Editorial
Ulrich Sollmann
Rendite sei ein Menschenrecht
„Partylaune an der Wall Street ist zurück“ meint bereits im Januar 2011, dass allein fünf der größten amerikanischen Banken Bonizahlungen in Höhe von 90 Milliarden Dollar anpeilen. (WamS, 23.1.2011)
Bereits 2009 war allen Beteiligten: Banker-, Finanzminister-, ÖkonomInnen, Medien und den Menschen klar, dass niemand die Komplexität der Risiken, die in der Krise verborgen liegen, auch nur annähernd erfassen kann. (Manager Magazin 12/2011) Wissen wir heute mehr, fragt und konstatiert das Magazin die den Menschen bereits alltägliche Erkenntnis, dass das Nichtwissen über Krise und Risiko sogar noch explosionsartig zugenommen habe. Ein Bankvorstand, den ich coache, schmunzelte fast, als er mir daraufhin rhetorisch mit den Worten: „Meinen Sie wirklich, dass wir als Banker wissen, wie mit 1,3 Billionen Euro des Europäischen Rettungsschirms umzugehen ist?“ zu verstehen gab, dass die durch die Politik erwartete Kompetenz im Entferntesten nicht eingelöst werden kann.
Mutet es dann nicht wie Hybris oder Arroganz an, wenn Finanzmärkte, Politik und ExpertInnen die Menschen glauben machen wollen, doch mehr zu wissen?
Ich fühle mich wie im technokratisch-zynischen Schlaraffenland, wenn ich von dem Vorhaben des Züricher Risikoforschers Dirk Helbing lese. (Der Spiegel 42/2011) Dieser Forscher meint über Supercomputer, Finanzkrisen und Revolutionen vorhersagen zu können. Die künstliche Intelligenz, so Helbing, könne wie ein „Orakel der Neuzeit“ helfen. Der Spiegel äußert sich ausführlich in einem seiner Dezember-Titel „Schlussverkauf“ zur Krise und unterstreicht überzeugend, wie die Finanzmärkte funktionieren und die Politik vor sich her treiben. (Der Spiegel 50/2011) Die Märkte setzen auf Wachstum, auch wenn der Präsident der europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Dr. Mirow als international anerkannter Experte sagt, dass „Wachstum uns nicht retten wird“. (Die Zeit 36/2011)
Ein Wachstum, das jetzt (Stand 19.1.2012) sogar beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Klage aufschlägt, Rendite sei doch ein Menschenrecht.
Politik sieht sich, wie das Handelsblatt im Dezember 2011 sehr ausführlich darlegt, mit einem neuen Gegenspieler, einer neuen Opposition konfrontiert. Nicht mehr die parlamentarische Opposition drängt darauf, neue Prinzipien durchzusetzen, eine neue Politik zu machen, sondern jetzt sind es die Großbanken, die Ratingagenturen und Hedgefonds, die Politik machen. Spätestens seit Mitte 2011 praktizieren diese gefährlichen Gegenspieler der Regierungen ihre Oppositionspolitik, indem sie inzwischen sogar Regierungen wie bspw. in Italien vor sich hertreiben und sogar zum Rücktritt zwingen. „In Europa“, so das Handelsblatt, „hat das Primat der Ökonomie das Primat der Politik abgelöst“. (2.12.2011)
Demokratie, Politik in der Demokratie, lebt vom Diskurs, vom kontinuierlichen Austausch mit den Menschen und ihren institutionellen Vertretern. Die zugespitzte Krise im Übergang zum Jahre 2012 dokumentiert aber eindeutig das Ende dieses demokratischen Diskurses. Somit auch das Ende der Demokratie? Befinden wir uns also schon in einer postdemokratischen Phase?
Ein Krisengipfel jagt den anderen, die Abstimmung mit den Parlamenten, d.h. mit den gewählten BürgervertreterInnen, ist nicht mehr möglich. Klagen gegen die Politik und die Krisenentscheidungen werden wahrscheinlich erst in Monaten oder Jahren geklärt. Inzwischen werden aber politisch, ökonomisch und leider auch menschlich Fakten geschaffen.
