet, kann geplant und erfolgreich gehandelt werden. Die Fähigkeit der gedanklichen Antizipation von ungewisser Zukunft ist vielleicht diejenige, die den planenden Menschen von den Tieren am deutlichsten unterscheidet (Suddendorf & Corballis 1997).

Was für die Antizipation der Folgen des eigenen Handelns gilt, hat ebenso Gültigkeit für die Bedingungen, denen diese unterworfen sind. Hier wird es schnell problematisch, denn diese Bedingungen werden durch die komplexen Systeme der eigenen Umwelt maßgeblich beeinflusst. Komplexe Umwelten bringen Ungewissheit mit sich und man ist gezwungen, die Bewertung von Handlungsalternativen unter Ungewissheit aufzustellen. Im Ergebnis ist die daraus resultierende Entscheidung mit ihren Folgen für die Zukunft nicht sicher, sondern unsicher. Ungewisse Zukunft sorgt beim Menschen für Unsicherheit bei den Entscheidungen, mit denen er in die Zukunft hineinwirkt und das sind strenggenommen alle Entscheidungen. In Bezug auf die hier definierte Zukunft mit einem Zeithorizont von einigen Jahren handelt es sich um strategische Entscheidungen.

Ungewissheit und Unsicherheit behagen dem Menschen in der Regel nicht. Das lässt sich leicht nachvollziehen, denn Handeln unter Unsicherheit ist immer damit verbunden, dass etwas anders kommt, als man sich zuvor gedacht hat, weshalb sich ein Handlungserfolg nicht einstellen kann. Unsichere Entscheidungen tragen also immer Risiken und unintendierte Auswirkungen in sich. In sozialen Systemen können Entscheidungen einzelner dabei nicht nur ein Risiko für den Entscheider selbst bedeuten, sondern zudem eine Gefahr für andere darstellen (Nassehi 1993, 373). Kein Wunder also, dass unsichere Entscheidungen nicht gerne getroffen, hinausgezögert oder ausgeblendet werden.

Mögliche Folgen dieser Unterbewertung von Ungewissheit und Unsicherheit sind, dass viele strategische Entscheidungen suboptimal ausfallen, Handlungsfolgen unerwartete Konsequenzen mit sich bringen und das persönliche Handlungsziel verfehlt wird.

4. Wie die Krise zum Menschen kommt

Die komplexen Systeme in der Umwelt des Menschen verändern sich immerzu und der Mensch ist zur Anpassung gezwungen (gleichzeitig verändert der Mensch selbst auch seine umliegenden Systeme, doch diese Tatsache sei hier zurückgestellt). Er kann unter Normalbedingungen recht gut damit umgehen, dass die ihn umgebenden Systeme sich nach und nach verändern, denn er kann sich in kleinen Schritten anpassen. Ungewissheit und Unsicherheit spielen bei diesen kleinen Schritten sicherlich auch eine Rolle, dominieren aber nicht den persönlichen Planungs- und Entscheidungsprozess. Was geschieht nun, wenn die den Menschen umgebende, komplexe Umwelt Anzeichen von Krisen erkennen lässt?

Laut der obigen Definition von Krise kann sie an plötzlichen, als negativ wahrgenommenen Veränderungen und der abnehmenden Korrekturfähigkeit von Systemen erkannt werden. Wenn sich die entsprechenden Systeme jedoch unerwartet, schnell und maßgeblich in ihrer Struktur verändern, dann werden unerwartete, schnelle und vielleicht grundlegende Anpassungen notwendig. Unter diesen Anpassungsbedingungen nehmen Ungewissheit und Unsicherheit stark zu und lassen sich aus dem persönlichen Planungs- und Entscheidungsprozess nicht wegdenken. Je grundlegender die Strukturveränderungen in den umliegenden Systemen sind, desto weniger lassen sich in der Vergangenheit bereits erprobte Anpassungsstrategien anwenden, bewährte Daumenregeln können nicht einfach auf neue (komplexe!) Strukturen angepasst werden und müssen versagen.

