Gießen: Psychosozial-Verlag. 255 Seiten. € 24,90
Psychotherapie-Wissenschaft 7 (2) 88–89 2017
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Auf dem Umschlagfoto sehen wir, wie eine junge Frau und ein etwas grösserer Mann an einem Meeresstrand ihre Lebendigkeit dadurch ausdrücken, dass beide, bis in die Fingerspitzen ausgestreckt, hoch und aufeinander zu springen. Dazwischen leuchtet die Sonne vor einem morgenroten Hintergrund. Zufällig verbindet ein schlanker umbilikaler Wolkenstrang die Becken der beiden. Das Lustprinzip als Modell der Libido und Psyches Odem, das Qi der elementaren, allen Menschenwesen innenwohnenden Kraft, griechisch «energeia», wird verzaubernd dargestellt. Die Aktivierung des Lebendigen im Leib ist auf die Quelle gerichtet, die sich, wie alles Natürliche, erneuert. In der Bioenergetik, die als «Aktualisierung des Lebendigen» übersetzt werden könnte, werden wir als Wesen gesehen, die gleichzeitig von Natur und Kultur geprägt werden. Bioenergetik hat verschiedene eigene operative Definitionen dessen, was sie als «Energie» versteht. Ihre vier Hauptprinzipien jedoch sind: Erdung, Atmung, Bewegung und Ausdruck. Ziel, soweit ich es verstehe, ist, die uns innewohnende Lebensenergie, falls sie durch schwierige bzw. verletzende Erlebnisse in der Kindheit, der Jugend oder im Erwachsenalter irgendwo im Leib blockiert wurde, wieder zum unbehinderten Fliessen zu bringen.
Das Cover ist ein stimmiges Sinnbild für das Thema dieses neuen Buches der promovierten Theologin und Bioenergetischen Analytikerin Irmhild Liebau, die bis 2016 die Zeitschrift Forum Bioenergetische Analyse herausgab und das Seelsorgeinstitut Bethel in Bielefeld seit sieben Jahren leitet. Das Lied «Summertime» fällt mir ein, in dem Fische, die hochspringen, von dem einfacher und leichter werdenden Leben singen, da die kommende Ernte wächst. So wie jede/r von uns die/der geworden ist, die/der sie/er heute ist, können wir jeweils, von innen her kommend, unser Wohlbefinden aufrechterhalten. Falls wir damit unzufrieden sind, lässt sich dieser Zustand verändern, wenn wir wollen, können und dürfen. Sich erneut an die aktuelle Lebensenergie wenden, damit das Einstimmen ins eigene Wohlbefinden wieder gelingen kann, lautet dann das Ziel. Dieses Buch ist ein hervorragendes Beispiel, wie lebendig die Bioenergetik und köperorientierte Psychotherapie geworden ist und bleibt. Liebaus witziger Vorschlag, innerhalb von nur einem Mondzyklus, sich in die neue Lebensfrische einzuüben, ist verblüffend elegant. Die verschiedenen Gebrauchsanweisungen liegen vor und müssen – in Zukunft – nicht mehr mühsam aus verschiedenen Büchern und Videos zusammengesucht werden. Liebau arrangierte ihre Übungen über 28 Tage, gegliedert in zwei Teile. Erst kommt der Körper als Ressource: «Arbeiten an der eigenen Persönlichkeit». Teil zwei widmet sich dem Entfalten neuer Lebensenergie: «Mit Leib und Seele leben und arbeiten». Da wir von nirgends nicht irgendwohin gehen können, kommen wir zuerst einmal im eigenen Körper an. Dazu hat sie vier Übungen vorbereitet, die im Sitzen und im Gehen praktiziert werden. Wie bei allen körperpsychotherapeutischen Verfahren ist der Atem, der Odem des Lebens, im Zentrum des Seins. Zuerst sich selber spüren, erden, zentrieren, den Atem kommen und gehen lassen. Zufrieden sein, mit dem, was kommt, und zufrieden sein, mit dem, was geht. Da wir gerade am Sitzen sind, lesen sich die beiden Theorieteile angenehm ruhig. Erst gibt die Autorin brauchbare Hintergrundinformationen zur Geschichte der Bioenergetischen Analyse (BA). Dann kommen wir ganz in die Gegenwart hinein, mit ihren ausgiebigen Schilderungen neuer Weiterentwicklungen, wo die Autorin sich erfreulicherweise auch auf unsere Redaktionskollegin, Psychotherapieforscherin, Bioenergetische Analytikerin und Autorin, Margit Koemeda-Lutz, beruft. Am zweiten Tag wenden wir uns der eigenen Leiblichkeit als Quelle der Kraft zu. Durch die erste Woche folgen dann lockere Übungen zum Bodenkontakt, Aufrichten und Sich-Beugen, den Blick zum Himmel und zur Erde-Richten und dem Dazwischensein des Menschen. Der Selbstausdruck folgt der notwendigen Zuwendung zum eigenen Selbst. Jeder Tag endet mit einer kleinen würzigen Brise Theorie. Modellhaft erzählt Liebau kleine Vignetten aus ihrer Praxis. Am achten Tag gibt es spielerische Körperübungen für Frau beziehungsweise Mann. Was wäre ein Leben ohne Freude an den eigenen Aspekten des Weiblich- und/oder Männlich-Seins? Diese Yin/Yang-Kräfte wieder zu aktivieren zu einer neuen Frische, das lockt sie uns zu tun. Just zum vierzehnten Tag ermuntert sie uns, frei zu nehmen, das bisher Getane zu feiern.
Der zweite Teil beginnt wieder mit der Körperwahrnehmung, um nach der gewährten Freizeit wieder zu einer genügend guten Erdung und Atmung zu finden. Die Qualität des eigenen Boden- und Körperkontakts ist wichtig, da wir dadurch die neue Lebensenergie, die Liebau uns wünscht, erleben können. Sie erzählt von einer depressiven Klientin, die mithilfe dieser Übungen aus den trübsinnigen Stimmungen herauskam. Ab dem 18. Tag werden die sieben Trauma/Tension Releasing Exercises (TRE) eingeführt. Trauma (zur Erinnerung) ist das griechische Wort für «grosse Wunde». Bis zum Schluss des Monats können wir diese jeweils in verschiedenen Kombinationen wiederholen, was der notwendigen Vertiefung hilft – l’éducation c’est l’art de la répétition. Für die TänzerInnen unter den kommenden LeserInnen, sind Trommeltänze im Programm. Da wir als Kinder alle durch den Tag tanzen konnten, verbinden wir dadurch das innere Kind mit der heutigen Person. Sie lachen? Prima, denn das innere Lächeln darf wieder eingeübt werden, fünfzehn Minuten lang, mindestens. Schlussendlich dürfen wir uns räkeln, recken und strecken sowie zur Ruhe kommen, verweilen im Nichts-Tun. Aktive Imagination wird öfters vorgeschlagen, ganz ohne theoretische und methodenspezifische Fixierung. Wozu auch, da dieses Übungsprogramm dem Entfalten der eigenen Selbstkräfte gilt. Die Selbstwahrnehmung, die Selbstsicherheit, das Selbstvertrauen und das Horchen auf die innere Stimme sind gleichzeitig die Voraussetzung und der heilende Weg zur frischen Ganzheit.
Das ganze Programm hat Liebau in den vergangenen vier Jahrzehnten, aus einem grossen Fundus heraus, konzipiert, selber mit sich und KlientInnen eingeübt. Es funktioniert, leider (Spass). Somit: Auf und dran bleiben!
Theodor Itten