P. Lehmann, V. Aderhold, M. Rufer & J. Zehentbauer (2017): Neue Antidepressiva, Atypische Neuroleptika

Berlin: P. Lehmann Publishing. 241 Seiten. 19.95

Psychotherapie-Wissenschaft 8 (1) 101–102 2018

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CC BY-NC-ND

DOI: 10.30820/8242.19

Den Auftakt dieses handlich hergestellten Buches macht der Berliner Verleger und Autor Peter Lehman, dessen Wissen und Erfahrungen bezüglich der medizinischen Behandlung von Menschen mit seelischen Schwierigkeiten und Störungen Gold wert sind. Er schreibt über die Risiken und Schäden neuer Antidepressiva und atypischer Neuroleptika. Sein 125-seitiges, in fünf Teilen daherkommendes Kapitel ist wie ein Buch im Buch. Erst erläutert Lehmann uns ausgiebig die neuen Antidepressiva. Der Blick ist jeweils gerichtet auf die pharmakologische Komponente, die erforschte Relevanz und die – neben der erwünschten sowie zu erwartenden Zielwirkung der diversen Substanzen – immer auch körperliche und seelische Schäden hervorrufenden unerwünschten Wirkungen solcher chemischen Substanzen. Im Appenzeller Land, wo die Natur- und Pflanzenheilkunde weit verbreitet ist, sagen die Menschen üblicherweise, Gift werde erst genommen, wenn alles andere nicht gewirkt hat. Ob das auch für die sogenannten atypischen Neuroleptika gelten mag? Auch hier geht der Autor gleich vor. Substanzen werden genau aufgelistet und beschrieben. Danach werden die Risiken und die Erprobungsstudien kritisch bedacht und kommentiert. Daraufhin folgt das Kapitel über einige Frühwarnzeichen chronischer und lebensgefährlicher Schäden durch Psychopharmaka.

All das bis hierher zu lesen bewirkt ein mehrmaliges leeres Schlucken. Wie wichtig es ist, sich hier als PsychotherapeutIn auszukennen, wird wieder einmal klar aufgezeigt. Mit diesem Erfahrungswissen werden wir Schadwirkungen von Medikamenten, die unsere PatientInnen nehmen, nicht als strörungsspezifische Symptome analysieren. Warum und wozu der Elektroschock nach seiner wissenschaftlichen Diskreditierung wieder eingeführt wird, antwortet Lehmann plausibel und erklärt uns – erneut – über die lebensgefährlichen Risiken und bleibenden Schäden auf. Doch was für Alternativen haben wir heute, wo einerseits Unsummen mit Psychopharmaka verdient werden, die Löhne der PflegerInnen und Klinikangestellten seit Jahren sinken und die Verweildauer von Notsuchenden weiter heruntergekürzt werden? Es gibt sie, die humanistisch orientierten Alternativen zu Antidepressiva, Neuroleptika und Elektroschocks. Ein hilfreiches Glossar und ausgiebige Quellenangaben runden diese Tour de Force ab.

