Psychosomatische Ansätze in der Psychotherapie
Hans Jürgen Scheurle
Psychotherapie-Wissenschaft 7 (2) 39–48 2017
www.psychotherapie-wissenschaft.info
Zusammenfassung: Ausgehend von neuen Forschungsansätzen wird der Resonanzbegriff in seiner Relevanz für die Psychosomatik dargestellt. Aus der Medizin wird die Leibphänomenologie, aus der Neurophysiologie werden neuronale Synchronisierung und Spiegelneurone, aus der Physik wird die fundamentale Verstärkung von Schwingungen durch Resonanz, aus der Soziologie werden die «antwortende» und die «stumme» Weltbeziehung (Rosa) in die Überlegungen mit einbezogen. Eine Theorie der Weltbeziehungen durch Resonanz wird in Grundzügen angedeutet und mit Beispielen belegt.
Es wird gezeigt, dass wesentliche psychosomatische Grundbegriffe durch eine Theorie der Resonanz in ein helleres Licht gerückt werden können. So lassen sich beispielsweise die Einheit von Leib und Seele (bzw. Geist oder Ich), Leibgedächtnis und Erinnerung, die Umwelt als Resonanzraum der Sinne und schliesslich der Ruhezustand (Innehalten, Nichthandeln) in ihrer Dynamik verdeutlichen.
Eine besondere Bedeutung hat die Einbeziehung von Resonanzprozessen für die Hirnfunktion. Anstelle einer Hirntheorie, die den Geist in die Nervennetze mystifizierend hinein projiziert, ist Geist im ganzen Leib und in jeder Zelle vorhanden. Nicht der Dualismus von Körper und Geist im Sinne von Descartes, sondern die Leib-Seele-Geist-Einheit (monas) im Sinne von Leibniz ist dafür ein geeigneter Denkansatz: Gehirn und übriger Leib stehen nicht in einem kausalen, sondern in einem partnerschaftlichen Verhältnis. Die Theorie einer zerebralen Steuerfunktion dürfte demnach künftig durch eine Resonanztheorie des Gehirns abgelöst werden.1
Schlüsselwörter: Resonanzprinzip, Gestaltkreis, Leib-Seele-Geist-Einheit, Leibniz vs. Descartes, Hirntheorie, Gehirn als Resonanzorgan, Leibgedächtnis
Einleitung
Interaktionen und Resonanzen von Organismus und Umwelt sind ein Hauptthema der Psychosomatik. Nicht nur lassen sich die Beziehungen des Menschen zur Umwelt und zum eigenen Leib durch den Resonanzbegriff besser verstehen, darüber hinaus ist dieser auch von praktisch-medizinischer Bedeutung, etwa hinsichtlich der Gesprächstherapie.
Die Fähigkeit zum Gesundwerden und Gesundbleiben ist mit Resonanz eng verbunden. Wir sind im Leben darauf angewiesen, dass die Umwelt auf unser Handeln, Empfinden und Denken antwortet. Wir erleben es positiv, wenn wir bei anderen Menschen Widerhall finden und mit unseren Bestrebungen nicht isoliert bleiben. Nach einem intensiven Gespräch, einem Konzert oder einem interessanten Ereignis klingt das Erlebte noch eine Weile nach. Dabei treten bestimmte Gedächtnisepisoden wiederholt und oft mit neuen Aspekten ins Bewusstsein. Die innere Resonanz, das Wiederklingen von Ereignissen stärkt Selbsterleben und Initiativkraft.
Das Individuum allein vermag wenig oder nichts ohne die unterstützende, verstärkende Resonanz aus der Umwelt. Vertieftes Erleben und gelingendes Handeln verdanken ihre Intensität stets auch einer günstigen Mitwirkung der Umgebung, während umgekehrt das Fehlen oder Unterdrücken von Resonanz die persönliche Performanz dämpft und der Grund sowohl für Fehlschläge und Misserfolge als auch für in zunehmender Häufigkeit auftretende Krankheitszustände wie Depression und Burnout ist.
In der Psychosomatik ist der Resonanzgedanke schon an der Umbenennung der Welt zur Um-Welt abzulesen (vgl. hierzu Uexküll, 1976). Die Welt ist nicht nur das kalte leere Weltall der Teleskope, sondern eine den Menschen bergende, warme, biologische und soziale Hülle, die auf seine Bestrebungen und Ziele antwortet, auf die das Individuum mit und in seinen Intentionen, Wahrnehmungen und Bewertungen, ja zu seinem Fortbestand angewiesen ist.
Im weiteren Sinne ist das Leben von Organismen überhaupt von Resonanz getragen. Ihre Eigenaktivität beschränkt sich nicht auf den Leib, sondern geht fliessend in die Umwelt als erweiterten Leib über. Die Umwelt ist der Resonanzkörper der menschlichen Wahrnehmung. Die Sinneselemente – die Luft für das Atmen, das Licht für das Sehen, die Gravitation für den sich aufrichtenden, sich in der Welt ein- und ausrichtenden Körper – sind Resonanzräume der Sinnes- und Bewegungsorgane mit tragendem, bestärkendem und ernährendem Charakter. Wie die Luft als Bestandteil der Lungenatmung ohne feste Grenze in das Umweltelement übergeht, sind auch die Sinneselemente von Ton, Duft, Geschmack usw. dem Leib zugehörende Resonanzsphären der inneren Bewegung, des Stoffwechsels und der Gestaltbildung.
Weizsäcker (1943) spricht hier von einem «Gestaltkreis», in dem Bewegung (Eigenaktivität) und Wahrnehmung (Weltkonstitution) unlösbar ineinander verschlungen sind. Eigenbewegung ist stets zugleich Selbstwahrnehmung. Umgekehrt geht jede Wahrnehmung generell mit Eigenbewegung einher (Senso-Motorik) – man denke nur an die sechs Augenmuskeln, die den Blick lenken oder an die feinen Muskelstränge der Mittelohrknöchelchen, welche sich beim Aufmerken auf hohe und tiefe Töne anspannen und wieder lockern.
Abb. 1: Der Gestaltkreis nach Weizsäcker
Zur Resonanz in der Soziologie
Im Bereich der Soziologie und der Lebenswissenschaften überhaupt stellt Hartmut Rosa (2017) die grundsätzliche Bedeutung der Person-Leib-Welt-Resonanz in Beziehung zu modernen gesellschaftlichen Zuständen dar. Eine stets beschleunigte, das Individuum durch eine «unaufhebbare Eskalationstendenz» (ebd., S. 13) überfordernde Welt antworte auf dessen Intentionen und Bestrebungen immer weniger. In den responsiven Gesellschaftsformen der Moderne, so Rosa, drohen die Weltbeziehungen des Menschen mehr und mehr zu verstummen. Beschleunigung und Steigerungszwang sind im modernen Leben zum Problem geworden:
«Ein zielloser und unabschliessbarer Steigerungszwang führt am Ende zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung der Subjekte und der Gesellschaft als ganzer» (ebd., S. 14).
