Diagnose als Metapher

Manfred Bleuler im Gespräch mit R. D. Laing

Theodor Itten (Übersetzung Dörte Fuchs)1

Psychotherapie-Wissenschaft 8 (1) 87–90 2018

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

DOI: 10.30820/8242.16

Wir, Ronald David Laing (1927–1989) und ich, Theodor Itten (1952), treffen um 3 Uhr nachmittags ein. Wir hatten zuvor telefonisch ein einstündiges Gespräch mit Manfred Bleuler (1903–1994) vereinbart. Laing läutet an einer Tür, hinter der die Büro- und Praxisräume zu liegen scheinen. Nach kurzem Warten öffnet uns Professor Bleuler. Wir werden in die Eingangshalle geführt, an deren Wänden Bilder von nordafrikanischen Agrarlandschaften hängen. Über eine kurze Treppe gelangen wir zu der Etage, auf der sich seine Arbeitszimmer befinden. Wir werden gebeten, im Besucherzimmer Platz zu nehmen. Professor Bleuler verlässt den Raum, um seiner Frau mitzuteilen, dass wir uns beide für Kaffee entschieden haben und er gerne Tee möchte. Der Raum ist nüchtern eingerichtet und voller Bücher. Uns fällt auf, dass Professor Bleuler beim Gehen ein Bein nachzieht und den Kopf nach rechts geneigt hält. Der Klang seines offenen Lachens liegt, für mich, irgendwo zwischen seriösem Fachmann und begeistertem Jugendlichen. Er kommt zurück, setzt sich Ronald David Laing gegenüber und schlägt sein linkes Bein über das rechte.1

Manfred Bleuler (MB):Es freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten zu kommen.

Ronald D. Laing (RL):Ich freue mich auch. Wir sind uns ja nie auf Tagungen begegnet, und jetzt bin ich für ein paar Tage in Zürich und freue mich, dass wir so kurzfristig ein Treffen vereinbaren konnten.

MB:Ja, was mich betrifft, versuche ich psychiatrische Tagungen und Konferenzen seit einigen Jahren zu meiden. Diese Art von Veranstaltungen liegt mir nicht. Aber ich interessiere mich sehr für Ihre Arbeit, denn ich habe ja auch Familienforschung betrieben und den sozialen Aspekt der Schizophrenie erforscht. Erzählen Sie mir doch von Ihrer Arbeit!

RL:Nun (lehnt sich zurück und legt den linken Arm auf die Rückenlehne des Sessels), meine Arbeit teilt sich in zwei Bereiche. Ich habe meine eigene Praxis, und darüber hinaus engagiere ich mich in der Philadelphia Association (PA). Die PA betreibt mehrere Häuser. Momentan gibt es drei Wohngemeinschaften (in London) und einen Bauernhof in der Nähe von Oxford. Dort lassen wir Menschen durch das hindurchgehen, durch was sie glauben, hindurchgehen zu müssen. Ausserdem gibt es ein Ausbildungsprogramm, ein Studienprogramm und Netzwerktreffen. In meiner Praxis behandle ich Menschen aus der ganzen Welt aus allen möglichen Gründen. Ich habe schon vor einiger Zeit damit aufgehört, reguläre Therapie zu praktizieren. Wir verordnen keine Medikamente. Wie ist das bei Ihnen?

MB:Oh, ich behandele immer noch Patienten, und immer zu viele (lacht), aber ich habe mich [1969] aus der Leitung des Burghölzli [Psychiatrische Universitätsklinik Zürich] zurückgezogen. Ich gebe manchmal Medikamente, vor allem dann, wenn jemand sehr erregt ist. Auf welche Weise finden die Menschen zu Ihnen; wie werden sie überwiesen? Und wie verteilen Sie sie auf Ihre Hausgemeinschaften?

