Editorial

Politik ist unter anderem das, was Sache ist. Alle Diagnosen sind abhängig vom gegenwärtigen Zeitgeist und sozialen und gesundheitspolitischen Wirtschaftsinteressen unterworfen. Wir Psychotherapeut*innen haben eine gesundheitspolitische Verantwortung gegenüber gesellschaftlichen Prozessen. Der emanzipatorische Aspekt unseres Berufes fördert die Autonomie und Selbstbestimmung unserer Patient*innen als Personen im sozialpolitischen Feld. Was die oder der Patient*in denkt, fühlt und erlebt, ist oft wichtiger als das, was wir Fachleute wissen können. Seit dem berühmt gewordenen Psychiatrie-Diagnose-Forschungsprojekt von D. L. Rosenhan et al. «On Being Sane in Insane Places» (1973) und der weiteren Entwicklung von diagnostischen Manualen in der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie ist die Politik der Diagnose, ein andauernd zu reflektierendes Thema. Eine Diagnose ist eine konzeptionelle Verdichtung dessen, was wir in einer Situation wahrnehmen. Mit dem diagnostischen Blick, ob nach ICD-10 oder DSM-5, sehen wir die Welt der Erfahrung von Personen, die unsere Begleitung in Anspruch nehmen wollen und/oder müssen, gewissermassen durch die Beschreibung anderer Fachleute, welche diese Konzepte definiert haben. Der 90-jährige Jules Angst, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich, hält nach einem langen und intensiven Forscherleben in der Seelenheilkunst fest:

«Der Mensch ist so kompliziert und eine Genese einer Störung wie die Depression ist so komplex, da spielen Dutzende von Faktoren eine Rolle und Hunderte von Genen. Und das ist so kompliziert, dass man vorläufig nicht herausfinden kann, wie. Das wird wahrscheinlich noch hundert bis zweihundert Jahre gehen, würde ich schätzen, bis man sieht, was da wirklich passiert. Und das wird am Schluss darauf hinauslaufen, dass es nicht eine Krankheit (im Sinne einer einfachen Kausalität) gibt, sondern nur noch kranke Menschen, jeder ist ein bisschen anders» (Jules Angst; zit. n. Jenzer et al., 2017, S. 161).

Ob dem so wird, das werden wir alle nicht mehr erleben. Wir Heutigen können zwar, als Psychotherapeut*innen, dasjenige beschreiben, was wir sehen, ebenso wie genau wir sehen, was wir sehen, und wie wir die oder den anderen erleben. Als Psycholog*innen benützen wir, wo es hauptsächlich um «Norma» geht, Tests und mittlerweile, definiert durch die neurologische Psychiatrie, bildgebende Verfahren, um scheinbar zu erkennen, wo der Schwellenwert in der Normglocke, ausserhalb des normalen Durchschnitts liegt. Die Ränder, das sei kurz bemerkt, stützen die Normglocke.

Jede Diagnose muss somit auch den Kontext und den Inhalt einer Erfahrung berücksichtigen und diese Befunde im Zusammenspiel von sozialen, emotionalen, biologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren überblicken. Die Politik der Diagnose ist eingebettet in die politische Ökonomie des Gesundheitswesens. Dieser Wirtschaftszweig zeigt eine kontinuierliche Wachstumsrate. Jürg Blech nannte es, seiner These der «Krankheitserfinder» folgend, Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht (2014). In der kritischen Debatte um das neue DSM-5 wurde angemahnt, wie immer mehr normale Alltagsschwierigkeiten zu Problemen gemacht werden, die dann als «psychisch krank» oder «gestört» etikettiert werden können. So werden gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und schulische Schwierigkeiten zu seelischen Störungen des Einzelnen gemacht.

Mit diesem Heft stellen wir uns erneut die hierbei entscheidende Frage: Wer hat die Macht, wem, wozu, warum, wieso und in wessen Namen ein psychologisches/psychiatrisches Diagnose-Label zu verpassen?

Manfred Bleuler (1903–1994) beschrieb mir in einem Brief im Frühling 1989 eine lustige Episode, die seinen Zustand als 86-Jähriger beleuchtete. Er schlenderte, sich am Arm seiner Gattin Monika abstützend, auf dem Trottoire der Bahnhoftrasse Zollikon entlang, unweit ihres Hauses:

«Wir treffen auf der Strasse einen vierjährigen Knaben, der meine Frau – mich nicht – kennt. Er zeigt auf mich und frägt: ›Wer ist das?‹ Meine Frau antwortet: ›Mein Mann‹. Der Knabe frägt: ›Was ist er?‹ Meine Frau: ›Doktor‹. Der Knabe in sicherem Tone: ›Das ist nicht wahr, er kann ja nicht einmal laufen …‹»