Eine bedrohliche Resonanzkrise und «Resonanzblockade» (ebd., S. 308) geht mit dem Verstummen des Individuums und mit der Erschöpfung persönlicher Ressourcen einher. Sie führt zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Pathologie, zum Verlust von Selbstwirksamkeit, zu Sinn- und Lebenskrisen, zu Lebensüberdruss und einer selbstmörderischen Todesbereitschaft, die weltweit im Zunehmen begriffen ist.
Resonanz und Psychosomatik
Wie gesagt findet der Resonanzbegriff in der psychosomatischen Medizin einen tragfähigen Boden. Thomas Fuchs (2013, S. 160–176) grenzt «Resonanz» in phänomenologischer Hinsicht insbesondere gegenüber den Begriffen «Information» und «Repräsentation» ab und charakterisiert die Bedeutung des Resonanzbegriffs wie folgt:
«Der Begriff der Resonanz ist in der Phänomenologie, insbesondere in der Leibphänomenologie geläufig geworden, um die Art und Weise der Affektion zu beschreiben, die eine Person in einer emotional bedeutsamen Situation erlebt. Da diese affektive Betroffenheit aus phänomenologischer Sicht immer im Medium der Leiblichkeit erfolgt, kann man auch von leiblicher Resonanz sprechen.
Natürlich handelt es sich bei dem Begriff zunächst um eine Metapher. Ihre Eignung oder Berechtigung ergibt sich zunächst aus dem Sprachgebrauch, etwa wenn wir für die emotionale Teilnahme das Wort ‹mitschwingen› gebrauchen und dementsprechend einer Person eine gute oder aber reduzierte ‹Schwingungsfähigkeit› zuschreiben, je nachdem wie sie in der Lage ist, mit differenzierter Mimik, Gestik oder Stimme auf eine Situation emotional zu reagieren» (Fuchs, 2014, S. 1).
In der frühen Kindheit entsteht zunächst die erste Ich-Du-Beziehung zwischen Mutter und Kind. An sie schliessen sich schon im ersten Lebensjahr sogenannte triadische Beziehungen zu den Gegenständen an, aus denen sich ein gemeinsamer Lebens- und Verständigungsraum herausbildet, in dem Vertrautheit und Wiedererkennen entstehen (vgl. Fuchs, 2014). Wenn Kleinkind und Mutter gemeinsam einen Gegenstand sehen und danach greifen und ein Spielgerät, etwa einen Ball, auf ähnliche Weise gebrauchen, fördert diese «Resonanz» zwischen ihnen nicht nur das gelingende Zusammenspiel, sondern bildet zugleich den für das Kind vertrauten, tragenden «Spiel-Raum» einer gemeinsamen Umwelt aus.
Die Um-Welt ist keine abstrakte, vom Menschen unabhängige Objektwelt. Die Lebenswelt reflektiert die vom Menschen ausgehenden Strebungen und Empfindungen in einem Raum, der durch Wahrnehmung konstituiert und vom Individuum stets mehr oder weniger mitgestaltet ist. Das Verständnis einer den Menschen bekräftigenden Umweltresonanz klingt in Begriffen wie «sozialer Uterus», «inneres Kind», «Ich-Entwicklung», «Selbstwirksamkeit» und «Resilienz» an.
Resonanz als Verstärkung
Die Bedeutung der Resonanz für den Menschen, einschliesslich seiner Beziehung zur Umwelt, zu Anderen und zum eigenen Leib, wird zunächst durch den physikalischen Begriff erhellt: Resonanz bedeutet Verstärkung. Das Prinzip der Verstärkung durch Resonanz veranschaulicht ein Musikinstrument, etwa eine Geige. Man kann Violinsaiten auf einen Holzblock spannen und mit einem Bogen streichen – man wird ein leises Summen und Sirren, aber keinen tragenden Klang hören. Dieser kommt erst zustande, wenn hinter den Saiten ein geeigneter lufthaltiger Hohl- bzw. Resonanzraum liegt, der den Klang auffängt und verstärkt wiedergibt. Ein gespanntes Fell klingt nur als Trommel, ein Stück Holz (Xylophon) erhält seinen musikalisch vollen Klang erst durch einen entsprechenden Resonanzkörper.
In Analogie dazu antwortet der menschliche Leib auf die mannigfaltigen Anregungen der Umwelt mit Resonanz, Verdichtung und willenshafter Äusserung. Umgekehrt wird jeder Ton, jede Äusserung, jedes Tun durch Resonanz aus der Umwelt potenziell verstärkt. Das gilt sowohl für den Leib als auch für die geistig-seelische Selbstwirksamkeit. Geht man davon aus, dass das einzelne Individuum allein zu begrenzt, zu schwach und ohne Hilfe von aussen nicht dazu fähig wäre, die ihm innewohnenden, der Entfaltung harrenden Lebensmöglichkeiten und Potenzen zu ergreifen, bleibt es generell auf Verstärkung angewiesen. Es erfährt immer wieder Hilfe zur Selbstwirksamkeit, Korrektur und Bestätigung seiner fragilen Identität durch Umwelt und antwortende Menschen.
Der einzelne Mensch kann somit, bildlich gesprochen, «wie eine Saite» erst durch einen grösseren Resonanzraum zum Klingen kommen. In der frühen Megalith-Kultur sind sogenannte «Summsteine» mit Höhlungen gefunden worden, welche die menschliche Stimme durch Resonanz verstärken, die damit an Klangfülle und Bedeutung zunimmt (siehe Abbildung 2). Die urbildliche Verstärkung der Stimme durch Resonanz macht deutlich, was das menschliche Individuum auch in vielen anderen Lebensbereichen erfahren kann: Die Macht der Stimme, ihre Ausbreitung im Raum des Hörens bildet einen zweiten dynamisch-geistigen Leib, einen über den physischen Körper weit hinausreichenden eigenen «Klangleib», in dessen Wirkfeld der Handlungsraum des Menschen eingebettet ist.