Das ist Krise 2012
Die Menschen verlieren das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft. Sie verlieren das Vertrauen in die Politik als eine von Menschen gewollte, von der Gesellschaft initiierte Instanz, das soziale Gemeinwesen so zu regeln, dass es die Interessen der Menschen und gerade nicht nur der Ökonomie bedient. Da klingt es wohl vernünftig, wenn der Goldman-Sachs-Vorstand Cohn mehr Regulation der Märkte fordert, „denn hochentwickelte Märkte brauchen auch hochentwickelte Aufsichtsbehörden“. Im gleichen Atemzug charakterisiert er aber die Arbeit der Bankaufseher als Sisyphos-Arbeit insoweit, als sie „stets die Probleme der Vergangenheit nicht aber die der Zukunft“ regulieren. (WamS, 30.1.2011)
Und wie reagieren die Menschen in der Krise? Die Wertestudie des Hamburger Trendbüros bestätigt das, was viele bereits wissen: Familie, Gesundheit und Gemeinschaft sind den Deutschen wichtig. (Manager Magazin 1/2012) Die Wertestudie bringt es mit den Worten auf den Punkt: „Rückzug ins Vertraute. Erfolg ist out“. Stephan Grünewald vom Marktforschungsinstitut rheingold analysiert den „Schrei der Deutschen nach Heimat“ und will Unternehmen beibringen, wie sie Heimat bieten können und gleichzeitig Profit. (Magazin Die Welt 2/2011)
Ein Widerspruch in sich?
Nicht mehr der Besitz ist „noch was wert“, sondern „was im Leben eigentlich Wert hat“ gibt Halt, Sicherheit und Orientierung. (Manager Magazin 1/2011) Das Wertegefüge ist ins Wanken gekommen, Lebenszufriedenheit scheint nicht mehr nur an Geld, Besitz und Wohlstand gekoppelt zu sein.
Wie reagieren die Menschen in der Krise, wenn die Finanzmärkte kollabieren, die Rezession die europäische Wirtschaft prägt, der Euro kurz vor der Zerreißprobe steht und ganze Länder kurz vor der Insolvenz stehen. Wie reagieren also die Deutschen im „ökonomischen Ausnahmezustand“?
Hier ein Blitzlicht aus einer Studie des Wirtschaftsmagazins Capital (8/2010):
- Die Rezession bremst die Zahl der Neugeborenen.
- Körperliche Ertüchtigung und Frustbewältigung führt zu einem Zulauf bei Fitness-Studios.
- Der Krankenstand steigt stetig.
- Die Auswirkung auf die psychische Gesundheit/das psychische Wohlbefinden der Menschen sind eindeutig gravierend und Besorgnis erregend. Während Anfang der 90er Jahre sich die Menschen durchschnittlich nur 1,1 Sorgen machten, waren es im Jahr vor der Krise durchschnittlich 2,8 Sorgen und im Jahr 2010 bereits 3,2 Sorgen.
Die größte Sorge, so die Forscher, sei die Sorge um den Arbeitsplatz. Sorgen machen sich die Menschen also um ihre Arbeit, um die ökonomische, materielle Grundsicherung. Die Menschen sorgen sich dabei auch darum, sozial ausgegliedert zu werden und zu verarmen. Und die Menschen sorgen sich um ihr emotionales, seelisches und psychisches Gleichgewicht. Laut Krankenkassenbericht 2011 kommt es daher zu einem Anstieg der Krankentage (pro Mitarbeiter mit Burnout-Syndrom) von 4,6 auf 63,2 pro 1000 Kassenmitglieder zwischen 2004 und 2010.
Die Krise führt die Menschen aber auch zusammen. Sie rüttelt sie auf. Sie macht sie sensibel und bewusst für die Missstände, aber auch dafür bewusst, sich doch endlich neu gesellschaftlich zu vergemeinschaften. Der kritische Journalist Friedrich Küppersbusch beschreibt diese Menschen als politisch engagierte Bürger, die zugleich der Parteipolitik müde sind. Diese Menschen finden ihre Themen nah im eigenen Lebensbereich, nachvollziehbar, da selber betroffen und unideologisch, praktisch in der Herangehensweise, wie man sich Gehör verschaffen will. Es handele sich um „teils erfrischend ungekämmte Koalitionen von Bürgern gegen mehr oder minder große Koalitionen von Parteien“ so Küppersbusch (Medium Magazin 7/2010)
Kann die Krise also auch international und national als Gründerzeit sozialer Bewegungen verstanden werden? Bewegungen wie der Arabische Frühling, Occupy Wall Street, Anonymous, Stuttgart 21 und andere.
Nicht nur den deutschen Atomkraftwerken und den europäischen Banken stehen Stresstests ins Haus. Nein, den Demokratien selbst drohen soziale Stresstests. Müssen die Gesellschaften doch in Zukunft weitestgehend damit auskommen, was sie erwirtschaften. (Manager Magazin 1/2012) Das Vertrauen in die politischen Institutionen nimmt ab und die Verteilung von Vermögen, Einkommen und Lebenschancen wird zunehmend als ungerecht empfunden. Während in Deutschland die Wahrnehmungsschere ca. 70 % Ungerechtigkeit sieht und nur ca. 20 % Gerechtigkeit, erobert Occupy Wall Street mit „we are the 99 %“ den weltweiten Diskurs.
