Rezension

Margit Koemeda

Wolfgang Senf, Michael Broda (Hrsg.): Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch

1996, 5. vollständig überarbeitete Auflage, 2012. Stuttgart: Thieme. € 120.-

Kolleginnen und Kollegen, die Abstand nehmen wollen von ihrem klinischen Arbeitsalltag oder den Anstrengungen der Berufspolitik, sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Es ist den Herausgebern gelungen, eine beeindruckende Reihe von namhaften Autoren für ihr Projekt zu gewinnen. Und es handelt sich nicht, wie allenthalben bei Büchern mit multipler Autorenschaft, um ein Sammelsurium unverbundener Selbstdarstellungen, sondern die beteiligten AutorInnen scheinen tatsächlich in einen gemeinsamen Diskurs eingebunden zu sein, der das weite Feld psychotherapeutischer Theorie und Praxis in angenehm kohärenter Weise einerseits und in seiner beeindruckenden Vielfalt und Komplexität andererseits abzubilden versucht.

Hier allerdings setzt auch ein wesentlicher Kritikpunkt an: Wer mit dem Anspruch „alle die Psychotherapie betreffenden Gesichtspunkte“ (S. 2) zu behandeln, antritt, programmiert sein partielles Scheitern selbst vor. Wenn M. Geyer in seinem geschichtlichen Beitrag (Kap. 2) die Anfänge der Psychotherapie in Form von schamanistischen Praktiken auf vor 40000 Jahren(!) zurückdatiert, dann sollte das Buch etwas expliziter und transparenter deklarieren, welche „anderen Therapieverfahren“ (Hinweis auf eine verlagsinterne, leider nicht öffentlich zugängliche Website, Seite VI im Vorwort zur 3. und 4. Auflage 2007: www.thieme.de/specials/senf-broda) es ausgrenzt. Im Text auf dem rückwärtigen Einband ist die Rede davon, dass im Buch „das gesamte Spektrum der psychotherapeutischen Verfahren“ (…) „detailliert und systematisch aufgeführt“ werde.

Und das stimmt leider nicht: Mindestens ein Zweig psychotherapeutischer Theorie- und Modellbildung bleibt gänzlich unerwähnt: Körperpsychotherapie. Und dies, obwohl es einschlägige deutsche (Deutsche Gesellschaft für Körperpsychotherapie, DGK, gegr. 1994), europäische (European Association for Body Psychotherapy, EABP, 50 Ausbildungsinstitute und Verbände, gegr. 1987) sowie amerikanische (The United States Association for Body Psychotherapy, USABP, gegr. 1996) Dachorganisationen gibt, die Literatur zum Thema inzwischen einen beachtlichen Umfang aufweist (Geuter 1998, 2002) und auch das sich hartnäckig haltende Vorurteil, dass es zu diesem Bereich keine empirische Forschung gebe, mittlerweile deutlich widerlegt ist (Übersicht s. Röhricht 2009).

Körperpsychotherapeutische Verfahren machen in der Praxis, im ambulanten (mit 11% die dritthäufigste Hauptmethode in der Schweiz, Schweizer et al. 2002), wie auch im stationären Bereich einen signifikanten Anteil aus. Es darf vermutet werden, dass sich die Herausgeber von der berufspolitischen Situation in der BRD (über deren Interessen geleitete Verzerrungen verschiedentlich geschrieben wurde, z.B. Koemeda-Lutz 1996, Hartmann-Kottek 2011) verleiten ließen, die vom deutschen wissenschaftlichen Beirat anerkannten Verfahren als „Gesamtspektrum“ auszugeben. Das gesamte Teilspektrum der körperpsychotherapeutischen Methoden, aber auch Kunst- und Ausdrucksorientierte Verfahren wurden skotomisiert.

Zum Inhalt des Buches:

In 7 Hauptkapiteln wird

Insgesamt handelt es sich um ein sehr gewichtiges Buch – inhaltlich, aber auch materiell: Es bringt knapp 2.5 kg auf die Waage und umfasst 848 Seiten. Es eignet sich daher weniger als leichte Urlaubslektüre. Die meisten Beiträge sind dicht geschrieben und verlangen ihren LeserInnen volle Konzentration ab; deshalb lege man das Buch mit Vorteil auf einen Schreibtisch, so wie es sich für ein Lehrbuch gehört.

Seine Lektüre wird weder eine umfangreiche Selbsterfahrung für angehende TherapeutInnen ersetzen können, noch das geduldige Sammeln von Erfahrungen in der Anwendung der erlernten Methode unter Supervision. Ein theoretisches Fundament und einen orientierenden Kontext für die Einordnung erworbener Erfahrungen bietet das Buch aber in hohem Maße. Erfahrenen PsychotherapeutInnen kann es als Nachschlagewerk für eine Vielzahl von klinischen Problemstellungen, für Fragen zu den Rahmenbedingungen unserer Arbeit, wie auch als Fundgrube für bibliografische Hinweise zu den verschiedensten für unsere Arbeit relevanten Themen dienen.

Literatur

Geuter, U (1998; 2002) Deutschsprachige Literatur zur Körperpsychotherapie: Eine Bibliografie; Verlag: U. Leutner.
ISBN-10: 3922389864; ISBN-13: 978-3934391062

Hartmann-Kottek L (2011) Wissenschaftliche Neutralität ins Psychotherapeutengesetz! ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik, Heft 2/2011, S. 55-57, Verlag C.H.Beck, München und Frankfurt

Koemeda-Lutz M (1996) Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden. In: Psychotherapie Forum (Suppl.) 4 (2) 89-92

Röhricht, F (2009) Body oriented psychotherapy. The state of the art in empirical research and evidence-based practice: A clinical perspective. In: Body, Movement and Dance in Psychotherapy,4:2,135-156

Schweizer M, Buchmann R, Schlegel M, Schulthess P (2002) Struktur und Leistung der Psychotherapieversorgung in der Schweiz. In: Psychologie Forum 10: 127-146