Originalarbeit
Isabelle Meier
Komplexe und Schemata
Ein Vergleich von Konzepten der Analytischen Psychologie nach C.G. Jung und der Schematherapie nach Jeffrey Young
Zusammenfassung: Viele Psychotherapie-Forscher quer durch alle Schulen sind sich einig, dass psychische Störungen auf dysfunktionalen Beziehungsmustern beruhen, die aufgrund verletzter Grundbedürfnisse in der Kindheit entstanden sind. Bereits Freud sprach vom Wiederholungszwang von Beziehungsmustern, die aus bewussten und unbewussten Anteilen zusammengesetzt seien, aus generalisierten Erwartungen bestehen und zu maladaptiven Verhalten führen können, die mit gegenwärtigen Menschen beständig neu inszeniert werden. Wie aber lassen sich solche Beziehungsmuster erfassen? Mit dem Konzept der Komplexe antworten die Analytischen PsychologInnen nach C.G. Jung - mit den Schemata die kognitiven Therapeuten um Jeffrey Young. Der folgende Beitrag stellt einen ersten Überblick über die beiden Konzepte dar.
Schlüsselwörter: Komplexe, Schematherapie, Analytische Psychologie, kognitive Verhaltenstherapie, Konzepte
Abstract: Complexes and Schemata
Across all schools of psychotherapy there are many researchers who agree that mental disorders are based on dysfunctional relationship patterns that have emerged due to basic needs not having been met in childhood. Freud applied the term repetition compulsion to these patterns, that have both conscious and unconscious components. These components consist of generalized expectations leading to maladaptive behavior which the person repeats again and again. How can such relationship patterns be understood? The Analytical Psychologists of C.G. Jung responded: with the concept of complexes. Cognitive therapists, following Jeffrey Young, responded with the concept of schemas. The following article gives an overview of these two approaches.
Key words: Complexes, Schema therapy, Analytical Psychology, cognitive behavioral therapy, concepts
1. Vergleich der theoretischen Vorstellungen
Der Begriff des Komplexes – umgangssprachlich als Minderwertigkeitskomplex, Autoritätskomplex oder Mutterkomplex bekannt - stammt aus dem lateinischen Wort „complexus“, was Umfassung, Verbindung, Verknüpfung bedeutet. Die Komplextheorie wurde von C.G. Jung ab 1905 entwickelt (Jung, 1911). Freud und Adler nahmen den Begriff Komplex auf, als Oedipuskomplex (Freud), als Macht- und Minderwertigkeitskomplex (Adler). Komplexe stellten für Jung den Königsweg zum Unbewussten dar, - nicht die Träume wie Freud glaubte (Jung, 1934).
Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich die Bedeutung des Begriffes “Komplex” so entwickelt, dass er einen Makel bedeutet. In der theoretischen Auffassung der Analytischen Psychologie nach C.G. Jung hat er aber zunächst eine neutrale Bedeutung: Komplexe können sowohl eine gesunde wie pathogene Prägung aufweisen (Das Verliebtsein weist zum Beispiel alle Kennzeichen eines Komplexes auf.). Sie verweisen auf zentrale Themen, Motivationen und Bedürfnisse. In ihrem Kern lassen sich deshalb Archetypen auffinden, die auf den anthropologischen Niederschlag von immer wieder gleichen Themen und Erfahrungen in der Menschheitsgeschichte hinweisen.