Marc Rufer, Arzt, Psychiater und Autor aus Zürich, nimmt sich in seinem Kapitel das immer wieder kontrovers diskutierte Thema des Placebo-Effekts vor. Die Chemie für die Seele ist gleichzeitig eine doppelzüngige Annahme, dass wir Menschen für die heutige superkapitalistische Wirtschaftswelt chemisch eben nicht auf dem neusten Stand sind. Rufer und mit ihm alle drei Ärzte, die in diesem Buch schreiben, sehen es gleich wie Blech, dass sie, als Mediziner, die gesellschaftlichen Missstände, die Seelen in Not produzieren, mit ihren verschriebenen Medikamenten nicht wegmachen können. Viele Medikamente, das haben in der Lancet veröffentlichte Studien zur Depressionsbehandlung gezeigt, wirken nicht besser als Placebo. Ohne an eine vorgegebene oder mit Placebo vorgegaukelte Zielwirkung passiert nach der Einnahme von Zuckerkügelchen nichts. Erschreckend wieder Mal, sich die nackten Zahlen zu Gemüte zu führen, dass 30–50 Prozent der heute zugelassenen Medikamente die Wirkung eines Placebos nicht übersteigen. Wie stark da die eigenen seelischen und leiblichen Selbstheilungskräfte in Aktion sind, betrachtet Rufer genauso wie die Wirksamkeitsprüfung. Schon lange schreibt er über den Lug und Trug dieser, nahe an pseudowissenschaftliche Arbeiten heranreichende Industrie. Er ist da in guter Gesellschaft mit Professor Peter C. Gotzsche, der als Facharzt für Innere Medizin, viel Jahre für die Pharmaindustrie gearbeitet und im Nachgang uns in seinem Buch Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität (2015) die Art und Weise, wie diese Industrie unser aller Gesundheitswesen korrumpiert, sichtbar gemacht hat. Wir als PatientInnen sind nach wie vor im Visier dieser Konzerne, die meist ohne wirkliche politische Regulationen, wirtschaften können. Rufers Fazit ist placebofrei:

«Die klinische Psychiatrie und ihr Umfeld sind indes schlecht geeignet, positive Placebo-Effekte hervorzurufen. Damit, dass sie sogar mit Gewalt vollzogenen Behandlungen als echte und sinnvolle Hilfe bewertet, disqualifiziert sich die Psychiatrie gleich selbst. Der Zeitgeist jedoch verhindert, dass sich diese Erkenntnis zu verbreiten vermag» (S. 183f.).

Der Autor und Arzt Josef Zehentbauer, den meisten bekannt mit seinem Buch Körpereigene Drogen (1992), schildert, wie die ärztliche Begleitung beim Umgang mit Psychopharmaka und die gemeinsame Suche, mit den PatientInnen nach Alternativen aussehen kann. Als medizinischer Therapeut begleitet er PatientInnen, die einen Heilungsweg ausserhalb des üblichen Klinikalltages suchen. Psychopharmaka sind, seiner Ansicht nach, keine Mittel, die zu einer Heilung von seelischen Störungen beitragen, sondern können als Hilfsmittel zur Besänftigung von sozialen Erregungen und unerwünschten Auffälligkeiten verwendet werden:

«Das Gehirn reagiert jedoch auf die neuroleptische Blockade der Rezeptoren, indem es mehr Dopamin-Moleküle produziert. Werden die Neuroleptika innerhalb von wenigen Tagen abgesetzt, so überfluten die zuviel erzeugten Dopamin-Moleküle die freigewordenen Rezeptoren, und es entsteht Chaos im Gehirn» (S. 185).

Ein künstliches Chaos wird provoziert, welches das Leben der eigenen Selbstverantwortung vorübergehend schwierig macht. Darum plädiert Zehentbauer dafür, uns, den PsychiaterInnen, nicht blind zu vertrauen, sondern sich gut genug zu informieren, darüber hinaus sich selber und anderen gegenüber toleranter zu sein und sich wieder auf die Jahrtausende alten pflanzlichen Heilmittel zu verlassen. Einige Gedanken verliert er zur Homöopathie, zu Yoga und Biorhythmus als mögliche alternative Herangehensweisen, um aus einer seelischen Krise herauszukommen. Psychotherapie ist zentral, wenn es darum geht, sich zu reflektieren und neu zu finden, nachdem aus der alten Normalität ausgebrochen (werden) musste.