Das ist ein Durchblick. Ein subjektives Wissen eines kleinen Knaben. Als ich Bleuler, zusammen mit R. D. Laing (1927–1989), das erste Mal besuchte,1 fragte Laing, der selbst über die Diagnose «Schizophrenie» forschte, was es mit dem Gerücht auf sich hätte, dass sein Vater Eugen (1857–1939) diesen Diagnose-Terminus nur eingeführt hätte, um seine Schwester Anna Pauline (1852–1926) zu schützen? Sie lebte im Burghölzi, der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, auf der anderen Seite. Sie wähnte sich auf abgelegenen Pfaden, in einer nach aussen gekehrten Innerlichkeit. Um sie vor der von Emil Kraepelin (1856–1926) eingeführten Diagnose der «dementia praecox» (Senilität der Jungen) zu schützen, die damals als unheilbar galt, suchte er, der fünf Jahre jüngere Bruder, 1911 eine Krankheitsmetapher des zerrissenen Herzens, die er leider ins Griechische übersetzte. In der Zersplitterung des eigenen Seins, spüren wir eine Disharmonie im körperlichen, seelischen und geistigen Dasein, welche sich in unserem Fühlen, Denken, Erleben, Wollen und Handeln zeigt. Schwester Pauline lebte in der Dienstwohnung der jungen Familie des Psychiaters. Dies entsprach Bleulers gelebter verstehender Nähe der Psychotherapie, als therapeutische Gemeinschaft (vgl. hierzu Itten, 2013).

Die Autor*innen dieses Heftes beschäftigen sich mit der Politik der Diagnose in einem historischen Bogen – seit den Unart-Beschreibungen Heinrich Hoffmanns im Struwwelpeter (1861) bis zu den modernen ADHS-Forschungsdiagnosen, die sich zurechtgerichtet auf Modelle der Genetik, der Neurotransmitter-Chemie und auf Medikamente stützten. Dazu kommen die subjektiven Seiten der Diagnose, die Innen- und Aussensicht, das Fremdbild und das Eigenbild. Wir müssen nüchtern aufpassen, dass wir nicht in eine nur noch mehr oder weniger kranke Gesellschaft hineingezogen werden.

Mit ihrem Text zu «Diagnose Himmel» reflektiert die in Berlin lebende Psychoanalytikerin Eva Jaeggi das Risiko von Heilsversprechungen und unseren sympathischen Glauben daran. Der SPIEGEL-Autor, Jörg Blech, ebenso in Berlin lebend, sinniert über die verborgenen Strategien der «Krankheitserfinder». Da passt der kritische Artikel des Seelenarztes aus Hamburg, Volkmar Aderhold, zu «Klinische Diagnosen als soziale Konstruktionen» gut hinzu. Die junge ungarische Psychologin und in Zürich tätige Psychotherapeutin Angéla Szalontainé Krasznai bringt uns mit ihrem Aufsatz zur Hierarchie oder Verantwortung durch klinisch-psychologische Diagnostik in der Psychotherapie zum Nachdenken. Der Zürcher Peter Müller-Locher, Leiter der Rater*innen-Schulung während der PAP-S Studie, vertieft seine Erfahrung im Aufsatz «Erzählen statt nur zählen». Clelia Di Serio, Professorin in Milano und Lugano, hat für dieses Heft dank der Unterstützung von ASP-Vorstand Nicola Gianinazzi über die neuen Herausforderungen der Epidemiologie im sozialen und politischen Rahmen, von der öffentlichen Gesundheit bis zur Präventionspolitik, geschrieben. Wir bringen diesen Artikel auch in ihrer Originalsprache, als Gruss an unsere Leser*innen im Tessin und Norditalien. John Read, Professor der Psychologie in London, fragt sich, ob die Schizophrenie wirklich existiert. Erstmals in deutscher Sprache publiziert ist das historische Dokument des Gespräches zwischen Manfred Bleuler und R. D. Laing, über die Diagnose als Metapher. Das habe ich als 30-Jähriger aufgezeichnet.

Zum Schluss folgen erneute die PSU-Abstracts von Paolo Migone, Direzione Psicoterapie e Science Umane, und ein paar Buchbesprechungen aus meiner Feder. Mit diesem Heft verabschiede ich mich nun auch als Rentner aus der Redaktionsgruppe. Viel frühlingshaftes Lesevergnügen wünscht Ihnen

Theodor Itten

Literatur

Blech, J. (2014). Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht. Frankfurt a. M.: S. Fischer.

Itten, T. (2013). Wege aus der Schizophrenie. à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung, Nr. 50 (Juni), 16–21.

Itten, T. & Young, C. (2012). R. D. Laing in conversation with Manfred Bleuler. R. D. LAING – 50 Years Since The Divided Self (S. 31–38). Wyastone Leys, Monmouth, UK: PCCS-Books.

Jenzer, S., Keller, W. & Meier, T. (2017). Eingeschlossen. Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971. Zürich: Chronos.

Rosenhan, D. L. (1973). On Being Sane in Insane Places. Science, 179(4070), S. 250–258.

Anmerkungen

1 Das Gespräch fand am 16. April 1981 in Zollikon statt und wurde veröffentlicht in Itten & Young (2012, S. 31–38).