RL:Manchmal sind es mehr Menschen, als wir Plätze haben. Manchmal haben wir vier, zu anderen Zeiten auch acht Häuser. Seit unseren Anfängen vor 17 Jahren haben über 600 Menschen bei uns gelebt. Wir bekommen jeden Tag Anrufe und werden nach freien Plätzen gefragt. In eine Hausgemeinschaft aufgenommen wird jemand nur dann, wenn alle, die bereits dort leben, einverstanden sind. Das kann so aussehen wie in folgendem aktuellen Beispiel: Der jüngste Bewohner dieser Hausgemeinschaft ist drei Jahre alt und schwer gestört, ein psychotisches Kind. Wer dort einziehen möchte, muss von diesem Dreijährigen akzeptiert werden. Vor manchen Menschen hat er Angst, vor anderen nicht. Rollt jemand mit ihm auf dem Boden herum, ist alles okay, und die Person kann einziehen. Hat er vor jemandem Angst, dann kann sie oder er nicht einziehen. Es gibt Menschen, deren Störung so schwer ist, dass sie in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Aber das ist bis jetzt nur ein- oder zweimal vorgekommen.

TI:Und es ist noch nie jemand aus einer PA-Gemeinschaft in eine psychiatrische Klinik gewechselt, der nicht schon zuvor in einer solchen Institution gewesen ist. Diejenigen, die uns verlassen und in eine Klinik gehen, haben [immer] schon eine Vorgeschichte der Hospitalisierung.

RL:Wenn jemand in starke Aufregung gerät, versuchen wir eine Umgebung zu schaffen, in der sie oder er gefahrlos durch diesen Zustand hindurchgehen kann.

MB:Ich lebte 61 Jahren im Burghölzli; erst als Kind, später als Klinikleiter.

RL:Wie kam es dazu, dass Ihr Vater, Eugen Bleuler, all diese Studien über Schizophrenie erstellte, die Sie dann fortgeführt und erweitert haben? Welche Rolle hat Ihr Grossvater dabei gespielt?

MB:Mein Grossvater war Bauer und hat das Land bewirtschaftet, auf dem dieses Haus steht. Dieses Grundstück [befindet sich] seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz. Die Menschen hier in der Gemeinde Zollikon wurden von Züricher Aristokraten regiert, die auch die Universität kontrollierten. Niemand aus der lokalen Bevölkerung hatte an dieser Universität studiert, seit sie gegründet worden war. Die Professoren kamen alle aus dem Ausland, und die Ärzte, die für den Bereich verantwortlich waren, aus dem später das Burghölzli wurde, waren alle Deutsche und verstanden den hiesigen Dialekt nicht. Wenn also jemand aus der Landbevölkerung in die Klinik überwiesen wurde, konnte er sich nicht verständlich machen. Mein Grossvater hat sich zusammen mit anderen zu einer Art Kollektiv zusammengeschlossen, um wichtige Bücher zu lesen, sich mit wichtigen Themen zu beschäftigen und sich darüber auszutauschen. Damals wurde in dieser Region immer noch Seide verarbeitet, und jeder Haushalt war auf irgendeine Weise daran beteiligt. Die Seidenherstellung war ein arbeitsteiliger Prozess.

RL:Oh, ich wusste nicht, dass sie damals Seide produziert haben. Also haben sie gewebt und all das …

MB:Ja, und auf diese Weise kamen die Menschen zusammen und diskutierten miteinander. (Er steht auf und nimmt fünf Bände aus dem Regal hinter RL.) Dies sind alte Bücher und der Grundstock der Bibliothek meines Grossvaters. (Er gibt sie RL, der sie betrachtet. Es handelt sich um eine Art populärwissenschaftliche Anthropologie über das Leben und Überleben in fremden Ländern, illustriert nach dem Geschmack des frühen 19. Jahrhunderts.)

(Tee, Kaffee und Gebäck werden serviert. Frau Bleuler wird uns vorgestellt, und wir stehen auf.)

MB:Interessieren Sie sich dafür? Möchten Sie mehr darüber wissen?

