Gießen: Psychosozial-Verlag. 208 Seiten. € 22,90
Psychotherapie-Wissenschaft 7 (2) 89–90 2017
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Die ewige Wiederkehr der gleichen Aufgabe: sich tagtäglich selber um die Aufrechterhaltung des eigenen Wohlbefindens zu kümmern. Warum es nicht wieder einmal sagen und zeigen, wie es uns ergeht, wenn wir unsere verkörperten Seelen achtsam pflegen und hegen? Was dann geschieht für Körper, Geist und Seele, darf immer wieder neu geschildert und frisch reflektiert werden. Diese vortreffliche Neuauflage des vor 30 Jahren erschienen Bestsellers Bioenergetik in der Praxis fokussiert auf die vom Autor selbsterfahrene und praktizierte körperpsychotherapeutische Methode. Dieses Buch ist ein gutes Pendant, zum oben besprochen Buch von Liebau (2017). In seinem auf neue Forschungsergebnisse fokussierten, dicht geschriebenen 35 Seite langen Vorwort zu dieser Neuauflage überzeugt der Autor und gestandene Psychotherapeut, Ulrich Sollmann, den kritischen Leser, vom Sinn dieses Umfüllens alten Weins in neue Flaschen. Dieses Selbsthilfebuch, das zur Zeit der Selbsterfahrungs-, Encounter- und Sensitivity-Trainingsgruppen gerade richtig und wichtig war für die gesuchte Selbstbefähigung, wird nun einer neuen Generation von PatientInnen und ihren PsychotherapeutInnen dienen. Der damalige sozial- und humanwissenschaftlich kontextualisierte Erklärungsansatz wird selbstverständlich, nach 30 Jahren mit neuen Erkenntnissen angereichert. Die Hirnforschung hat inzwischen immense Fortschritte erzielt, die als neuropsychologische Erkenntnisse, für PraktikerInnen anwendbar werden. Sollmann geht als Bioenergetiker und Gestalttherapeut, wie in seinen Publikationen üblich, erlebniszentriert vor. Damit wir den Sinn und Zweck der vorgeschlagenen Körperübungen verstehend einordnen können, präsentiert und erklärt er, positiv einfach, ohne intellektuellen Jargon, die notwendigen bioenergetischen Konzepte. Zuerst werden die eigene Wahrnehmung und das persönliche Gewahrsein als unerlässliche Erfahrung beschrieben. Danach betrachten und spüren wir Inhalt und Kontext des eigenen Zeit- und Raumsinns. Die heute wieder in Mode gekommene Praxis der Achtsamkeit in der Psychotherapie, propagiert durch die humanistische und positive Psychologie, platziert Sollmann, ganz der Nüchterne, zurück in die uralte Tradition des Buddhismus, die Erneuerungsbewegung des noch älteren Hinduismus. Nach wie vor ist die eigene Erfahrung dessen, was mir selber hilft, die bestimmende Indikation für das anzuwendende Behandlungsmittel – unabhängig vom jeweiligen Trend in der methodisch technisierten Psychotherapie oder den hochtrabenden theoretischen Diskursen. Sollmann schreibt: «Man muss also die Phänomene immer wieder aufs Neue in Augenschein nehmen und sich nicht (nur) an bewährten Rezepten ausrichten» (xv). Er tut dies ganz gewissenhaft. So werden, zum Beispiel, die unwillkürlichen Körperreaktionen, welche sich während oder nach bioenergetischen Übungen einstellen, als wichtige Phänomene der Selbstregulation des Leibes erläutert. Dies nimmt einem die Angst, dass etwas Unerwartetes passieren könnte, mit dem eine oder einer noch nicht umzugehen wüsste. Mut tut gut. Das fördert die Fähigkeit, wesensmässig sein ganzes, verkörpertes Menschsein anzunehmen. Die Illustration des Wechsels von Anspannung und Entspannung durch neurogenes Zittern zeigt, wie sich die heilende Wirkung von Selbstregulation im ganzen Organismus auswirkt. «Hier & Jetzt» als Konzept und als Momentum der Erfahrung ist hilfreich, da es immer schon um die Gegenwart geht, in der sich das somatisch Erfahrene und das zukünftig Erwünschte spürbar treffen. Die Arbeit mit Vibrationen im Körper werden «en detail» neurophysiologisch-funktional erläutert. Dies ermöglicht es dem belesenen Autor, die neusten Einsichten ins Nervensystem und dessen interne Kommunikation, darzustellen. Überhaupt, neben all den unvermeidlichen Wiederholungen (im Positiven und Negativen) eines Vielschreibers, wie Sollmann einer ist, geht es ihm um die wichtige Einsicht, dass die Kontextualisierung der eigenen leiblichen Erfahrung die Basis für jegliche theoretische Reflexion darstellt. Es ist eine grosse persönliche Herausforderung, die eigenen Projektionen nicht nur zu erkennen, sondern in der Betrachtung der Wirklichkeit, wie sie ist, hinter uns zu lassen. Ganz der kritische Geist, warnt uns Sollmann vor der Verlockung der Kommerzialisierung unserer Heilkunst. Psychotherapie ist kein Fetisch der konsumorientierten Kultur der propagierten Selbstoptimierung. Was tun? Das einfachste zuerst.
Die nun seit über 30 Jahren erprobten, empirisch als nützlich validierten Körperübungen dürfen selber mit dem Risiko ausprobiert werden, dass es einem danach wieder besser geht. Die angestrebte Wirkung ist die eigene Lebendigkeit, Wachheit und Klarheit. Für diejenigen, welche die erste oder zweite Ausgabe von Bioenergetik in der Praxis in der eigenen Praxis-Bibliothek nicht mehr finden oder bei denen das eine Exemplar durch vielen Gebrauch aus dem Leim gegangen ist sowie für all jene jüngeren KollegInnen und Studierenden der Psychotherapie ist diese Neuausgabe griffbereit. In den sechs Kapiteln des alt-neuen Buches geht es um die Gymnastik der Seele, die Bioenergetik, das Stressgeschehen, den Körperausdruck und die Persönlichkeitsstruktur. Der uns allen bekannten Körpersprache, den verschiedenen, von A. Lowen beschriebenen Charakterstilen, werden viel Denk- und Übungsraum gewidmet. Viele Bilder dienen als Anleitungsvorlage, was angenehm hilfreich ist. Der Schluss dieses fast zeitlosen Praxisbuches ist dem eigenen Körper-Management gewidmet. Die Hebamme kann, im erwachsenen Alter, nicht mehr verantwortlich gemacht werden, sagt ein altes Sprichwort. Wer ist somit heute für das leibliche, seelische und geistige Wohlbefinden verantwortlich? Genau! Richtige Antwort. Ein alter, weiser Psychotherapeut wurde mal von einem Freund gefragt, ob er sich selber vertraue? Nur wenn ich muss, antwortete der Gefragte verheissungsvoll.
Theodor Itten