In Komplexen werden aber auch die persönlichen Erinnerungen und Phantasien aus prägenden Beziehungsinteraktionen der Kindheit und Jugendzeit abgebildet, einschliesslich der damit verbundenen Emotionen. In der Jungschen Literatur wird im folgenden einseitig der Fokus auf die pathologischen Komplexe, auf die Krankheitslehre gelegt (Bovensiepen, 2009; Shalit, 2002): Komplexe werden im impliziten Gedächtnis abgespeichert, „hervorgerufen vermutlich durch einen schmerzhaften Zusammenstoss des Individuums mit einer Anforderung oder einem Ereignis in der Umwelt, denen es nicht gewachsen ist.“ (Kast, 1990, S. 44). Die Wahrnehmung hinsichtlich späterer ähnlicher Ereignisse wird gestört. Die erwachsene Person verliert, wenn Komplexe „anspringen“ seine Differenzierungsmöglichkeiten und zeigt übertriebene Emotionen und Körperreaktionen (Haule, 2011). Das Verhalten ist der Situation oft nicht angepasst, sondern stereotyp und läuft automatisch ab. Man reagiert nicht so, wie man sollte oder wollte, die Reaktion läuft automatisch ab.
Als weiteres, intersubjektives Merkmal ist die Konstellation der Komplexe zu erwähnen. Nicht nur derjenige, der in einen Komplex „gefallen“ ist, sondern auch sein Gegenüber gerät in die Komplexfalle hinein. Seine Wahrnehmung, Gefühle, Körperempfindung und sein Verhalten werden mitgeprägt. Je nach Kraft der Komplexe zwingen sie das Gegenüber mehr oder weniger in das Komplexgeschehen mit hinein.
Die Jungianerin Jolande Jacobi nennt ferner vier verschiedene Haltungen gegenüber eines Komplexes: Keine Ahnung seiner Existenz (alles ist unbewusst), die Identifikation mit dem Komplex, die Projektion des Komplexes und die Konfrontation mit dem Komplex. (Jacobi, 1959, auch Dieckmann, 1991). Kast erweiterte diese Einteilung weiter: Innerhalb der Identifikation ist einerseits die Opferidentifikation (Kindpol) oder die Täteridentifikation (Elternteil) möglich (Kast, 1994). Beispiel: Entweder man verhält sich wie das verletzte Kind oder wie der strafende Elternteil. In Psychotherapien kann die Projektion des Komplexes auch in der Übertragung auftauchen.
Die Schematherapie und damit die dritte Welle der kognitiven-verhaltenstherapeutischen Therapierichtung (Kahl et al., 2011) wurde von Jeffrey E. Young vor etwa 20 Jahren in den USA begründet (Young et al. 2005, Young et al. 1993), aber erst vor fünf Jahren wurde sein Buch „Sein Leben neu erfinden“ (Young & Klosko, 2006) auf Deutsch übersetzt und im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Anlass der Schematherapie-Entwicklung war, dass Young und seine Mitarbeiter Emotionen in der Therapie beobachtet hatten, die nichts mit der gegenwärtigen Situation oder mit dem Beziehungsgeschehen in der Therapie zu tun hatten. Sie vermuteten, dass frühere Beziehungserfahrungen der Klienten aktiviert wurden. Weiss und Sampson nannten dies bekanntlich den „Beziehungstest“, den jeder Therapeut bestehen müsse, sodass der Klient neue, „korrigierende, emotionale Erfahrungen“ machen könne (Weiss, Sampson et al. 1986).