RL:Ja, das ist interessant. Bitte fahren Sie fort.

MB:(lächelt erfreut, und seine Sprechweise wird lebhafter, ja sogar ein bisschen sprudelnd) Die Begründer der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich waren grösstenteils Deutsche und Franzosen und hatten deshalb grosse Schwierigkeiten, die Bevölkerung zu verstehen. Verrücktheit interessierte sie [nur] als eine Erkrankung des Gehirns oder des Nervensystems. Als mein Vater Eugen dann als Erster aus der hiesigen Bevölkerung Psychiatrie an der Universität studierte, hielt er es deshalb für das Beste, am Burghölzli zu arbeiten. Die Hoffnung war [damals] gross, dass es am Burghölzli endlich einen Arzt geben würde, der die Sprache der Leute verstand. Eugen studierte bei Hitzig und Forel und verliess dann das Burghölzli, um an die psychiatrische Klinik Rheinau zu wechseln, wohin er sechs seiner schizophrenen Patienten mitnahm. Beim Abendessen sassen sie mit ihm am Tisch, und er wurde eine Art Vater für sie. So nannte man ihn später auch im Burghölzli. Die Bevölkerung akzeptierte dieses Arrangement. Als er dann als Direktor ans Burghölzli zurückging [1898], wo ich geboren und aufgewachsen bin, sassen immer Schizophrene mit uns am Tisch.

RL:Hatte Ihr Vater Einwände gegen die Theorie, Schizophrenie sei eine Gehirnerkrankung, und gegen die Art, wie die Klinik Burghölzli organisiert war? Wie sehen Sie seine Theorie der Schizophrenie? Wenn man sich vor Augen hält, dass die Dorfbewohner von Rheinau diese Patienten als Menschen akzeptierten, die so waren wie sie selbst – wenn auch vielleicht ein bisschen «verrückt» –, aber ihre Art zu sein im Kontext von Eugen Bleulers Theorie trotzdem als schizophren klassifiziert wird, also in der Erwartung, dass es sich um eine Krankheit handelt, oder nicht? Schizophrenie ist ein Begriff für Menschen, die psychotisch sind. Was ist Psychose dann?

MB:Psychose bezeichnet einen Zustand hochgradiger Erregung einer Person, sodass ich, wenn diese Person mir in einer Konsultation gegenübersitzt, kein Wort von dem verstehe, was sie sagt.

RL:Kommen Sie, das ist ein bisschen simpel und vernichtend dem anderen gegenüber – was für eine Position (wir lachen), wenn man bedenkt, was Menschen unter dem Namen oder im Namen der Psychose angetan worden ist. Es ist also eine fiktive Krankheit, und wenn Sie jemand anderen in Ihrem eigenen Setting nicht verstehen, nennen Sie ihn oder sie einfach psychotisch.

MB:Sie haben recht! (Er lacht und lächelt sein jugendliches Lächeln.) Es geht eher um ein Konzept und einen sozialen Begriff. Sie werden mir zustimmen, dass jede Gesellschaft soziale Normen hat und dass es Menschen gibt, die nicht nach dieser Norm leben. Und um diese Menschen davor zu schützen, dass ihre Angehörigen ihnen Schaden zufügen, nennen wir sie «krank». Schizophrenie ist für die forensische Psychiatrie von Bedeutung. «Schizophrenie» ist ein Name für die Symptome, die mein Vater beobachtet hat und die zuvor «Dementia praecox» genannt wurden. Die Prozesse hinter den Symptomen sind Primärprozesse, und hier [entsteht] die Psychose. Aber eigentlich geht es um einen sozialen Schutz.

RL:Leute wie Thomas Szasz sprechen von einer Metapher; Schizophrenie ist eine Metapher.

MB:In gewisser Weise, ja, es ist eine Metapher.