Abbildung 2: Der Hohlraum im Summstein verstärkt bestimmte Frequenzen, so dass beim Summen von tiefen zu hohen Tönen nur eine bestimmte (meist mittlere) Tonlage verstärkt wird
Resonanz tritt als rhythmisch-musikalische Verstärkung in vielfältigen leiblichen, seelischen und geistigen Facetten überall auf, wo rhythmische Vorgänge stattfinden (Fortbewegung, Ein- und Ausatmung, Herzschlag, Entladungsrhythmen des Gehirns u. a.). Insbesondere im Kulturraum von Musik und Sprache und den darauf basierenden Kunstformen von Literatur und Theater spielt Resonanz eine wesentliche Rolle. Im Gemeinschafts- und Geistesleben, wie im menschlichen Kulturleben überhaupt, zeigt sich, wie der Mensch Resonanz auf besondere Weise in seine Weltbeziehungen einzubauen und zu nutzen weiss.
Resonanz in der Hirnforschung
Die Resonanz auf die Umwelt ist insbesondere für die Nervenfunktion von Bedeutung. In der Neurophysiologie hat die Resonanzforschung, v. a. durch die Entdeckung der Spiegelneuronen (vgl. Rizzolatti et al., 2001) und die Erforschung der neuronalen Synchronisierung (vgl. Uhlhaas & Singer, 2006) wichtige Schritte getan (vgl. hierzu ausführlicher Scheurle, 2016). Auf die Spiegelneuronen gehe ich weiter unten ein. Weniger bekannt ist bisher noch die Synchronisierung der Entladungen im Gehirn, die hier kurz dargestellt sei.
Wenn Organismus und Umwelt harmonieren und in Kohärenz stehen, werden die Entladungsrhythmen im Gehirn synchronisiert und durch Resonanz verstärkt. Synchronisierung ist beispielsweise nachgewiesen, wenn wir auf bestimmte Wahrnehmungsmuster positiv reagieren. Erkenntnisprozesse, wie etwa das erfolgreiche Lesen und Verstehen von Worten, führen zur erhöhten Synchronisation der Oszillationen im Gehirn, während beim Nichtverstehen der Inhalte die Hirnrhythmen zerfallen (Desynchronisation):
«Wenn die gezeigten Wörter nicht bewusst wahrgenommen werden, ist die Synchronisation zwischen den oszillatorischen Aktivitäten der […] beteiligten Hirnareale nur gering ausgeprägt. Wenn die Versuchspersonen die gezeigten Wörter jedoch bewusst wahrnehmen, sind die Schwingungen in den beteiligten Hirnrindenregionen hochsynchron» (Singer & Ricard, 2008, S. 59).
Die Synchronisierung der zerebralen Erregungen beim Erkennen zeigt – im Gegensatz zur rein hypothetischen Vorstellung einer sogenannten Verarbeitung von Sinnesdaten im Gehirn –, wie eine ganz neue Idee zur Funktionsweise des Zentralnervensystems diskutabel wird: Eine Art musikalisches Konzept der Verbindung von Gehirn und übrigem Leib! Nach Oliver Sacks erklären Rhythmus und Resonanz die sogenannten Bindungseigenschaften des Gehirns:
«Neurowissenschaftler sprechen manchmal vom ‹Bindungsproblem› – der Frage, wie verschiedene Wahrnehmungen oder Aspekte der Wahrnehmung verbunden oder vereinigt werden. Was ermöglicht uns beispielsweise, den Geruch und die Empfindungen zusammenzufassen, die durch das Auftauchen eines Jaguars ausgelöst werden? Diese Bindung im Nervensystem wird durch rasches, synchrones Feuern von Nervenzellen in verschiedenen Hirnregionen bewirkt. Wie schnelle neuronale Oszillationen verschiedene Teile im Gehirn und Nervensystem verknüpfen, so bindet der Rhythmus die individuellen Nervensysteme einer menschlichen Gemeinschaft zusammen» (Sacks, 2009, S. 303).
Bislang sind die relativ neuen und überraschenden Forschungsergebnisse der Synchronisierungsforschung in ihrer Bedeutung noch kaum ernst genommen worden und haben noch keinen Eingang in die Grundbegriffe der Medizin und Neurophysiologie gefunden. Hier wird künftig ein Umdenken von einer materialistisch hirnzentrierten hin zu einer phänomenologisch leibzentrierten Sichtweise gefordert sein – wie sie für Psychosomatik und Psychotherapie von jeher naheliegt.
Resonanz ist ein positives Naturphänomen, das aber nicht immer positiv ist
Die Synchronisierung der Nervenerregungen auf eine gemeinsame Frequenz ist zwar eine Folge der Resonanz, aber nicht mit dieser selbst zu verwechseln. Wenn neuronale Oszillationen synchronisiert und verstärkt werden, führt dies nicht zwangsläufig und nicht immer zu einer verbesserten Funktion.
Grundsätzlich können gelingende ebenso wie misslingende, angenehme ebenso wie unangenehm erlebte Ereignisse verstärkt werden. Übermässige Resonanz kann das schwingende Medium zerstören. (So kann bekanntlich durch resonanzbedingte Verstärkung beispielsweise ein Brückeneinsturz herbeigeführt werden!) Auch im Organismus kann übermässige Resonanz manchmal pathologisch wirken. So kommt es etwa bei der Epilepsie zu einer massiven und unkontrollierten, gleichsam gewitterartigen Entladung der Nervenpotenziale von Hirnzellen. Die Resonanzverstärkung zwischen beiden Hirnhälften, deren Erregungen sich über die Kommissur («Balken») gegenseitig verstärken und aufschaukeln, kann in kritischen Fällen lebensbedrohliche Ausmasse annehmen (status epilepticus).
Die relative Autonomie der Organe
Indem Organe und Zellsysteme miteinander in Resonanz treten, äussert sich darin ihre relative Selbstständigkeit und Autonomie. Im Unterschied zur gängigen Vorstellung, derzufolge Organismen Mechanismen sein sollen, deren Teile von oben gesteuert werden, sind die Leibesglieder relativ autonom. Sie sind selbst «intelligent» und an jeder Stelle in der Lage, auf die Umwelt selbstständig und autonom zu reagieren.
Organismus und Lebenswelt bilden ein Ganzes. Das menschliche Ich (Geist) lebt in den Organen und ist von den Leistungen des Organismus nicht zu trennen. Das Ich existiert nicht vom übrigen Leib getrennt im Gehirn. Im Eigenleben der Organe drückt sich mit der leiblichen zugleich auch die seelische und geistige Existenz des Menschen aus. So hat etwa die Atmung neben ihrer Stoffwechselfunktion resonante seelisch-geistige Komponenten, wie Sprechen und Singen, Lachen und Weinen. Das Aufnehmen, Einverleiben und Wiederausscheiden von Atemluft ist neben dem metabolischen auch ein sinnlich-ästhetisches Geschehen. Dem Herzen kommt neben der Versorgung des Organismus mit Blut, Wärme und Nährstoffen bzw. der Entsorgung von Schlackenstoffen auch die seelische Reagibilität auf die Umwelt und die Mitmenschen zu, sei es durch angeregt sympathetisches Mitschwingen, sei es durch angespannt stresshaftes Überreagieren. An der Wärmebildung durch den Blutkreislauf lässt sich neben einer vermehrten Stoffwechselaktivität auch ein intensiver engagiertes Wollen und Handeln ablesen, indem uns etwas «nicht kalt lässt» und wir auf die Anforderungen und Reize der Umwelt antworten.