Der Schematherapie teilt mit dem Komplexkonzept von C.G. Jung die Vorstellung, dass sich im Laufe einer Kindheit und Adoleszenz, falls wichtige Bedürfnisse unerfüllt bleiben, stabile, teilweise dysfunktionale Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster entwickeln, die ein Muster aus Erinnerungen, Emotionen, Kognitionen und Körperempfindungen beinhalten, die später reflexartig ausgelöst das Verhalten steuern können. Die Schematherapeuten konzentrieren sich auf die negativen Schemata. Klienten erwarten unbewusst, dass sie in der Therapie oder im Leben im Stich gelassen, beschämt, kritisiert, entwertet oder überfordert werden, wenn sie es bereits als Kinder wurden. Jeffrey Young spricht von sog. „Lebensfallen“ (Young & Klosko, 2006) und bezeichnet solche Schemata als „frühe maladaptive Schemata“ (Early Maladaptive Schemas, Young et al., 2005). Problematische (dysfunktionale) Verhaltensweisen entstehen dabei als Reaktion auf ein Schema, sind jedoch selbst kein Teil des Schemas. Ursprünglich wurde die Schematherapie für Menschen mit Borderline-Störungen entwickelt (Arntz & van Genderen, 2010). Sie wurde aber in der letzten Zeit ausgeweitet und auf andere Störungen angepasst (z.B. für die narzisstische Persönlichkeitsstörung, Dieckmann & Behary, 2010; für die Posttraumatische Belastungsstörung PTBS, Cockram et al., 2010). Der Sprachgebrauch scheint dabei noch nicht einheitlich zu sein. Auch Begriffe wie „Skript“, „Modell“ und „Muster“ werden im vergleichbaren Rahmen gebraucht.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen lässt sich bezüglich des Konzeptes Übertragung/Gegenübertragung aufzeigen. Schematherapeuten integrieren diese Konzepte nicht in die Therapie. Jungianer betonen, dass Komplexe in einem intersubjektiven Feld wirksam sind. Komplexe werden in die Therapie hineingetragen, in Form von Projektionen und Konstellationen, die gerade bei negativer Übertragung eine wichtige Rolle spielen. Die Komplexorganisation sowohl des Klienten wie auch des Therapeuten müssen im Auge behalten werden. Wenn ein Schematherapeut bei Aktivierung eines Schemas in den emotionalen ‚Sog‘ eines sog. Kindmodus hineingerät, ‚markiert“ er den Ablauf, um sodann in eine gemeinsame Beobachterperspektive zu wechseln (Roedinger, 2010, S. 24). Es ist zu bezweifeln, dass dieses so einfach gelingt. Wenn man mit Grawe einig geht, dass Probleme ohne Beteiligung der Emotionen nur unzureichend behandelt werden können (Grawe, 1994), so wäre es von Vorteil theoretisch zu überdenken, was die emotionale Aktivierung des Komplexes oder des Schemata in der Therapie und beim Therapeuten auslöst. Wie die Schematherapeutin Gitta A. Jacob richtig bemerkt, ist es bemerkenswert, dass die Schematherapie zwar im praktischen Vorgehen Ideen von vielen Therapieschulen aufgreift, aber dies „theoretisch wenig aufgearbeitet wird“ (Jacob, 2011, S. 183).
Komplextherapie (Analytische Psychologie) |
Schematherapie (Kogn.Verhaltenstherapie) |
Fallbeispiel (Vaterkomplex) gemäss Analytischer Psychologie |
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Auslöser |
Typische Auslösesituation |
Typische Auslösesituation |
Klient wird von seinem Chef wegen seiner beruflichen Ineffizienz kritisiert. |
Emotion |
Komplexemotion ist übertrieben (Wut, Angst, Scham, Verliebtsein etc.) |