Occupy will, so der Spiegel (52/2011), die Menschen in die Lage versetzen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Occupy will ihnen die Kraft dazu geben. Occupy ist ein soziales Labor, ist „keine radikale Bewegung, denn sie sagt, was viele denken“.
Steingart mahnt aber die Deutschen, denn Reform, „einst ein Sehnsuchtsversprechen“, wird heute vielfach als Drohung wahrgenommen. Widerstand „war“, so Steingart, “früher eine große Vokabel, da sie vom Kampf gegen Unrecht und Unmenschlichkeit kündete … Der Widerstand gegen einen Bahnhof (d.V. Stuttgart 21) entwertet aber das Wort.“ (Der Spiegel 10/2011)
Im ersten Themenheft 2010 haben wir uns ausführlich mit der Einschätzung der Krise und der Einschätzung der Wirkung auf die Menschen befasst. Aus heutiger Sicht völlig naiv hatten wir im Grunde unseres Herzens gehofft, heute in 2012, einen Rückblick auf die Krise halten zu können und eine Einschätzung abzugeben, ob unsere Ansichten aus 2010 sich bewahrheiteten. Eines scheint klar zu sein: nicht die Krise ist heute das Thema sondern die ständige Metamorphose von Krise.
Stefanie Haas von infratest dimap beleuchtet die Krisenwahrnehmung der Deutschen aus Sicht der Demoskopie. Die Menschen befürchten eine weitere Eintrübung des wirtschaftlichen Klimas, während die Auswirkungen auf den persönlichen Einflussbereich weniger prekär eingeschätzt werden. Die Menschen zweifeln an der Politik, lediglich das Handeln von Kanzlerin Merkel würde den Bruch der BürgerInnen mit der Politik verhindern.
Wolfgang Looss benennt eindeutig die Ohnmacht der Menschen und die der Wirtschaft vor der Komplexität der Krise. Diese beschädigt extrem auf der Personenebene. Er fordert daher eine neue, wenn auch schwierige Form der Selbstvergewisserung und plädiert für mehr Vergemeinschaftung.
Emilio Modena ist sich sicher, dass die Krise auch 2020 noch nicht vorbei ist. Die Auswirkungen werden individualisiert und müssen getragen werden. Auch wenn Scham und eine tiefe Wut entstehen, sieht Modena in den neuen sozialen Bewegungen eine Chance. Psychotherapie ist daher Unterstützung und Bewusstmachung von Gesellschaftskritik.
Hans-Jürgen Wirth ist der Auffassung, dass die Krise mit all ihren Erscheinungsformen im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen ist. Er diskutiert die Situation in Europa und sieht in den neuen sozialen Bewegungen eine wichtige „heilende“ soziale kraft von unten gegen die herrschende Politik. Dies hilft die kollektive Identität zu stärken und führt zur Wiederbelebung und Neubestimmung des Solidaritätsprinzips.
Nach Klaus Ottomeyer ist die Krise noch nicht in den deutschsprachigen Realwirtschaften angekommen und doch reagieren die Menschen auf die neue Situation. Es kommt zumindest in Österreich zu weniger Verfolgung von Minderheiten. Trotz weiteren ungetrübten Konsums leben die Menschen „eher auf Sichtweite“ und sind offen für kritische Medien und neue soziale Bewegungen, und weniger anfällig für Populisten in der Politik.
Gustl Marlock filtert drei zentrale Reaktionsweisen der Menschen auf die Krise heraus: 1. Die Krise implodiert autoaggressiv ins Innere der Menschen, 2. Einübung von „Lebenskunst“ im Sinne von pragmatischer Gelassenheit, 3. Kritik, Protest und Revolte als Gegenbewegung zur Implosion. Psychotherapie sollte daher nicht zudeckend arbeiten sondern die Menschen ernst nehmen in ihrer emotionalen Feinfühligkeit und gesellschaftlichen Intelligenz.
Der junge Zukunftsforscher Johannes Gabriel schließlich beleuchtet Krise aus Sicht der Zukunftsforschung. Krisen übertragen sich gerade dann auf die Menschen, wenn diese zuvor die Ungewissheit der Zukunft unterbewertet oder ausgeblendet haben. Der Übertragung von Krisen auf den Menschen kann vorgebeugt werden, wenn Ungewissheit der Zukunft akzeptiert und gedanklich vorausbehandelt wird. Rechtzeitige Antizipation kann daher ein wichtiger gesellschaftlicher und persönlicher Lernprozess der Anpassung und gleichzeitigen Emanzipation sein.
Das neue Themenheft Psychotherapie-Wissenschaft versteht sich in diesem Sinne als Beitrag zu einer gesellschaftskritischen Psychotherapie. Möchte daher zu einem fortgesetzten kollegialen Diskurs anregen.
Korrespondenz