In der Folge steigt die Gefahr von unerwarteten Konsequenzen und der Verfehlung der persönlichen Anpassung massiv an. Spätestens an diesem Punkt entfalten vergleichsweise abstrakte Krisen ein persönliches Moment und springen auf den Menschen über. Denn hier steigt plötzlich seine Ungewissheit über die Wirksamkeit des eigenen Anpassungsverhaltens dramatisch an. Der Mensch steht der Notwendigkeit einer Anpassung an die sich schnell und radikal verändernde Umwelt mit Ratlosigkeit gegenüber und muss fürchten, dass eine Anpassung misslingt. Unter Krisenbedingungen überträgt sich zuerst die Ungewissheit über Zukunft von Umweltsystemen auf den Menschen, bevor er sie über andere Kanäle (wie Arbeitslosigkeit, Vermögensverluste, etc.) zu spüren bekommt. Unter „Normalbedingungen“ würde eine Übertragung von Unsicherheit nicht stattfinden und der Mensch müsste nur mit der Ungewissheit der ihn umgebenden Systeme planen und Entscheiden, nicht aber mit der eigenen. Kommt diese hinzu, wird das System Mensch selbst früher oder später Symptome einer Krise aufweisen, die sich nicht selten als Krankheit diagnostizieren lassen. Dass er nicht weiß, wie es weitergeht und wie er selbst weitermachen kann, macht den Menschen krank.

5. Mögliche Gegenmaßnahmen

Wie kann sich der Mensch (und vielleicht auch andere Systeme, die hier nicht behandelt werden können) davor schützen, dass er von Krisen anderer Systeme krank gemacht wird? Dieser medizinischen Frage kann sich hier natürlich nur aus der Perspektive des Zukunftsforschers angenähert werden. Zwei Aspekte sollen hier im Mittelpunkt stehen:

Die erste Möglichkeit scheint darin zu bestehen, dass Ungewissheit als elementarer Bestandteil von Zukunft angenommen wird. Denn es ist nicht die Ungewissheit von Zukunft selbst, die eine Übertragung von Krisensystemen auf den Menschen ermöglicht, sondern ihre vormalige Unterbewertung. Wird Zukunft in ihrer grundlegenden und charakteristischen Natur verkannt oder ignoriert, schlägt sie über Krisen im Sinne plötzlicher und radikaler Strukturveränderungen in der Umwelt des Menschen zurück! Dieser Angriff ist ein Rückschlag, den der Mensch im doppelten Sinne selbst angezettelt hat: Einerseits sind Menschen für die Krise von konstruierten Systemen wie dem Finanzsystem zu einem großen Teil selbst verantwortlich, andererseits ist es die individuelle Unterbewertung oder Ausblendung von Ungewissheit der den Menschen umgebenden Systemumwelt. Es darf also davon ausgegangen werden, dass schon allein das Verständnis von Ungewissheit der Zukunft der Übertragung von Krisensituationen auf den Menschen vorbeugen kann. Man kann Zukunft bei aller Anstrengung nicht vorherwissen!

In direktem Zusammenhang mit der Ungewissheit der Zukunft steht die Unsicherheit von Planungs- und Entscheidungsprozessen oder Situationen in Bezug auf Zukunft. Wenn Ungewissheit als Wesensmerkmal der Zukunft akzeptiert und verstanden wird, dann muss auch Unsicherheit im Umgang mit dieser akzeptiert werden. Daraus folgt die Erkenntnis, dass es die eine optimale Entscheidung in Bezug auf Zukunft nicht geben kann. Handlungsoptionen lassen sich nicht abschließend in Bezug auf Zukunft bewerten und die Möglichkeit einer Verfehlung des Handlungsergebnisses lässt sich nicht ausschließen.