Negative Emotionen wie Gefühle der Scham, Angst, Wut, Schuld |
Klient ärgert sich maßlos über Chef, der Sachen von ihm fordert, die er selber nicht erfülle. |
Kognition |
Komplexkognition ist verzerrt, begleitet von unbewussten Assoziationen. |
Internalisierte, negative Annahmen. Kognitive Verzerrungen |
Klient: Chef ist ungeduldig, versteht und unterstützt mich nicht. Er bewertet mich knallhart. |
Wahrnehmung |
Wahrnehmung ist eingeengt, verzerrt, Klient ist sensibilisiert auf Thema |
Wahrnehmung ist verzerrt |
Wahrnehmung des Klienten ist verzerrt, gleichzeitig diffus. |
Körperempfinden |
Komplexe werden körperlich erlebt. |
Schemata werden körperlich erlebt. |
Unruhe, Anspannung |
Verhalten/Abwehr/ Bewältigung |
Stereotype, reflexartige Komplexreaktionen |
Starre Bewältigungsmodi (Überkompensation, Vermeidung, Unterwerfung) |
Zögerndes, ausweichendes, sich verzettelndes Verhalten, leicht abzulenken |
Archetyp |
Gemeinsamer Bedeutungskern der Komplexe mit begleiteten Assoziationen |
Archetyp des strengen, autoritären Vaters |
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Bezug zum Unbewussten |
Komplexe laufen unbewusst ab |
Schemata laufen unbewusst ab |
Vorgänge laufen für Klienten nicht bewusst ab. |
Projektionen |
Komplexe können projiziert werden |
Projektionen werden nicht erwähnt |
Klient: Chef ist wie mein Vater, versteht mich nicht, will das ich mich unterordne, ist desinteressiert |
Identifikation |
Komplexidentifikation in Kind-oder Erwachsenenpol (Kast,1990) |
Kindmodus: Verletzliches, wütendes, undiszipliniertes etc. Kind Elternmodus: strafende, distanzierte oder fordernde Eltern |
Kindpol: Klient zögert, weicht aus. Erwachsenenpol: Klient macht, was er will, zeigt egoistisches, Verhalten gegenüber Anforderungen. |
Therapeutische Beziehung Übertragung/ |
Komplexe werden in Therapie hineingetragen, „Zusammenspiel“ der Komplexe des Klienten und des Therapeuten (Bovensiepen, 2009) |
Therapeut gerät in ‚Sog‘ des Kindmodus (Roediger, 2010, S. 24) Übertragung /Gegenübertragung werden nicht erwähnt. |
Therapeutin realisiert, dass sie Klienten drängt und ungeduldig wird, weil er in Therapie um Brei herum redet und unwichtige Geschichten erzählt. |
Konstellationen |
Komplexe konstellieren „Kraftfelder“ (Dieckmann, 1991) |
Nicht vorhanden |
Klient konstelliert immer wieder Situationen, in denen Vorgesetzte ungehalten reagieren. |
Symbole |
Im symbolischen Material lassen sich Komplexe finden, z.B. in Träumen und Imaginationen (Kast, 1994, Bovensiepen, 2009) |
Imaginationen spielen wichtige Rolle in Schematherapiebehandlung |
Klient zeichnet Bilder (z.B. Wolkenbild, in denen er sich befindet, statt Hürde auf Erde zu überwinden) |
Diagnose |
Komplexdiagnose mit diagnostischem Assoziationsexperiment möglich |
Verschiedene Fragebogen, Tests etc. |
Tabelle 1: Detaillierter Vergleich von Komplexen und Schemata
2. Vergleich der Behandlungsansätze
Beide Therapierichtungen gehen zunächst davon aus, dass man die Komplexe bzw. Schemata bewusst machen soll, indem man die Vorgänge genau beleuchtet. Welche Erwartungshaltung ist mit Komplex und Schema verbunden? Gemeinsam ist auch die Haltung, dass die Reflexions- und Mentalisierungsfähigkeit des Klienten verbessert werden soll, sodass seine Kognitionen, Gefühle und Handlungen flexibler werden.