RL:Nun, im Alten Testament können wir einige Geschichten über Menschen lesen, die Stimmen hörten und ihnen Folge leisteten: Propheten und andere. Halluzinierten diese Menschen? Aber wenn jemand nicht an das Alte Testament und seinen Wert glaubt, dann glaubt er sicher auch nicht an die forensische Psychiatrie.

MB:Richtig! Es würde mich sehr interessieren, etwas über Ihre Kritik an meiner Arbeit zu erfahren.

RL:Ich würde es nicht Kritik nennen, ich würde eher sagen, ich hatte … dass ich Ihnen meine Bedenken im Hinblick auf Ihre Arbeit erläutern kann, meine Einwände und die Unterschiede zwischen uns. (Er rollt mit den Augen, atmet ein paarmal rasch ein und aus, hält dann inne und …) Wenn Sie in Ihrem Werk, das nicht sehr gut übersetzt wurde, schreiben, dass wir, was die Schizophrenie betrifft, nicht sicher seien; [dass] es sich um keine biologische oder Gehirnerkrankung handelt, [weil] die sozialen Einflüsse grösser sind; wenn die «Ursache» der Schizophrenie so unsicher ist und wenn Sie mir zustimmen, dass es sich nur um eine Metapher handelt, dann können Sie nicht einfach sagen «Weil ich den anderen nicht verstehe, ist er oder sie schizophren». Und das hat Konsequenzen für Ihre Aussagen und die Ihres Vaters, für dieses umfangreiche Werk. Darin treten diese Zweifel an dem ganzen Problem der Schizophrenie nicht so deutlich zutage wie jetzt in unserem Gespräch.

Wenn Sie sagen, dass jemand nicht Schritt hält bei diesem Im-Gleichschritt-Gehen (er verdeutlicht dies mit einer Geste) und deshalb zum Schutz vor seiner Familie und seinen Nächsten und Liebsten «schizophren» genannt werden sollte, und dann tun Sie ihm das an, was, wie wir wissen, allen Schizophrenen überall auf der Welt angetan wird; vielleicht nicht am Burghölzli, während Sie dort waren; [aber] in der Brutalität, die wir kennen … Wenn Sie sagen, es ist eine Metapher, dann ist all das eine riesengrosse Dummheit. Bei mir in der Praxis kann jemand, der sehr erregt ist, mir Musik vorspielen oder tanzen oder irgendetwas anderes tun, und ich denke niemals, dass jemand nur, weil ich ihn oder sie bei unserer ersten Begegnung nicht verstehe, krank oder verrückt ist; besonders, wenn ich nicht begreife, was der- oder diejenige meint.

Wenn Sie und Ihr Vater also über jene [Menschen], die nicht im Gleichschritt gehen, geschrieben und mit ihnen zusammengelebt haben, aber die Mehrheit in einer Gesellschaft – vom Standpunkt derer aus gesehen, die im Gleichschritt gehen –, wie Sie sagen, «normal» ist, dann werden diese Werke über das Aus-dem-Gleichschritt-Geraten von denen, die im Gleichschritt gehen – und dazu gehören die meisten Psychiater –, als Aussage und als Argument dafür verstanden, diejenigen, die nicht im Gleichschritt gehen, als krank zu behandeln. Dann haben Sie den nicht im Gleichschritt gehenden Menschen einen schlechten Dienst erwiesen. Dann sind Ihre Schriften missbraucht worden und decken den Missbrauch [dieser Menschen] durch die Psychiatrie nicht auf. Doch wenn Sie glauben, dass Schizophrenie eine Metapher ist, dann haben Sie den Menschen in Ihrer Obhut vielleicht nicht das angetan, was andernorts mit ihnen passiert.

MB:Aber Sie stimmen mir zu, dass es eine unleugbare soziale Tatsache ist, dass manche Menschen normal sind und andere nicht; deshalb haben wir im Burghölzli versucht, mehr wie eine Familie zu sein und Menschen vor der Ungerechtigkeit der Gesellschaft zu schützen.