Im Gegensatz zum cartesischen Dualismus von Geist und Materie – hier geistige Eigenschaften («Steuerprogramm») im Gehirn, da mechanisch seelenloser Körper («Maschine») – hat die Psychosomatik stets die Einheit von Ich (Geist), Seele und Leib betont. Entsprechend äussert sich auch der Hirnforscher Damasio in seinem Buch Descartes’ Irrtum:
«Geistige Phänomene lassen sich nur dann ganz verstehen, wenn wir die Wechselwirkung des Organismus mit seiner Umwelt einbeziehen. […] Ich glaube, dass der Restkörper für das Gehirn mehr leistet als nur Unterstützung und Modulation» (Damasio, 1997, S. 18).
Das Gehirn ist nicht der Sitz des Geistes, sondern – wie an anderer Stelle näher ausgeführt (vgl. Scheurle, 2016) – der Sitz weckender Schrittgeber und Auslöser, die den übrigen Leib und dessen Interaktion mit der Umwelt stimulieren. Das Begreifen und Verstehen der Welt, die sogenannte «Verarbeitung» von Erfahrung und Wissen, findet nicht im Gehirn, sondern im ganzen Leib, in der Wechselbeziehung seiner Organe mit der Umwelt statt. Der ganze Leib ist lernfähig, informiert, emotional, bewusst und handlungsfähig, nicht nur das Gehirn.
Das sagt auch die Sprache, wenn sie unter anderem auf die innere Nähe von «greifen» und «be-greifen» (Begriff), «stehen» und «ver-stehen», «Stand» und «Verstand» hinweist. Beispielsweise wird die wechselseitige Resonanzbeziehung von menschlichem Leib und Umwelt am Verhältnis zur Schwerkraft deutlich, gegenüber welcher jedes Körperteil, jeder ergriffene Gegenstand durch Bewegung und Haltung ins Gleichgewicht mit anderen gebracht, in die vertikale und die anderen Raumesrichtungen eingeordnet wird. Der Verstand setzt Dinge und Prozesse in Beziehung, die fundamental auf dem Stehen und damit der «Stellung» des Leibes zur Erde beruhen – somit ihr Zentrum im Leib und nicht im Gehirn haben.
Hand und Fuss treten in Resonanz zur Umwelt und sind dabei autonom im Dienste von Trieb und Gewohnheit, Gedächtnis und Vernunft tätig, die auch unser Denken leiten. Die Hand ist kein blosser Greifmechanismus, sondern ein selbstständiges, teil-autonomes senso-motorisches Handlungsorgan. Der Fuss ist kein ferngesteuerter Stehmechanismus, sondern ein selbstständiges Fühl-, Stellungs-, Haltungs- und Bewegungsorgan, das auf die Schwerkraft antwortet und uns die existenzielle Seinsgewissheit gibt:
«Die naheliegendste und grundlegendste Antwort auf die Frage wie wir in die Welt gestellt sind, lautet: Mit den Füssen. […] Die Gewissheit, dass der Boden, auf dem wir stehen, trägt, gehört zu den fundamentalsten Bedingungen der ontologischen Sicherheit» (Rosa, 2017, S. 83).
Den Verlust der tief begründeten Sicherheit des Standes durch schockhafte oder tragische Ereignisse, die der Verstand nicht mehr bewältigen kann, wird deshalb oft mit dem Bild ausgedrückt, «als werde uns der Boden unter den Füssen weggezogen» (ebd.).
Entsprechend haben die Körperglieder ein relativ selbstständiges Eigenleben, das unser primäres Leibempfinden, unser ich-haftes Daseinsgefühl fundiert. Brustkorb und Kehlkopf, Mund und Lippen usw. sind keine ferngesteuerten, sondern eigenaktive autonome Organe, die primär von sich aus zu den unterschiedlichen Leistungen des Atmens, Sprechens, Singens usw. befähigt und in entsprechende Resonanzbeziehungen eingeordnet sind. Wie sich etwa im Strömen des Ein- und Ausatmens eine gelingende, drückt sich in seinem Stocken die unterbrochene Resonanz aus: «Das sympathetische Anhalten des Atems (etwa wenn der Seiltänzer abzustürzen droht) ist dabei selbst Ausdruck eines sozialen Resonanzgeschehens» (ebd., S. 94).
Leibniz versus Descartes
Ein Konzept für das interaktive Verhältnis autonomer Leibesglieder hat Leibniz in seiner Monadenlehre formuliert (vgl. Leibniz, 1949 [1720]). Leibniz, Logiker, Mathematiker und als Philosoph der geistige Antipode Descartes’, sieht die Glieder des Leibes, die Bewegungs- und Sinnesorgane, als selbstständige und ganzheitliche Einheiten, sogenannte «Monaden» an (von griech. monas = eins). Sie sind eins mit der Seele, sowohl mit dem Unbewussten als auch mit dem bewussten Ich. Wollen, Empfinden, Erkennen sind keine abstrakt vom Leib abgesonderten Epiphänomene im Gehirn, sondern reale Wechselwirkungen der Leibesglieder mit der Umwelt sowie untereinander.
Im Sinne von Leibniz bestehen Leib und Willkürorgane nicht aus blosser Materie oder ausgedehnter Substanz (wie Descartes annimmt). Vielmehr haben sie selbst kognitive, sensitive und intentionale Eigenschaften. Im Gegensatz zum dualistisch hirngesteuerten Mechanismus der Willkürorgane bei Descartes kann man demnach von einem inneren Selbstsinn der Leibesglieder bei Leibniz sprechen.
Als eigenständige Leib-Seele-Geist-Einheiten stehen die organischen Monaden untereinander in einer hierarchisch abgestuften Wechselwirkung. Einerseits verfügen die Vollzugsorgane über eine gewisse Autonomie und Selbstständigkeit, andererseits gehen die niedrigeren wiederum in grösseren, übergeordneten Einheiten (Monaden) auf. So werden die Zellorganellen von ganzen Zellen, diese vom Gewebe, die Gewebe vom übergeordneten Organ, die kleineren Glieder von grösseren – wie zum Beispiel die Finger von der Hand – umfasst. Demnach sind Körperteile wie Hand, Arme und Beine, Auge und Ohr usw. relativ untergeordnete Monaden, die letztlich vom ganzen Menschen als grösster Einheit (Ich-Monade) umfasst werden.