2.1. Bewusstmachung von Komplexen und Schemata
Konkret gehen Analytische PsychologInnen hierbei theoriegeleitet davon aus, dass wichtige Komplexe rund um die Eltern und Geschwister, teilweise auch in der Schule entstehen. Die Erfragung von Vater- und Mutterkomplex gehört deshalb zu den wichtigsten diagnostischen Fragen in der Analytischen Psychologie. Ziel ist es, dass man realisiert, wenn man in den Komplex „fällt“, sodass man sich von seinen inneren Affekten und Prozessen langsam lernt zu distanzieren und Projektionen zurückzunehmen. Auch Schematherapeuten versuchen, die „Lebensfallen“ bewusst zu machen und bei einer Schemaaktivierung die Handlungstendenz bewusst zu unterbrechen und nicht dem „emotionalen Autopiloten“ zu folgen (Kabat-Zinn, 2006). Schemaaktivierung sei unvermeidlich, aber der darauf folgende Handlungsimpuls oder die spontane Emotion können neuen erwachsenen Bewältigungsstrategien weichen. Ziel der Therapie ist nicht, das durch die Schemaaktivierung bewirkte Erleben zu verhindern (z.B. Angstgefühle oder Anspannung), sondern die symptomverstärkende Handlungen zu verändern (Rüdiger, 2009). Zur diagnostischer Erhebung der „Schemalandschaft“ hat Jeffrey Young hat mit seinen Mitarbeitern fünf Schematabereiche mit insgesamt 18 Schemata festgestellt (Young et al. 2005). Aus Platzmangel soll dieses Thema nur überblicksmässig gestreift werden. Die fünf Schematabereiche umfassen: 1. Abgetrenntheit und Ablehnung (z.B. Emotionale Verlassenheit), 2. Beeinträchtigung von Autonomie und Leistung (z.B. Erfolglosigkeit/Versagen), 3. Beeinträchtigung im Umgang mit Begrenzungen (z.B. Anspruchhaltung/ Grandiosität), 4. Fremdbezogenheit (z.B. Aufopferung) und 5. Übertriebene Wachsamkeit und Gehemmtheit (z.B. überhöhte Standards)
2.2. Konfliktbearbeitung: Symbolische Arbeit mit Kindteil und Elternteil
In der Behandlung der Analytischen Psychologie wird versucht in Kontakt mit dem Komplex zu kommen, indem der Komplex gestaltet wird. Oft werden Komplexe dazu personalisiert, z.B. als inneres Kind bezeichnet, da dadurch Phantasien, Bilder und Imaginationen leichter erlebbar werden, bis zu dem Punkt, an dem ein Dialog möglich wird. Komplexe können außerdem in Träumen in personifizierter, symbolischer Form erscheinen, z.B. in Form von Kindern, Gespenstern, bedrohlichen Figuren. Zur Behandlung gehört ebenso die gemeinsame Symbolbetrachtung, z.B. die gemeinsame Betrachtung eines gemalten Bildes. Die therapeutische Beziehung ist zentral. Jungianer sind nicht abstinent, sondern die Therapie geprägt von einem Dialog, in dem es darum geht, das Gegenüber zu verstehen.
Interessant ist, dass die Schematherapeuten ebenfalls ein solches „Drittes“ integrieren. Schematherapeuten verstehen darunter das gemeinsame Erstellen einer Biographie oder Ausfüllen eines Fragebogens. Gewisse Hinweise lassen sich in einer solchen „Dreier-Situation“ eher einfügen als in der Zweiersituation: Der Satz „Sie sind offensichtlich emotional-sozial vernachlässigt worden“ ist schwieriger zu äussern als zu sagen: „In den Fragebögen zeigt das Schema „emotionale Vernachlässigung“ an. Das passt zu dem, was sie gesagt haben“ (Rüdiger, 2009, S.59). Die therapeutische Beziehung ist geprägt von einer begrenzten elternhaften Fürsorge („limited reparenting“; Jacob, 2011, Young et al., 2005), die Emailkontakt und Telefonanrufe miteinschliessen kann.
Analytische PsychologInnen personalisieren die Komplexe des einzelnen Klienten und reichern sie mit symbolischem Material an. Schematherapeuten hingegen gehen anders vor, nämlich vom je aktivierten Schema und bezeichnen dieses als Modus. Mit Schema bezeichnen sie die hintergründige Erregungsbereitschaft im Sinne eines Persönlichkeitszuges (sog. Trait), der Modus ist der aktuell erlebbare, momentane Zustand der Persönlichkeit (sog. State) (Roediger, 2009). Schemata sind im Hintergrund vorhanden, sie werden bei Aktivierung zu Modi.