Volkmar Aderhold, als Autor in diesem Heft vertreten, schreibt hier ein Kapitel zur Minimaldosierung und zum Monitoring bei Neuroleptika. Wenn die Pharmaindustrie und ihre dienenden Forscher immer mehr psychebeeinflussende Chemikalien entwickeln, die uns leistungsfähiger machen, dann werden solche Stoffe nicht nur gegen sogenannte seelische Krankheiten eigesetzt, sondern dienen dem Seelendoping. In den Schulen sollte sofort aufgehört werden, sich über junge Kiffer zu beklagen, solange LehrerInnen die Abgabe von Ritalin (ein Betäubungsmittel) befürworten. Aderhold ist heute einer der wenigen klinikerfahren Ärzte (früher im UKE Hamburg tätig), der sich intensiv mit der Psychopharmakoforschung und deren Publikationen auseinandersetzt. Die Theorien und Modelle der Dopamin-System-Relevanz, dem offenen Dialog über die subjektive Seite der erlebten Störung, die Erfahrung mit niedrig Dosierung und zeitlicher Begrenzung, die körperlichen Schäden durch Langzeit-Medikamenten-Einnahme, die Lebenszeitverkürzung welche daraus resultiert, werden dicht und trotzdem gut verdeutlicht dargestellt. Hier ist kein Ideologe am Werk, sondern ein belesener Metawissenschaftler. Seine zum Teil erschreckenden Aussagen sind allesamt durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse belegt. Aderhold steht eindeutig für eine radikale Eindämmung der Polypharmazie, welche sich seit Jahren in den sogenannten psychiatrischen Kliniken ausbreitet.

Die vier Autoren schreiben gemeinsam im Schlusskapitel über den wichtigen Weg des Absetzens von Psychopharmaka. Wie der Absetzprozess erfolgreich vonstattengehen kann, ist jeweils sehr individuell. Der eigene Lebenskontext, die Lebenseinstellung, die bisherige Dauer von Medikamenteneinnahme, das eigene Gesundheitsbewusstsein und die Unterstützungspersonen sind wichtige Faktoren. Entzugsprobleme nehmen zu, wenn zu schnell und zu radikal abgesetzt wird. Alle vier haben viel Erfahrung in der Begleitung von Personen und finden es schrecklich, dass ärztliche KollegInnen zwar lernen, die Medikamente zu verordnen, aber nicht wie man oder frau diese wieder absetzen kann. Die Tipps und weisen Ratschläge zur Selbstbefähigung sind klar und deutlich. Diese könnten so direkt an PatientInnen weitergereicht werden. Ärzte sind genauso Risikofaktoren, wenn sie die PatientInnen nicht genügend über die Risiken der Medikamente informieren, wie Möchtegern-Therapeuten, denen eine fundierte Ausbildung fehlt. Etwas mehr Nachdenken über die verschiedenen gelebten Strategien in alternativen psychotherapeutischen Behandlungen, welche seit den 1960er Jahren versuchen, ohne Medikamente Menschen mit psychischen Störungen erfolgreich zu begleiten, hätte dieses, ansonsten dem Schutz der Gesundheit verpflichtenden Buches, bereichert. Trotzdem: Es ist zu diesem hochbrisanten Thema momentan das Beste auf dem Markt.

Dr. jur. Marina Langfeldt, hat das letzte Wort. Sie gibt ihr medizinjuristisches Wissen freigiebig preis und informiert uns über das Recht, welches wir als mögliche PatientInnen haben, wenn wir durch psychiatrische Behandlungen – pharmakologischer, elektrischer oder gewalttätiger (Anbindung und Handschellenlegung) Art und Weise – Schaden davontragen. Sie meint zusätzlich, dass die Wirksamkeitsprüfung von neu zugelassenen Medikamenten wissenschaftlich unabhängig von der Pharmaindustrie geleistet werden muss. Es ist von grosser Notwendigkeit, unseren politisch verantwortlichen Personen die neusten Entwicklungen aufzuzeigen, damit diese ihre Rechtsprechungen zum Schutz der PatientInnen vor Körperverletzungen und iatrogenen Erkrankungen, im «Lichte eines von diesem Buch unterstützten Bewusstseinswandels» verfassen können.

Theodor Itten