Wien: facultas Verlag. 303 Seiten. € 32,90
Psychotherapie-Wissenschaft 7 (2) 87–88 2017
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Ein ganzes berufliches Leben lang, bis zu seiner Emeritierung 2014, hatte Prof. Dr. Josef W. Egger in Graz den Lehrstuhl für Biopsychosoziale Medizin inne. Seine Publikation 2017 kann als eine Art Zusammenfassung seines Lebenswerks betrachtet werden.
Im Vorwort weist der Autor auf sein Kernanliegen hin, nämlich, dass das bisherige «Biomedizinische Modell» mit seiner biologistischen, physiko-chemischen Orientierung bei Weitem nicht ausreiche, um die meisten Krankheiten hinreichend zu erklären, noch sie zu behandeln. Egger versteht unter dem «Biomedizinischen Modell» ein Reparaturmodell der Medizin, das «immer weniger den erkennbaren Wirkfaktoren für die Entwicklung von Krankheiten einerseits und für die Aufrechterhaltung von Gesundheit andrerseits gerecht wird» (S. 13). Es bedürfe einer erweiterten Sichtweise der wissenschaftlichen Medizin, die Egger als «Biopsychosoziales Modell» der Medizin bezeichnet:
«Das biopsychosoziale Modell beschreibt die Natur als eine hierarchische Ordnung von Systemen. Jedes Niveau in dieser Hierarchie repräsentiert ein organsiertes dynamisches System. […] Nichts existiert isoliert, alle Ebenen der Organisation sind verbunden, sodass eine Änderung auf einer Ebene im Prinzip auch eine Änderung in den anderen, v. a. den angrenzenden Systemebenen bewirken kann» (S.17).
Das bisherige Verständnis von Psychosomatik wird mit diesem umfassenden Theoriemodell obsolet. Alle Systeme wirken dynamisch ineinander und sind stets in ihrer Vielschichtigkeit in Betracht zu ziehen. Psychosoziale Aspekte fallen nicht erst dann an, wenn sich auf organischer Ebene keine plausible Erklärung für die Störung findet.
Der Organismus wird als informationsverarbeitendes, dynamisches System verstanden: «Die Verknüpfung der Subsysteme erfolgt durch eine grosse Vielfalt von Kommunikationssignalen, die in regulärer oder irregulärer Weise ausgesendet werden können. Krankheit entsteht im Sinne dieser funktionalen Sichtweise dann, wenn neue Rhythmen auftauchen oder bereits vorhandene verschwinden oder sich ändern» (S. 21). Gesundheit wird als die Fähigkeit des Organismus bezeichnet, sein eigenes Verhalten und seine Physiologie zu regulieren. Krankheit und Leiden treten dann ein, wenn die Regulationssysteme – egal ob auf einer oder gleich auf mehreren Ebenen des Organismus oder seines biochemischen, psychologischen oder sozialen Kommunikationsnetzes – versagen (S. 289). Der Übergang von Gesundheit zu Krankheit liegt nicht in seiner Struktur begründet, sondern in Änderungen in den dynamischen Funktionen des Organismus (S. 21).
Diese Rahmentheorie hat in ihrem Kern die wissenschaftstheoretische Erkenntnis der Körper-Seele-Einheit zur Grundlage, derzufolge «es nichts Seelisches geben kann, das nicht zugleich auch ein physiologischer Prozess ist» (S. 10). Diese funktionelle Identität von seelischen und körperlichen Prozessen ist für KörperpsychotherapeutInnen in der Entwicklungslinie von W. Reich, A. Lowen und anderen eine vertraute Denkweise. Doch Freude herrscht, zu lesen, dass und wie diese Rahmentheorie in der Medizin angekommen ist.
Egger gelingt es auf brillante Weise, eine komplexe, systemisch-dynamische, umfassende und überzeugende Theorie des Biopsychosozialen Modells darzustellen, die mein bisheriges Verständnis der sogenannten «Body Mind Unity Theory», der funktionellen Identität von Körper und Seele, in eine umfassende systemische Theorie einwebt.
Man ist nun gespannt, welche Auswirkungen dieses Denkmodell für die tägliche Praxis haben wird. Wie stellt sich Egger eine Einflussnahme auf das «biochemische Netzwerk im Körper» vor? Am Beispiel der somatoformen Störung versucht der Autor eine Antwort auf diese Frage. Wer hier gezielte körperpsychotherapeutische Interventionen oder den Einbezug von Bindung- oder Übertragungsdynamik erwartet, wird enttäuscht. Der Autor bleibt dem verhaltenstherapeutischen Ansatz und Repertoire verpflichtet.