Ein Klient zeigt sich, wenn ein Schema aktiviert ist, z.B. im Modus des „Kindes“ („verletztes“, „verlassenes“, „verärgertes“, „wütendes“, „impulsives Kind“) oder im Modus der „Innere Eltern“ („strafender Elternteil“, „fordernder Elternteil“ oder „distanzierter Elternteil“) oder kippt von einem zum andern. Es geht hier hauptsächlich um das Erleben des Klienten. Wie hat er sich als Kind erlebt (Kind-Modus)? Welche Regeln und Bewertungen hat er von den Eltern erlernt und internalisiert? (Innere-Eltern-Modi). Welche Bedürfnisse wurden nicht erfüllt? Hier zeigen sich Unterschiede in der Herangehensweise bei den symbolischen Formen des Kind-Modus oder des Kind-Poles (Kast, 1994).
Beim emotionalen Vernachlässigungs-Schema erlebt sich z. B. der Klient als „verletztes Kind“, während er sich beim gleichen Schema aber im Modus des „inneren Elternteils“ sich selber gegenüber als bestrafend, bewertend oder sich quälend erlebt. Komplextherapeuten neigen dazu, sich dieses innere Kind als konkretes Kind vorzustellen, was therapeutisch sehr fruchtbar sein kann, weil man es mit Bildern und Imaginationen viel besser „bearbeiten“ kann. Allerdings müssen das innere Kind oder die inneren Eltern nicht die Realität darstellen, vielmehr sind es verinnerliche Gefühle, sekundäre Emotionen oder ein Konglomerat von enttäuschten Erwartungen. Die inneren Eltern können sich ferner auch auf mobbende Klassenkameraden oder auf einen Verwandten beziehen. Es sind Internalisierungen oder psychodynamisch gesprochen Introjekte und keine realistische Darstellung der Kindheit.
Analytische PsychologInnen thematisieren die Bewältigungsstrategien, die ein Klient aufgrund solcher Kindheitssituationen entwickelt, kaum. Die Schematherapie widmet ihnen hingegen ein eigenes Kapitel „Bewältigungsmodi“. Schematherapeuten gehen davon aus, dass es drei Bewältigungsmechanismen gibt: Vermeidung, Überkompensation und Sich-Fügen gemäss den biologischen Mustern von Flucht, Kampf und Unterwerfung. Solche Mechanismen sind oft starr und engen die Reaktionen des Erwachsenen ein. Beim Bewältigungsmodus Vermeiden tut der Klient so, wie wenn das Schema nicht aktiviert ist und unterdrückt die beteiligten Gefühle. Bei der Überkompensation versucht sich der Betroffene entgegengesetzt des Schemas zu verhalten oder die Flucht nach vorne anzutreten und beim Sich-Fügen fügt er sich in sein Schicksal, übernimmt die Rolle des „Kindes“.
2.3. Ressourcenaktivierung
Eine ähnliche Haltung vertreten Komplextherapeuten wie Schematherapeuten, wenn es um die Ressourcenaktivierung und hier vor allem um die Rolle der Imagination geht. Beide messen der Rolle der Imagination eine grosse Bedeutung bei, da auf der Ebene des impliziten Gedächtnisses alte Gefühle (Kottje-Birnbacher et al., 2010) sowie Schemata und Komplexe besser aktiviert werden können. Mit Imaginationen können auch unerfüllte Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen imaginiert und das „glückliche Kind“ oder der „gesunde Erwachsene“ gestärkt werden. Fragen wie „Was brauchst du jetzt?“ oder „Was braucht der kleine Hans jetzt?“ sind sinnvoll, um die Nachreifung und die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse zu verbessern. Imaginationen sind in beiden Schulen zentral für die Therapie.
Methodisch unterscheiden sich die beiden Richtungen hingegen fundamental. Schematherapeuten setzen Imaginationen manualisiert ein, der Therapieverlauf ist vorstrukturiert, viele Fragebogen wurden entwickelt und werden systematisch eingesetzt. Schematherapeuten haben dazu Inventare zu verschiedene Schemata und Modi je nach Störungsbild entwickelt. So werden z.B. in einem Schema-Modus-Inventar (SMI-Version 1.1) die 14 trennschärfsten Modi (Kind-und Elternmodus) beschrieben.