Das System organischer Wechselwirkungen der Leibesglieder macht eine eigene Kommandozentrale, die vom Gehirn aus den Leib dirigiert, überflüssig. Ernst Sandvoss spricht daher von Leibniz’ Monadenlehre zutreffend als von «einem organologischen Ansatz, in dem der Gegensatz von Körper und Geist einer Unterordnung der niederen unter die höheren Geistmonaden weicht» (Sandvoss, 1978, S. 99).
Weil Fähigkeiten und Leistungen nach Leibniz’ Konzept nicht von den Willkürorganen isoliert werden können, sind sie auch nicht im Gehirn zu lokalisieren. So sind zum Beispiel die Fähigkeiten zum Gehen und Greifen, zur sexuellen Vereinigung, zur sozialen Fürsorge, zum Sprechen und Verstehen usw. zwar von Hirn- und Nervenfunktionen abhängig, gehen aber unmittelbar vom Leib aus bzw. entstehen im «Dazwischen» von Selbst, Umwelt und sozialen Partnern.
Die Leistungen der Organe sind Antworten auf die Umwelt: Der Schritt, den man geht, die Hand, die einen Gegenstand ergreift, das Auge, durch welches aus Farben, Licht und Schatten Bilder konstituiert werden, Worte, die man spricht, und Gedanken, die man innerlich bildet usw. sind Resonanzen auf die Umwelt mit mehr oder weniger musikalischem Charakter.
Hohlraumbildung und Devitalisierung als Bedingungen für Resonanz
Zur Verstärkung durch Resonanz gehören zwei Vorgänge, die polar zum produktiven Eigenleben des Organismus sind: Hohlraumbildung und Devitalisierung der Organe. Bei beiden Prinzipien wird das organische Wachstum und Eigenleben teilweise aufgeopfert. Stattdessen wird die Fähigkeit gewonnen, das Leben anderer Wesen in sich aufzunehmen, darauf zu antworten und eigene höhere Leistungen entsprechend abzuwandeln.
In den Hohlräumen tritt das Eigenleben der Organe zurück, was neue Funktionen ermöglicht, die für die Resonanzbildung essenziell sind (Resonanzräume von emotionaler und sozialer Lautäusserung, von Musik, Sprache und Gesang). Das Prinzip der Devitalisierung beinhaltet, dass das Eigenleben des Organismus gehemmt und auf ein geringeres Mass reduziert ist. Zu den Organsystemen mit eingeschränkter Vitalität gehören zum Beispiel das Schrittmacherorgan im Herz (Sinusknoten etc.) sowie das zentrale und periphere Nervensystem (Gehirn, Rückenmark, vegetative Nerven). Beim Herzreizleitungs- wie auch beim eigentlichen Nervensystem ist die Fähigkeit zur Eigenbewegung verloren gegangen. Zellteilung und -wachstum sind weitgehend reduziert, was für die Resonanzbildung im Bereich der Hirn- und Nervenfunktion essenziell ist. Dadurch sind Nervenzellen auf die Fähigkeit spezialisiert, Eigenrhythmen und Schrittgeber-Funktionen hervorzubringen, durch die sie mit der Umgebung besonders wirksam in Resonanz treten und kommunizieren können.
Aber auch die übrigen Leibesglieder produzieren aktiv und selbstständig Eigenrhythmen, die mit den neuronalen Schrittgebern gekoppelt sind (Ein- und Ausatmen, Gehen und andere Bewegungsformen etc.). Während in den zuvor genannten Organen die Reduktion der Vitalität dauerhaft ist, findet im übrigen Leib eine ähnliche, allerdings nur temporäre Devitalisierung statt – der Ruhezustand. Der Ruhezustand des Leibes geht mit reduzierter Lebensintensität einher, was für die Resonanzbeziehung mit dem Gehirn eine geeignete Ausgangslage darstellt.
Die Tatsache, dass im Organismus nicht nur Aufbau- und Wachstums-, sondern auch Hemmungs- und «Absterbevorgänge» stattfinden, begünstigt, wie gesagt, die Resonanz, spielt aber auch für die Trägheit sowie die Fähigkeit des Menschen zum Innehalten, zur Gelassenheit eine wesentliche Rolle. Was führt den Ruhezustand herbei? Hier bietet sich ein kleiner Ausflug in die Physiologie an, denn es ist etwas weiter auszuholen.
Die periphere Hemmung – der «Dornröschenschlaf» der Organe
Der Leib geht von selbst immer wieder in den Ruhezustand über. Die physiologische Grundlage dafür bildet die periphere Hemmung (vgl. hierzu Scheurle, 2009, 2016). An den Zellen der Organe bildet sich während des gesamten Lebens eine elektrische Spannung aus (das sogenannte Ruhe-Membranpotenzial, Polarisation), durch die sie inaktiviert und in den Ruhezustand versetzt werden. Um tätig werden zu können, müssen die Willkürorgane jedes Mal wieder durch neuronale Erregungen aus ihrem inaktiven Zustand geweckt (evoziert) werden. Damit nehmen die Organe die Interaktion mit der Umwelt auf, bis sie durch Einsetzen der peripheren Hemmung wieder in den Ruhezustand zurückkehren. Auf dem Prinzip der peripheren Selbsthemmung beruhen unter anderem körperliche Trägheit und Nicht-Tun, Warten und Pausieren, Entschleunigen und Verzögern, Ruhe und Schlaf.
Solange die Aktivität der Sinnes- und Bewegungsorgane gehemmt bleibt, fällt der Leib zunächst in eine Art «Dornröschenschlaf». Werden die Willkürorgane durch die Nervenerregungen geweckt, nehmen sie ihre spezifischen Aktivitäten spontan auf und antworten auf die Umwelt: Die Muskeln reagieren mit Depolarisation (Entladung) und bewegen sich. Die Hautrezeptoren antworten auf Druck bzw. Berührung, die Rezeptoren des Auges auf Licht, die Schallrezeptoren des Gehörs auf Töne und Geräusche usw. Bildhaft gesprochen: «Das Dornröschenschloss erwacht.» Kann der Ruhezustand nicht aufgehoben werden, weil ein Hirn- oder Nervenausfall vorliegt, bleibt die periphere Hemmung weiter bestehen: Der Organismus behält den inaktiven Zustand bei; er ist gelähmt und empfindungslos, taub und blind – unfähig zu jeder Form von Eigenaktivität und Resonanz auf die Umwelt.
