Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. 288 Seiten. € 19.99
Psychotherapie-Wissenschaft 8 (1) 102–103 2018
www.psychotherapie-wissenschaft.info
DOI: 10.30820/8242.20
Mit seinem Buch über die «Krankheitserfinder» hat sich der Biologe und seit 1999 SPIEGEL-Redakteur Jörg Blech als kritischer Autor im Bereich des Gesundheits-und Krankheitswesens einen wachsenden Namen gemacht. Wer neue psychische Krankheiten erfinden kann, der ermöglicht vor allem der Pharmaindustrie und Medizinerinnen und Mediziner, aber auch PsychotherapeutInnen einen riesigen Markt. Das Gesundheitswesen ist, neben der Informatik- und Unterhaltungsindustrie, ein Volkswirtschaftsbereich der jahrein, jahraus grosse Wachstumszahlen und Gewinne aufweisst. Die politische Ökonomie des Gesundheitswesens ist so komplex wie lukrativ zugleich. Unsere HelferInnenindustrie beschäftigt mittlerweile mehr Menschen als die Automobilindustrie.
Blechs neue These ist, dass soziale und wirtschaftliche Problematiken in Krankheitsmuster übersetzt werden, welche danach aus dem Bereich der Politik und Arbeitsgeber Verantwortung in den Krankheitsbereich ausgelagert werden. Die Verantwortung für einen nicht gesundheitsschädigenden Arbeitsmarkt wird von den MachthaberInnen auf das Individuum verlagert, welches, mit einer gewagten Diagnose, zu einer Patientin oder Patienten wird. ForscherInnen haben festgestellt, dass Kinder, deren elterlicher Bildungsstand niedriger als der Durchschnitt ist, mehr ADHS-Pillen schlucken. Soziale Klasse, kulturelles Bewusstsein und Lebensstandard beeinflussen die Gesundheit. Dies ist jedoch keine Schutzbezeichnung mehr. Krankheit wird zum neuen Beruf und wirkt umsatzfördernd. Was bis vor zehn Jahren «normal» war, kann es heute schon nicht mehr sein. Normal ist auch eine Diagnose: «Ein Drittel der Bürger, die Arbeitslosengeld beziehen (Hartz IV), hat aktuell eine Diagnose für eine psychische Erkrankung» (S. 262).
Sein Buch kommt in 15 flotten und zügig zu lesenden Kapiteln daher. Erst geht es darum, wie die Normalen zu Wahnsinnigen gemacht werden. Danach warnt er uns mit: «Vorsicht, Diagnose». Wie unsere Berufsgattung die Verbreitung von seelischem Leiden numerisch aufbauschen kann, beschreibt er im Kapitel: «Irren mit Zahlen». Wie die Seelsorge für die Industrie funktioniert reflektiert er kurz und bündig, bevor er sich vertieft mit der Natur unserer Seele beschäftigt. Was diese Psychofallen für Kinder und Jugendliche in sich haben, lesen wir im sechsten Kapitel zum letzten normalen Kind, was nicht nur ironisch gemeint ist. Die neuesten Modediagnosen lösen die alten wie ADHS, LRs nicht ab, sondern ergänzen diese. Wie normal es ist, jedenfalls ehemals für uns Ältere, in der Pubertät nicht immer der Norm der Familie und Gesellschaft zu genügen, wird heute von angestellten Psychiater*innen im Dienste der Big-Pharma abgestritten, und neu als bipolare Störung propagiert. Kasse machen nicht die Kranken, sondern die gewinnorientierten Tablettenverkäufer. Wenn ganz normale Angst zu einer Krankheit wird, sind wir an einer Weggabelung angelangt, in der es nicht mehr weit zum Wasser ist. «Burn-out» die moderne amerikanisierende Diagnose für die Erschöpfungsdepression (oder früher: des Vegetativen Nervenzusammenbruchs) wird heute zu einer legitimen Ausbeutungsstrategie der Arbeitgeber. Auspressen der Arbeitskraft bis zum «geht nicht mehr». Das ergibt heftige Verhaltensepidemien. Danach sollen diese Menschen während ihrer Depression Tabletten schlucken, die ihnen gar nicht dienlich sind. Weil diese, so die seit zehn Jahren aktuelle Forschung, nur bei ganz schweren Depressionen etwas bewirken. Bei leichten bis mittleren Depressionen wirken sie oft schlechter als Placebo, da diese keine unerwünschten Wirkungen zeigen. Wir werden alle älter und nun wird viel Verhalten und Erleben im Alter schon unter die Krankheitserfinder-Lupe genommen.
Sich nicht irre machen lassen von dieser rasanten Entwicklung, viele unserer Lebensschwierigkeiten und üblichen Laster, in Krankheiten und Probleme zu verwandeln, welche die Psychologie und Medizin zukünftig behandeln und lösen soll. Die Quelle der Schwierigkeiten sind aber nicht medizinischer Art, sondern kommen aus der superkapitalistischen Produktionsform und der Entfremdungstendenz unserer Regierungsstruktur. Arbeitslosigkeit macht nach mindestens einem Jahr die trübsinnige Stimmung aus, welche sich in uns als Schwermut und Gekränktheit breitmacht und uns das Gefühl gibt,, nicht mehr gebraucht zu werden. Das raubt einem die psychosoziale Identität. Das ist ein gesellschaftspolitischer Missstand, welcher, so der Autor, nicht mit medizinischen Mitteln geheilt werden kann: «Wer das scheinbar Gestörte und Störende wegmachen will, der unterdrückt Kreativität, vernichtet Vielfalt und erzeugt eine seelische Monokultur» (S. 14). Fazit ist: Wir stören und werden gestört, wir leiden an anderen, so wie andere an uns leiden. So ist das Leben. Aufpassen! Die Psychofallen sind überall aufgestellt, ebenso wie die oft unsichtbaren Sender für unsere Handys. Krisenzeiten ermöglichen frische Widerstandskräfte, welche unseren Seelen innewohnen.
Theodor Itten