Analytische PsychologInnen gehen gerade entgegengesetzt vor. Bei der Aktiven Imagination lässt der Klient in der Sitzung innere Bilder aufsteigen, die er während oder nach der Imagination dem Therapeuten erzählt, manchmal gibt der Therapeut ein Motiv vor und folgt den Imaginationen mit Fragen (Kast, 1988). In manchen Imaginationen lassen sich archetypische Bilder aus Mythen und Märchen finden, die in der Therapie vertieft werden können, da solche Bilder aus dem Fundus der kulturellen Vorstellungen der Menschheit die eigenen Kräfte verstärken und die eigene Wahrnehmung entlastend in einen grösseren menschlichen Rahmen stellen können. Patientenfälle sind ausserdem meist komplex, man muss die „Sprache des Patienten“ kennen (Bovensiepen, 2011), damit die therapeutische Arbeit fruchtbar werden kann.
3. Diskussion
Schulenübergreifende Diskussionen bezüglich verschiedener Konzepte können fruchtbar sein und finden bezüglich eines Vergleiches von Konzepten in der Psychoanalyse und der Analytischen Psychologie seit längerem statt (z.B. Withers, 2003; Fordham, 1995). Ein Vergleich von Konzepten der Analytischen Psychologie und der Schematherapie ist hingegen kaum vorhanden, eine entsprechende Literatur war nicht aufzufinden, sodass nicht auf einen entsprechenden Diskurs hingewiesen werden kann. Die Thematik bedarf weiterer Untersuchungen.
Inhaltlich gesehen wäre es bei beiden Richtungen sinnvoll, die theoretischen Vorstellungen hinsichtlich der Aktivierung von Komplexen bzw. Schemata bei der Ressourcenorientierung zu vertiefen. Jungianer verwenden den Topos des „göttlichen Kindes“, Schematherapeuten denjenigen des „glücklichen Kindes“, ohne dass klar wird, wie dieser Komplex oder dieses Schema als generalisierte Beziehungserfahrung entstand, da der theoretische Fokus auf die maladaptiven Erfahrungen gelegt wird.
Bei den Analytischen PsychologInnen fehlt eine Systematisierung der Komplexe, wie sie etwa bei der Schematherapie vorhanden ist. M. E. wäre eine solche Systematisierung fruchtbar, ebenso eine Untersuchung der Bewältigungsmechanismen. Hinsichtlich der Erkenntnisse der Analytischen Psychologie, was das intersubjektive Feld der Komplexe von Projektion, Konstellation, Übertragung und Gegenübertragung betrifft, ist bei den Schematherapeuten eine vorsichtige Öffnung zu beobachten (Jacob, 2011).
Autorin
Isabelle Meier, Historikerin und Psychologin, lices phil., Psychologin Dr. phil. ,Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Dipl. Analytische Psychologin nach C.G. Jung, Katathym-imaginative Psychotherapeutin SAGKB Psychotherapeutin in Zürich in eigener Praxis, Lehranalytikerin, Supervisorin und Dozentin am ISAP Zurich, Internationales Seminar für Analytische Psychologie. Spezialgebiete: Imaginationen, Komplexe und Archetypen. Sie hat mehrere Bücher in Deutsch und Englisch verfasst oder herausgegeben, darunter Mitherausgeberin des Buches "Seele und Forschung", Karger Verlag 2006. Sie ist Redaktorin der Zeitschrift Analytische Psychologie.
Korrespondenz
Dr. phil. Isabelle Meier
Analytische Psychologin nach C.G. Jung
Fachpsychologin für Psychotherapie FSP
Internationales Seminar für Analytische Psychologie, ISAPZURICH
Stampfenbachstr. 123
8006 Zürich
E-Mail: imeier@bluewin.ch
Literatur
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