Im Zentralnervensystem entstehen durch Lernen und Gewohnheit reaktionsbereite Nervenverbindungen2, welche die periphere Selbsthemmung durch neuronale Erregungen aufheben. Gliedmassen und Sinnesrezeptoren interagieren von selbst mit der Umwelt – vorausgesetzt die neuronale Weckung aus dem Ruhezustand funktioniert.
Auf der peripheren Hemmung beruht neben der Inaktivität und dem Nicht-Tun auch die Fähigkeit zur Negation, zum Nein-Sagen und Unterlassen. Ich kann Vorgänge abbrechen, die sich im Leib und im Gehirn schon angebahnt haben, indem ich die körperliche Trägheit nutze, loslasse und mich entspanne. Beim bewussten Unterlassen kommen primär die Leibesbewegung, sekundär auch die weckenden Gehirnprozesse zur Ruhe.3
Die Möglichkeit, Dinge sein zu lassen, nicht zu handeln, erscheint hierbei als der Schlüssel zur Willensfreiheit. Solange Lebewesen dem unbewussten Willen und Drang zum Leistungsvollzug unterliegen und von neuronalen Resonanzen getrieben werden, kann es keine Freiheit geben.4 Diese wird erst durch Nein-Sagen, «Negation des Willens» (vgl. Schopenhauer, 1851) bzw. durch Unterlassen, durch ein «Veto» (vgl. Libet, 2005) möglich. Aufgrund der Freiheit, eine Handlung zu negieren und zu unterlassen, kann man sie in einem zweiten Schritt auch wieder zulassen. Auf dem Umweg der doppelten Verneinung gibt es mithin auch eine Freiheit des Ja-Sagens.
Unterlassen entsteht nicht primär im Gehirn, sondern im ganzen Leib – überall dort, wo die periphere Hemmung den Ruhezustand herbeiführt. Wenn der Mensch eine anstehende Handlung unterlässt, erstirbt diese, was aber erst den Freiraum zu neuer Selbstwirksamkeit schafft. Willensfreiheit ist nur gegeben, wo man bereit ist, mögliche Akte zu unterlassen und von zwei möglichen Optionen eine aufzuopfern.
Die Vielzahl der Resonanzen im Zentralnervensystem – Spiegelneurone
Gehirn und Leib stehen in vielfältigen Resonanzbeziehungen: Das zentrale Nervensystem antwortet auf die Umwelt und weckt durch seine verstärkten Erregungen die Eigentätigkeit der Willkürorgane. Wird etwa die Kniesehne plötzlich gedehnt, antwortet das Rückenmark mit massiven Entladungen und die erregten Oberschenkelmuskeln kontrahieren sich (Patellarreflex). Werden die Sinnesorgane durch Licht oder Schall evoziert, entstehen in der Seh- und Hörrinde evozierte Potenziale (EP), Auge und Ohr werden stimuliert und treten durch ihre sinnesspezifischen Eigentätigkeiten in Interaktion mit der Umwelt.
Begegnen uns Ereignisse, die früheren Erlebnissen ähnlich sind, wird das Leibgedächtnis angeregt (s. u.); die beteiligten Organe geraten in innere Bewegung. Durch Resonanzen im Gehirn werden die sprachlichen, visuellen, gedanklichen und sonstigen Pfade zum Leibgedächtnis geweckt: «Ich erinnere mich».
Entsprechend kooperieren Gehirn und Leib auch beim bewussten Handeln und Bewegen durch Resonanz. Will man eine Handlung vollziehen, reagiert das Gehirn darauf mit einem sogenannten Bereitschaftspotenzial (BP), das die Exzitation der Organe vorbereitet. Die zerebralen Resonanzen treten schon vor dem Entschluss auf, das heisst, noch bevor der Mensch weiss, dass er gleich handeln wird. Sieht jemand zum Beispiel einen Apfel griffbereit vor sich, entsteht in ihm unbewusst die Intention danach zu greifen, auch wenn er es dann unterlassen sollte (Resonanz der sogenannten «kanonischen Neurone», vgl. hierzu Rizzolatti & Sinigaglia, 2008, S. 89, 136, 212; Iacoboni, 2009, S. 25ff.). Die Erregungsprozesse im Gehirn entstehen als neuronale Resonanz auf den unbewussten Willen zum Handeln, der sich als Interaktion mit der Umwelt im «Gestaltkreis» entzündet.5
Hier ist nun auf die schon erwähnte zweite Entdeckung der neueren Hirnforschung einzugehen, die sogenannten Spiegelneurone. Der eigentümliche «Resonanzmechanismus» (Rizzolatti) der Spiegelneurone ist zunächst bei Affen entdeckt worden, gilt aber ebenso für andere höhere Organismen (bzw. Primaten). Sieht ein Individuum einem anderen Mitglied seiner Gruppe etwa beim Essen, Kratzen oder Flüchten zu, wird die Aktivität einzelner Nervenzellen – eben der Spiegelneurone – induziert, die in ihm dieselben Regungen weckt. Die Aktivität der Spiegelneurone eines Individuums stellt eine Resonanz auf die Aktion des beobachteten Artgenossen dar bzw. spiegelt diese wider. Indem in den Mitgliedern einer Gruppe ähnliche Reaktionen geweckt werden, können die Spiegelneurone als «Organe der Empathie» verstanden werden (vgl. Rizzolatti & Sinigaglia, 2008; Iacoboni, 2009; Bauer, 2005).
Wir kennen die Neigung mitzulachen, mitzugähnen, mitzumachen usw., wenn ein Anderer etwas tut:
«Wenn wir z. B. ein lächelndes Gesicht sehen, ahmen wir unbewusst das Lächeln nach, zumindest in Form einer leichten Muskelaktivierung – die Entdeckung des Spiegelneuronensystems hat diese Imitationstendenz auch auf neuronaler Ebene bestätigt. Ausdruck übersetzt sich also in Eindruck, in eine Wahrnehmung, die wiederum mit subtiler eigenleiblicher Resonanz verbunden ist» (Fuchs, 2014, S. 6).