RL:Wurden diese Menschen damals von ihren Mitmenschen als verrückt oder vom bösen Geist besessen betrachtet?

MB:Verrückt, ja, ja.

TI:Damit auch ich das richtig verstehe: Sagen Sie, Professor Bleuler, dass wir, weil Eugen Bleuler und Sie vom Land kamen, wo jemand, der verrückt war, als besessen und böse galt, und weil es ihn oder sie davor zu schützen galt, so einen Menschen krank nennen sollten? Und noch eine Frage: Wie war Ihre Erfahrung als Kind, das der Sprache noch nicht mächtig war, aber mit sogenannten Schizophrenen am Abendbrottisch sass, und wie hat sich diese Erfahrung verändert, als Sie die Macht der Konzeptualisierung kennenlernten, die in dem Begriff «Schizophrenie» zum Ausdruck kommt, und als Sie dann später Direktor der Klinik waren? Worin besteht der Unterschied, falls es einen gibt?

MB:Im Zuge der Aufklärung verschwanden Vorstellungen wie die des «Bösen» oder der «Besessenheit», und die Auffassung, dass diese Menschen krank waren, nervlich und so weiter, setzte sich durch. Was meine Erfahrung mit Schizophrenen betrifft, habe ich mehr von ihnen kennengelernt und sie anders erlebt. Als Eugen an die Klinik Burghölzli kam, geriet er unter den Einfluss der damaligen Auffassung, dass Verrücktheit eine Krankheit sei. Ich persönlich glaube, dass wir weder aus der Familienforschung noch aus der Forschung an Gehirnen von Schizophrenen die Genese dieser Krankheit begründen können. In den Worten der forensischen Psychiatrie: Die Primärprozesse, also die Phänomene hinter den Symptomen, die mein Vater «schizophren» genannt hat, werden nur vermutet, aber nie tatsächlich gesehen oder erfahren. Doch es war ein Fortschritt für die forensische Medizin, als mein Vater den Begriff «Schizophrenie» einführte, der über Kraepelins «Dementia praecox» hinausging.

RL:Aber Sie benutzen noch immer die Sprache der Symptome, auch wenn Sie über Primärprozesse jenseits der tatsächlichen und beobachtbaren Erfahrung zu sprechen versuchen, die nicht das Symptom selbst ist. Die Sprache der Primärprozesse ist sicherlich nicht die Sprache des Symptoms.

MB:Der Begriff ist ein Schutz; sein Wert ist sozialer, nicht medizinischer Art. Aber wir können die medizinische Metapher als einen sozialen Schutz nutzen. Meine derzeitige Auffassung können Sie einem Beitrag entnehmen, der gerade publiziert wird und den ich Ihnen geben kann, wenn Sie möchten.

RL:Ja, bitte.

(Bleuer verlässt den Raum, geht in sein Arbeitszimmer und kehrt mit einigen Papieren zurück.)

MB:Hier sind sie, aber sie sind alle auf Deutsch geschrieben.

RL:Nun, vielleicht können Theodor und ich sie gemeinsam durchsehen? – Ja, in Ordnung, wir können sie zusammen lesen. Wären Sie so freundlich, sie zu signieren?

MB:Ja. (Er geht wieder in sein Arbeitszimmer.)

(Wir stehen auf, weil wir vereinbart hatten, um kurz vor vier zu gehen bzw. abzuwarten, wie Bleuler auf unsere Aufbruchsgesten reagiert.)

RL:Ich habe aus zuverlässigen Quellen erfahren, dass Eugens Schwester, Ihre Tante, Patientin im Burghölzli war – ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Sie zu dieser Familienangelegenheit befrage, denn wir wären froh, wenn wir dieses Gerücht klären könnten.

MB:Es macht mir nichts aus, und es ist kein Gerücht; es stimmt, dass meine Tante eine Zeit lang Patientin im Burghölzli war.