Es wird später schon klar, warum der reiche Fundus von Jahrzehnte langer Erfahrung und Entwicklung ignoriert wird: Diese Schulen oder Traditionen genügen den Evidenz basierten wissenschaftlichen Kriterien nicht. Der Autor beklagt, dass weite Teile der psychotherapeutischen Schulen kein Update ihrer Theorie vorgenommen hätten und weiterhin mit den tradierten Konstrukten und Begrifflichkeiten arbeiten (S. 126). Egger ist ein Mann der klaren Worte und unterscheidet messerscharf zwischen Evidenz basierten Modellen und Glaubenssystemen, zwischen Religion und Wissenshaft. Diese Klarheit ist wohltuend. Und doch bedauerte ich als Leser, dass zum Beispiel meine Arbeitsweise als Bioenergetischer Analytiker mit der direkten Einflussnahme auf die «biochemischen Netzwerke im Körper» als therapeutische Intervention keine Beachtung findet. Warum kommunizieren wir nicht neugierig und vorurteilsloser miteinander?
Dieser Kritik zum Trotz: Die LeserInnen werden reich beschenkt mit anregenden Ausführungen zu Stress und dessen physiologischen Prozessen oder zum Zusammenhang von chronischen psychosozialen Belastungen und deren Einfluss auf das Immunsystem (S. 123). Medizinisch psychobiologische Fakten sind sorgfältig zusammengetragen und die LeserInnen lernen, die Wechselwirkungen zwischen Tätigkeiten des zentralen Nervensystems, des autonomen Systems, des endokrinen Systems und des Immunsystems zu verstehen.
Ein langes Kapitel widmet der Autor der dritten Säule der wissenschaftlichen Medizin: Der Arzt- Patient-Kommunikation. Egger legt Daten vor, die belegen, wie die Qualität der Kommunikation die Compliance und den Therapieerfolg beeinflussen. Ein professionelles Gesprächsverhalten vermindere nachweislich die Symptome, führe zu einer verbesserten Schmerzkontrolle und einem besseren Funktionszustand. Das reiche bis hin zu besseren Ergebnissen etwa bei der Einstellung von Blutdruck und Blutzucker (S. 224).
Der Autor stellt sich auch der Diskussion, welche Gesundheitspolitik angestrebt werden sollte, seitdem wir unsere Gesundheit nicht mehr in Gottes Hand legen, sondern sie als Ergebnis komplexer Wechselwirkungen verstehen. Krankenhäuser sollten nicht mehr nur als Reparatur-Einrichtungen, sondern als öffentliche Stätten der Krankheitsbewältigung und Gesundheitsförderung eingerichtet werden.
Mit sogenannten Alternativmedizinischen Methoden (CAM) geht der Autor mit wissenschaftlicher Methodik hart ins Gericht. Die Homöopathie hält er für überholt: «Nichts drin, nichts dran» (S. 175). Aber auch Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Akupunktur, Anthroposophische Medizin etc. spricht er heutzutage eine Existenzberechtigung ab. Dennoch anerkennt er, dass diese Methoden oft eine Wirksamkeit entfalten, die mit anderen Wirkgrössen erklärbar sind als jeweils behauptet.
Egger hat ein Leben lang geforscht und gelehrt. Und das spürt der Leser und die Leserin. Er plädiert für eine «sprechende Medizin» nach dem altgriechischen Gott Asklepios: «Zuerst heile mit dem Wort, dann mit der Arznei und zuletzt mit dem Messer» (S. 191). Sein Herzensanliegen liegt in der Weiterbildung der Ärzteschaft. Er hat an seiner Wirkungsstätte an der Universität Graz einen dreistufigen Lehrgang für Medizinstudierende entwickelt, welcher deren ganzes Medizinstudium durchzieht. Er hat dessen Auswirkung auf die Berufspraxis akribisch erforscht und mit empirischen Daten unterlegt. Als wichtigste Erkenntnis nennt er, dass für einen ausreichenden Zuwachs an psychologischen Kompetenzen das Motto «gut Ding braucht Weile» gilt (S. 268), eine Einsicht, die sich auch mit meinen Erfahrungen deckt.
Das Buch von Prof. Dr. Josef Egger erschloss sich mir als Fundgrube. Wer an präziser Darstellung auch komplexer Zusammenhänge der Körper-Seele-Einheit interessiert ist, wer sich nach einer umfassenden Theorie des Zusammenwirkens von Körper, Seele und Umwelt sehnt, wer sich sowohl berufspolitisch als auch gesundheitspolitisch mit Fakten vertraut machen will, der darf sich auf die Lektüre dieses Buches freuen.
Hugo Steinmann