Die synchronisierenden Vorgänge im Gehirn bei der Erkenntnisfunktion sind oben bereits beschrieben worden. Mit der Übereinstimmung der Resonanzen im Gehirn und denen des Erlebens schliesst sich der Kreis zu den eingangs geäusserten Überlegungen: Ist der Mensch in responsive, resonante Weltbeziehungen eingebettet, vermag er eine gelingende Selbstwirksamkeit zu erfahren. Umgekehrt entspricht fehlende Resonanz bzw. Desynchronisierung der Hirnrhythmen einer unzureichenden Umweltkohärenz: Kann der Mensch nicht mit der Welt mitschwingen, bleibt sie ihm verschlossen, stumm und er sich selbst unverständlich, fremd.
Gedächtnis und Resonanz
Zwischen Gedächtnis und Resonanz besteht ein unmittelbar plausibler Zusammenhang. Im Gedächtnis forscht der Mensch nach Kontinuität in der Welt, nach einem übereinstimmenden Zusammenhang des Ganzen. Das Ganze tritt aber nicht in den Einzelheiten, sondern immer nur in ihrem Zusammenklang auf. Gelingendes Erinnern ist ein Grunderlebnis der Resonanz. Besonders bewegend sind die Erinnerungen an wesentliche biografische Momente, wie sie in einem intimen persönlichen und im therapeutischen Gespräch erfahren werden können.
Erinnern ist kein Aufrufen bereits vorhandener, im Gehirn abgespeicherter Informationen, die schon fix und fertig da wären, sondern ein konstruktiver Prozess, bei dem Gedächtnisinhalte – stets etwas verändert und jedes Mal wieder neu – hervorgebracht werden.
Gedächtnisleistungen gehen nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Leib und dessen Gestaltungspotenzen hervor. Das Gedächtnis hat seinen Entstehungsort im ganzen Leib, in jeder Körperzelle, daher spricht man mittlerweile auch vom Leibgedächtnis bzw. «embodied memory» (vgl. hierzu Fuchs, 2008, S. 26). Das Gehirn ist dabei zwar als Auslöserorgan für Wiedererkennen und Erinnern beteiligt, ohne dass jedoch der Gedächtnisvorgang selbst in ihm stattfinden würde. Beim Erinnern werden die ehemals beteiligten Gliedmassen und Sinnesorgane, oft der gesamte Leib in inneres Mitschwingen versetzt, wobei frühere Ereignisse und Empfindungen mehr oder weniger intensiv wachgerufen werden.
Nach Piaget (2003, S. 189) gibt es zwei Arten der Gedächtnisleistung: Erinnern und Wiedererkennen. Erinnerungen sind Gedächtnisleistungen bei abwesendem, Wiedererkennen bei anwesendem Gegenstand. Erinnerungsvorstellungen sind in der Regel bewusst und deklarativ (sogenanntes episodisches Gedächtnis). Wiedererkennen erfolgt dagegen meist unbewusst und implizit – oft ohne überhaupt zu bemerken, dass hier eine Gedächtnisleistung vorliegt.
Vergisst (oder verliert) man Dinge, geht die Kontinuität von Selbst und Umwelt teilweise verloren, der Lebenszusammenhang scheint vorübergehend gerissen. Noch mehr als das Vergessen, bei dem die Erinnerung durch Überlagerung aktiv gehemmt wird, ist unbewusstes Verdrängen ein aktiver Vorgang (vgl. hierzu Freud, 1911; Hofstätter, 1973). Traumatische Ereignisse und ihre schmerzhaften Komponenten werden dabei aus dem Gedächtnis verdrängt. Aufgrund unbewusster Verdrängung wird zwar der Schmerz vermieden, doch da der Patient mit der erlittenen Kränkung weiterleben muss, macht sich die gestörte Umweltkohärenz nun in Form körperlicher Beschwerden bemerkbar (Somatisierung).
Das therapeutische Gespräch als Beispiel einer gelingenden Resonanzbeziehung
Das gelingende Gespräch ist ein Gipfel menschlichen Kulturlebens. Ein gutes Gespräch hängt von der Resonanz zwischen beiden Partnern ab. Es besteht weder nur im Austausch von Informationen, noch im blossen Wortwechsel zweier Menschen zum Austausch von Nachrichten oder Mitteilungen des einen an den anderen. Es konstituiert vielmehr eine lebendige Wechselbeziehung zwischen beiden Partnern, bei der die Resonanz eine entscheidende Rolle spielt. Das blosse Mitteilen und Informieren ist noch kein Gespräch, sondern häufig eine Einbahnstrasse, oft mit sozialem Machtgefälle: Wer «das Sagen hat», teilt sich dem Anderen mit, der es anhört und das Gesagte zu verstehen und möglichst zu befolgen hat. Überall dort, wo wissenschaftliche, wirtschaftliche oder machtpolitische Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, leidet das eigentliche Gespräch.
Das Verstummen resonanter Weltbeziehungen – trotz oder gerade wegen der Fülle kommunikativer Medien – scheint damit zu tun zu haben, dass ein massiver Einbruch von Macht in den Alltag der heutigen Bürger das echte Gespräch behindert oder blockiert. (Beispiele eines solchen Machtgefälles, die zur Einschränkung von Gesprächsmöglichkeit führen, sind etwa die Isolierhaft oder auch das Erstattungsgebaren von Krankenkassen!)
Umso bedeutsamer erscheint, dass jedes echte Gespräch – mit den Worten Goethes (1977, S. 375) – «erquicklicher als das Licht» ist. Das Gespräch ist selbst die Urform einer Therapie, nicht nur als Mittel zur Diagnosestellung, sondern auch als Therapieform selbst. Trifft eine Frage den entscheidenden Punkt von Krankheitsgenese und Biografie, kommt es oft zu einer magischen Resonanz: Die Gründe des Leidens enthüllen sich beiden, Therapeut und Patient übereinstimmend und gemeinsam, oft gleichzeitig. Resonanz in geglückter Koinzidenz beider Partner hat nach meiner ärztlichen Erfahrung wesentlichen Anteil am gelingenden therapeutischen Prozess.
Verborgene Krankheitsstufen freilegend, kommt es so stets wieder zu neuen Erkenntnissen und Diagnosen. So liegt hinter einer psychosomatischen oder psychischen Störung, einer Anpassungsstörung, einem Trauma usw. oft ein konflikthaftes Beziehungsmuster, dahinter ein Familiendrama. Wie kommt der Therapeut aber darauf, dass der zuletzt erhobene Befund nicht der entscheidende und wohl noch nicht der letzte Fund ist? Er spürt es durch Resonanz im eigenen Erleben. So formuliert der amerikanische Psychiater J. C. Nemiah (1989):
«Wir selbst sind das Instrument, das die Tiefen der Seele des Patienten sondiert, das mit seinen Gefühlen mitschwingt, seine verborgenen Konflikte entdeckt und die Gestalt seiner wiederkehrenden Verhaltensmuster erkennt» (zit. n. Fuchs, 2016, S. 14).
