Gießen: Psychosozial Verlag. 434 Seiten. € 44,90
Psychotherapie-Wissenschaft 8 (1) 103–104 2018
www.psychotherapie-wissenschaft.info
DOI: 10.30820/8242.21
Dieser Rückblick auf das reiche berufliche Leben eines Menschen, der als Kind den Zweiten Weltkrieg hautnah erlebte und als Achtjähriger in den Trümmern des Dritten Reiches aufatmen konnte, dass diese megalomane Zerstörungswut der Machthaber und ihrer Nachläufer*innen, nach zwölf Jahren sein Ende in Trümmern gefunden hatte, leistet auch seinen Beitrag gegen das kollektive Vergessen. Der junge Paul suchte neue und verlässliche sinngebende Strukturen, die er in Schule, Gymnasium und seiner ersten Psychoanalyse finden konnte. Neben seiner eigenen seelischen und somatopsychischen Entwicklung aus Schutt und Asche heraus, zum jungen Arzt und später psychosomatisch orientierten Psychoanalytiker (im Rheinland-Institut ausgebildet), beschreibt der Autor ausgiebigst, die Entwicklung der Psychosomatischen Medizin im Deutschland der vergangenen 50 Jahren. Um diese grosse, bunte und vielfältige Spanne zusammenzuhalten, braucht Janssen nur zehn Kapitel. Janssen ist vieles geworden und, nun im Lebensrückblick, gewesen. Er ist emeritierter Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Bochum und war Direktor des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Da praktizierte er zusätzlich als Lehranalytiker, wenn er nicht als Leitender Arzt an der LWL-Klinik Dortmund (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), beschäftigt war. Seine eigenen, in der Literatur dieses Buches ausgewiesenen Publikationen, nehmen fast sechs Seiten in Anspruch. Er sieht dieses Buch, das vom Verleger des Psychosozial-Verlags, Hans-Jürgen Wirth, mitangeregt wurde, als Kaleidoskop «subjektiven und reflektierten psychoanalytischen Denkens und Handelns in der psychosozialen Medizin» an (S. 11).
Spannend zu lesen und mitzufühlen sind seine autobiografischen Schilderungen über seine Beweggründe, als Kriegskind in die Psychoanalyse zu gehen. Hier hätte noch etwas mehr innere Berichterstattung zu seinen Lehrjahren auf der Couch, die vorbehaltlose Kontextualisierung seines gewachsenen Wissens um die Wichtigkeit des Unbewussten, das manchmal harzig zu lesende «Namedropping» seiner vielen Lehrer*innen und Kolleg*innen bereichert. Jedoch: Wir kommen in den Genuss seiner Erfahrungen und Entwicklungen in der stationären Psychotherapie, wo die damals fast revolutionäre Gruppentherapie ein frischer Weg der eigenen und der anderen Befreiung von bürgerlichen Gewohnheiten – noch im Echo der ehemaligen Nazi-Moral – ermöglichte.
Zwangsläufig war Janssen, schon früh als berufspolitisch Interessierter, mit der Weiterentwicklung, Neuordnung und Akkreditierung der ärztlichen und psychologischen Psychotherapie in seinem Heimaltland beschäftigt. Es dauerte nicht allzu lange, bis er in der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie einen Funktionärsposten übernehmen konnte. Hier stellte er sein vitales Organisationstalent in den Dienst dieser Organisation, die sich zu Themen der Weiterbildung, Krankenhausplanung und zu grundsätzlichen Fragen der ärztlichen Ausbildung vernehmen liess. Er versuchte damit die je eigenen Visionen umzusetzen. Im Kapitel zu Psychiatrie und Psychoanalyse in Dortmund und seiner Arbeit als psychosomatischer Mediziner weicht er der Wiederkehr des Verdrängten nicht aus. Er reflektiert genau und behutsam die Zeit des Nationalsozialismus in der Psychiatrie und im Krankenhaus, das er nun zu leiten hatte. Wie er es während der Dauer eines reich beladenen Berufslebens vollbrachte, die psychosomatische Medizin mit der Psychoanalyse wieder zusammenzubringen (praktische und denkerische Vorgänger sind unter anderem Groddeck und Ferenczi) ist, für einen Aussenseiter wie mich, sehr spannend zu lesen.
Plötzlich kommen wir Leser*innen in einen Bereich der psychoanalytischen Diagnostik und erkennen spätestens jetzt, wie dieser Autor an der Entstehung des OPDs aktiv beteiligt war. Wie viele seiner Generation «musste» er ein eigenes Behandlungs- und Arbeitsmodell entwickeln. Professoren waren damals kleine Könige in ihrem Klinikreich. Wie er es angewendet hat, beschreibt er sehr einleuchtend anhand von faszinierenden Fallbeispielen. Da er in einem Spital nur mithilfe der Gruppentherapie allen Patient*innen therapeutisch etwas anzubieten hatte, schildert er, im neunten Kapitel, ausgiebig über seine Theorie und angewandte Praxis der psychoanalytischen Haltung. Ganz der Berufspolitiker, der er sein aktives Berufsleben lang war, bedachte er die Neuordnung des Verbandswesens in diesem Berufsfeld der Gruppenanalyse.
Zum Schluss des dicht geschriebenen und auf viele seiner früheren Texte zurückgreifenden Buches, zeigt er sich nochmals von seiner subjektiven Seite, indem er über seine Erfahrungen als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker schreibt.
Dieses Buch kann leider nicht an einem Wochenende gelesen werden. Es dient eher als ein Kompendium eines exemplarischen Berufslebens und beschreibt die historische Entwicklung unseres breiter gewordenen Tätigkeitsfeldes in der Seelenheilkunst, mit spezieller Berücksichtigung der Tatsache, dass Leben immer eine somatische Erfahrung ist. Es ist nicht zwingend ein «must have»-Buch. Jedoch, wer es in seiner Bibliothek hat, die oder der kann sich glücklich schätzen.
Theodor Itten