Der Schlüssel liegt in der Fähigkeit zur Antizipation, denn Antizipation setzt keine Gewissheit voraus. Zukunft muss zum Zwecke der Antizipation gar nicht vorhergewusst werden, es reicht vollkommen aus, wenn Zukunft vorhergedacht werden kann. Gedankenexperimente sind ein dem Menschen sehr vertrautes Mittel der Antizipation von ungewisser Zukunft und werden Szenarien genannt. Sie können nicht nur dabei helfen, die Ungewissheit von Zukunft besser zu verstehen, sondern sind außerdem dabei behilflich, die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität zu erhöhen. Denn wenn man sich bereits zuvor bewusst Gedanken darüber gemacht hat, was in einem eventuellen Krisenfall zu tun sein könnte, kann man bei Eintritt schneller reagieren, als wenn man unerwartet und unter Zeitdruck mit einer Neubewertung der Handlungsoptionen beginnen müsste. Da dem Denken bekanntlich wenig Grenzen gesetzt sind, haben Gedankenexperimente gegenüber eingeübten Denkmustern bei der Antizipationen (trotz ihrer Zeitintensität) einen enormen Vorteil: Sie können Strukturveränderungen einbeziehen und werden damit der Realität komplexer Systeme wesentlich besser gerecht.

Ob sich aus diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen des Zukunftsforschers zum Verhältnis von Zukunft und Krise weitere Gedanken für die Psychotherapie entwickeln lassen, muss hier dem Leser überlassen bleiben.

6. Schlussbetrachtung

Hier sollen stattdessen noch einige allgemeinere Schlussfolgerungen gezogen werden: Warum ist eine klare Aussage, ob die Krise bereits bei den Menschen angekommen ist, so schwierig? Nach der obigen Betrachtung ist das „Ankommen einer Krise beim Menschen“ aus seiner Umwelt eine erkenntnistheoretische Frage. Wenn Menschen plötzlich der Ungewissheit ihrer Umwelt gewahr werden, erst dann kommt die Krise bei ihrer Person an. Während dieses Vorgangs entpuppt sich Wissen als nur vermeintliches Wissen, es lassen sich Wissenslücken erahnen und überall taucht Nichtwissen auf, wo man sich vorher noch des Wissens sicher war. Am Beispiel der globalen Finanzkrise lässt sich zeigen, warum ein solcher Vorgang bei einem großen Teil der Gesellschaft bis heute gar nicht eingesetzt haben muss: Es gab auch vor der Krise vielleicht nie eine Situation, in der Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft dieses Systems unterbewertet wurde, weil das Wissen über das globale Finanzsystem bei vielen Menschen dafür nicht ausreichend war und ist. Nicht einmal Finanzmarktexperten waren und sind sich immer noch nicht vollständig einig, was die Finanzmarktkrise ausgelöst hat. Wie sollen dann die Menschen ohne Fachwissen die Geschehnisse an den Finanzmärkten verstehen? Die Wissenslage über Finanzmärkte hat sich durch die Krise dieses Systems für einen Großteil der Menschen nicht nennenswert verschlechtert, vielleicht sogar viel eher durch die Medien verbessert. Wenn dem so ist, dann besteht für viele Menschen gar kein Anlass für eine Neubewertung der Ungewissheit, die dieses komplexe System in sich trägt, denn es wurde bereits vor der Krise als sehr unsicher wahrgenommen. Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise wie Arbeitslosigkeit und Vermögensverluste hingegen spielen sich in Teilen des Wirtschaftssystems ab, die besser verstanden werden und zudem einem altbekannten Muster folgt: Abschwung. Negative Wirtschaftsentwicklung und die mit ihr verbundenen Folgen sind für viele Menschen keine neue Erfahrung, sie sind leichter zu antizipieren und Anpassungsstrategien wie Jobwechsel, Weiterbildung und eine Diversifizierung der Vermögenswerte sind bekannt und vielleicht bereits erprobt. Der Maßstab unterscheidet die gegenwärtige Krisenserie von früheren Weltwirtschaftskrisen. Der Maßstab lässt sich in bereits bestehende Strategien jedoch vergleichsweise leicht einarbeiten.

Aus Sicht eines Investmentbankers oder einer anderen Person, die selbst Teil des Finanzsystems ist, stellt sich die Situation natürlich ganz anders dar. Die Krise des Finanzsystems greift durch eine Übertragung der Unsicherheit auf den Banker über, der sich plötzlich einer radikal anderen Struktur gegenübersieht, die er sich zuvor nicht einmal vorstellen konnte. Wie dramatisch die Folgen einer persönlichen Krise sein können, zeigen die vielen Selbstmorde in diesem Sektor.