RL:Machte es Ihrem Vater etwas aus? Hatte er Schwierigkeiten damit? War das für ihn eine schwierige Situation?

MB:Nun, meinem Vater machte das nichts aus, er kam gut damit zurecht. Als mein Vater die Idee der Nemesis als eine mögliche Erklärung für die Symptome der Schizophrenie entwickelte, brach er damit den starren biochemischen Determinismus auf, der die [heutige] Psychiatrie dominiert. Er zeigt, wie gross die Geheimnisse sind, die die Schizophrenie umgeben, und auf welche Weise Menschen möglicherweise schizophren werden oder in die Schizophrenie getrieben werden.

RL:Aber da Sie ja zugestimmt haben, dass es sich um eine Metapher handelt: Wie kann man zu einer Metapher werden?

MB:Nur jemand, der bereits psychotisch gewesen ist, kann schizophren werden, entweder schwer oder leicht schizophren. Mein Vater wusste nicht, was Psychose ist, doch die Konstellation aus Gedächtnismerkmalen oder Gedächtnismerkmalen und Merkmalen der damaligen gesellschaftlichen Realität, die in unsere Normen hineinreicht, triggert in irgendeiner Weise diese primären Prozesse, die dann Symptome erzeugen, die wir schizophren nennen. Es ist eine Konstellation aus sozialen, historischen und biologischen [Faktoren]. In diesem Punkt liegen wir theoretisch nahe beieinander.

RL:Nun … Es wird Zeit aufzubrechen. Was für ein Glück, auf dem Land seiner Vorfahren zu leben und solch eine Aussicht auf den Zürichsee zu haben.

MB:Ja, das ist wirklich ein grosses Glück. Leben Sie wohl. Ich würde Sie sehr gern einmal in London besuchen und Ihre Arbeit kennenlernen.

RL:Gerne, Sie sind mir jederzeit willkommen. Ich freue mich, dass ich Ihnen endlich persönlich begegnet bin und feststellen konnte, dass wir dasselbe Anliegen und eine gemeinsame Basis haben.

Anmerkungen:

Eduard Hitzig (1839–1907), ein deutscher Neurologe und Neuropsychiater, war von 1875 bis 1879 Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli).

Auguste-Henri Forel (1848–1931), Professor für Psychiatrie (1879) an der Universitätsklinik Zürich, war von 1879 bis 1898 – nach Hitzig und vor Eugen Bleuler – Direktor des Burghölzli.

Emil Kraepelin (1856–1929) prägte den Begriff der «Dementia praecox» (vorzeitige Demenz oder frühzeitig einsetzender Wahnsinn) aufgrund des (in der Regel) frühen Auftretens von Symptomen (späte Jugend- oder frühe Erwachsenenjahre) und unterschied sie von der zweiten Hauptklasse psychischer Erkrankungen der damaligen Zeit, der manisch-depressiven Psychose, weil es sich eher um eine kognitive Störung als um eine Störung der Stimmung handelte.

Der Herausgeber

Theodor Itten ist Psychotherapeut (ASP/UKCP) in eigener Praxis in St. Gallen. Er studierte in London Sozialwissenschaften, Psychologie, Anthropologie sowie Psychotherapie und war Schüler von R. D. Laing (1975–1981). Heute ist er im Redak­tionsteam der Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft.

Kontakt

www.ittentheodor.ch

Anmerkungen

1Das Interview wurde am Donnerstag, den 16. April 1981, in Zollikon geführt, verbatim aufgezeichnet von Theodor Itten. Der englische Text wurde korrigiert und akzeptiert von Bleuler und Laing. Hier erscheint er zum ersten Mal in deutscher Sprache. Die Erstveröffentlichung ist unter folgenden Angaben zu finden: Itten, Th. (2012). R. D. Laing in Conversation with Manfred Bleuler. In Th. Itten & C. Young (Hrsg.), R. D. Laing – 50 years since The Divided Self (S. 31–38). Monmouth: PCCS Books.