Literatur
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Psychosomatic Approaches in Psychotherapy
Based on new research approaches the term resonance will be illuminated in regard to its relevance for psychosomatics. The following reflections will take into account body-phenomenology from medicine, neural synchronisation as well as mirror neurons from neurophysiology, essential amplification of oscillations through resonance from physics and «answers» and the «silent» world relationship by H. Rosa from sociology. A theory of world relationships through resonance is indicated and illustrated by examples.
It will be shown that the resonance theory can illuminate psychosomatic core terms. Thus, for example, it can explain the unity of body and soul (e. g. mind or I), body memento and memory, which illustrate the dynamics of the environment as resonance space of the senses as well as the idle state (pause, non-action).
The integration of resonance processes for brain function is of particular importance. Instead of a brain theory, which mystifies and projects the mind into nerve networks, the mind is present throughout the body and in every cell. Not the dualism of body and mind by Descartes but the body-mind-spirit-unity (monad) in respect to Leibniz is an appropriate approach: Brain and body are not in a causal but a partner-like relationship. Therefore, the theory of a centralised cerebral control function should be replaced by a theory of brain resonance (Comparison, e. g. Buzsáki [2006] as well as Hahn et al. [2014]).
Key words: Law of attraction, Gestaltkreis, Body-Soul-Spirit-Unity, Leibniz vs. Descartes, Brain Theory, Brain as a Resonant Organ, Body Memento
Approcci psicosomatici in psicoterapia
A seguito di nuovi approcci di ricerca è stato esposto nella sua rilevanza per la psicosomatica il concetto di risonanza. Dalla fenomenologia del corpo, dalla neurofisiologia vengono compresi nelle riflessioni la sincronizzazione neuronale e i neuroni a specchio, dalla fisica il potenziamento delle vibrazioni tramite risonanza, dalla sociologia la relazione col mondo «risonante» e «muta» (Rosa). Viene abbozzata una teoria della relazione col mondo nei fondamenti e provata con esempi.
Si dimostra che importanti concetti di base della psicosomatica possono essere chiarificati mediante une teoria della risonanza. In questo modo nella sua dinamica vengono spiegati ad esempio l’unità corpo e anima (o spirito e Io), memoria corporea e ricordo, ambiente come spazio di risonanza del senso e infine stato di riposo (pausa, non-azione).
Un significato particolare il coinvolgimento dei processi di risonanza per la funzione del cervello. Contrariamente alla teoria del cervello, che proietta lo spirito nelle reti neuronali in modo mistificatorio, esso è presente nell’intero organismo e in ogni cellula. Quindi un adeguato approccio mentale non è il dualismo di corpo e mente nel senso di Cartesio, bensì l’unità corpo-anima-spirito (monade) nel senso di Leibniz: il cervello e il resto dell’organismo non stanno in una relazione di causa ed effetto, bensì in un rapporto di collaborazione. La teoria che parla di una funzione di controllo del cervello dovrebbe pertanto in futuro essere sostituita da una teoria della risonanza del cervello (Cfr. Ad es. Buzsáki [2006] e Hahn et al. [2014]: la comunicazione tra «reti deboli e remote» funziona solo «mediante risonanza»).
Parole chiave: principio di risonanza, circuito della Gestalt, unità corpo-anima-spirito, memoria del corpo
Der Autor
Dr. med. Hans Jürgen Scheurle ist Physiologe und Arzt, Autor und Dozent in Badenweiler (D). Studium der Medizin in München und Marburg/Lahn. Ehem. Doktorand und wiss. Assistent am Institut für Physiologie der Universität Marburg. Hauptforschungsgebiet ist die Phänomenologie der Sinne und die Funktion des Gehirns. Seminare zur Wahrnehmungsschulung. Konzept eines Parks der Sinne in Badenweiler (eröffnet 2011). – Lehre in Embryologie und medizinische Ethik u. a. in Stuttgart, Fulda und Basel. Fortbildung und Supervision für Psychosomatik an der Klinik Lahnhöhe (D).
Kontakt
Hans Jürgen Scheurle
D-79410 Badenweiler
Unterer Kirchweg 13
www.sinnespark.de
sinnespark@t-online.de
1 Vgl. z. B. Buzsáki (2006) sowie Hahn et al. (2014): Die Kommunikation über «weit entfernte und schwache Netzwerke» funktioniere nur «durch Resonanz».
2 Damasio (1997, S. 150) spricht diesbezüglich von «dispositionellen Repräsentationen» – auch das Bild des «Dornröschenschlafes» wird von ihm in diesem Zusammenhang aufgegriffen –, Fuchs (2013, S. 165) spricht von «offenen neuronalen Schleifen».
3 Wie Libet (2005) gezeigt hat und neuere Forschungen von Haynes et al. (2015) bestätigt haben, wirkt der Vorgang des Unterlassens vom Leib auf das Gehirn zurück, indem es das sogenannte Bereitschaftspotenzial (BP) unterdrückt, das damit unwirksam bleibt (vgl. hierzu auch Scheurle, 2017a).
4 Die Selbsthemmung ist ein peripherer Vorgang in den Willkürorganen (bedingt durch den Aufbau des Ruhe-Membranpotenzials), der dem bewussten freien Unterlassen zugrunde liegt. Er ist von der neuronalen Inhibition als erworbener Leistung zu unterscheiden, wodurch Akte unbewusst gehemmt werden (vgl. Scheurle, 2016, S. 129ff.). Die neuronale Inhibition liegt der unbewussten Unterdrückung und Selektion von Akten zugrunde, während man beim freien Unterlassen die Selbsthemmung des Leibes nutzt und die angespannte Muskulatur wieder loslässt, womit etwa die schon erhobene Hand wieder herabsinkt.
5 Das haben die Versuche zum Bereitschaftspotenzial (BP), ergeben (vgl. Libet, 2005). Vor jeder bewussten oder unbewussten Spontanhandlung wird im Gehirn ein erhöhtes elektrisches Potenzial beobachtet, das der Handlung schon 1–0,5 sec vorhergeht. Das Erstaunliche dabei ist, dass dieses Potenzial auftritt noch bevor dem Akteur bewusst wird, dass er jetzt gleich handeln wird. Das Bereitschaftspotenzial bereitet zwar das Handeln vor, ist aber nicht seine Ursache, die unbestimmt, kontingent bleibt. Lebendige Eigenbewegungen haben keinen eigentlichen Anfang (im Gestaltkreis gibt es keine eigentliche erste Ursache der Bewegung; vgl. hierzu Scheurle, 2017b, Kap. B.6).