Es lassen sich zwei weitere Schlussfolgerungen ableiten: Erstens haben Krisen (für die Person sowie für das abstrakte, komplexe Umweltsystem) trotz aller negativen Seiten auch Vorteile. Nur Krisen setzten in komplexen Systemen Kräfte frei, die für eine erfolgreiche Anpassung an sich schnell und fundamental verändernde Umwelten von Nöten sind. Es darf hier nicht vergessen werden, dass komplexe Systeme ihrer Natur nach nur „am Rande des Chaos“ stabil existieren können, denn nur durch die hier freigesetzte Anpassungsfähigkeit lässt sich ein möglicher Niedergang verhindern. Das lässt sich am Beispiel des Menschen leicht zeigen: Fieber setzt Abwehrkräfte frei, die der Körper im Normalmodus nicht zur Verfügung hätte. Auf das Verhältnis von Krise und Zukunft übertragen heißt das: Krisen setzten ein Bewusstsein über die Ungewissheit der Zukunft frei, das bei der Ausarbeitung neuer Lösungswege aus der aktuellen und vielleicht auch aus folgenden Krisen behilflich sein kann. Vor diesem Hintergrund waren vielleicht einige Krisen noch nicht stark genug, um wirklich tiefgreifende Anpassungen in Angriff nehmen oder durchsetzen zu können.

In diesem Sinne schlägt die Zukunft nicht zurück, um zu bestrafen, sondern um einen Lernprozess anzustoßen und um Kräfte zu mobilisieren, die bei dem Verstehen und bei der Akzeptanz von Ungewissheit der Zukunft helfen und somit der Antizipationsfähigkeit auf die Sprünge helfen. Denn Antizipation kann die vorgezogene und schrittweise Anpassung auf mögliche Krisensysteme in der eigenen Umwelt sein, was ein Übergreifen einer tatsächlich eintretenden Krise verhindern kann. Wie Niklas Luhmann einmal bemerkt hat, suggeriert der Krisenbegriff nur eine dringliche Strukturveränderung (Luhmann 1987, 645). Ein kritischer Zustand beim Nachdenken über Zukunft, im Sinne einer permanenten Reflexion des eigenen Umgangs mit Ungewissheit, hilft persönlichen (und vielleicht auch anderen) Krisen vorzubeugen. Der Umgang mit ungewisser Zukunft lässt sich erlernen und kann die Persönlichkeit ein wenig krisenfester machen.

Autor

Johannes Gabriel, M.A., studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität Trier und schließt momentan seine Promotion über wissenschafts- und erkenntnistheoretische Aspekte des wissenschaftlichen Umgangs mit Zukunft ab. Er lebt seit 2007 als Zukunftsforscher und Berater mit Schwerpunkt Umfeldforschung und Strategieentwicklung in Berlin und war seitdem bei der Daimler AG beschäftigt, war für ein internationales Energieunternehmen tätig und arbeitete mit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem Global Public Policy Institute (GPPi) sowie staatlichen Institutionen zusammen.

Korrespondenz

mail@johannes-gabriel.de

Literatur

Gigerenzer, G. & Brighton, H. (2009): Homo heuristicus: Why biased minds make better inferences, in: Topics in Cognitive Science, Vol. 1, 107–143.

Koselleck, R. (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kosseleck, R. (2000):

March, John G. & Olson, Johan P. (1998): The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization, Vol. 52, No. 4, 943-969.

Minx, Eckard & Böhlke, Ewald (2006): Denken in alternativen Zukünften. Internationale Politik 61(14), 14-22.

Nassehi, Armin (1993): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Opladen: Westdeutscher Verlag.

Neuhaus, Christian (2006): Zukunft im Management. Orientierungen für das Management von Ungewissheit in strategischen Prozessen, Heidelberg: Carl Auer.

Luhmann, N. (1987): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Simon, Fritz B. (2007): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, Heidelberg: Carl Auer.

Suddendorf, Th. & Corballis, M. C. (1997): Mental time travel and the evolution of the human mind, in: Genetic, Social, and General Psychology, Vol. 123, No. 2, 133-167.