Körperspannung als Schutzmechanismus

Eine bioenergetische Perspektive der Emotionsregulation

Vita Heinrich-Clauer

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (2) 29–35 2017

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CC BY-NC-ND

Zusammenfassung: Emotionales Erleben und Verhalten wird unter anderem auf der expressiv-motorischen Ebene verarbeitet, besonders Angst und Ärger wirken Muskeltonus steigernd und konstriktiv. Infolge von Entwicklungstraumen entstehen chronische muskuläre Spannungsmuster, die als Schutz einer Person gegen Angst und Schmerz zu sehen sind (Bioenergetische Analyse). Sichere soziale Beziehungen (freundlicher Blick, beruhigende Stimme, Körperkontakt) wirken über den ventralen Vagus entspannend und beruhigend (Polyvagal-Theorie). Ebenso wirken motorische und vokale Expression von primären Emotionen beruhigend auf den Muskeltonus.

Schlüsselwörter: Emotionale Regulation, Muskeltonus, Charakterstruktur, motorische und vokale Expression, Polyvagal-Theorie, sicherer Kontakt

1. Einleitung – Emotion und Körper

Emotionale und körperliche Prozesse sind aufs Engste verwoben. Auf der Suche nach Konzepten zur psychosomatischen Emotionsregulation blieben wir auf dem Feld der akademischen Psychologie lange ohne Antwort auf die so offenkundige Frage nach dem Zusammenhang von Emotion und Körper. Mittlerweile bereichern uns auf dem Gebiet der Emotionspsychologie und im psychosomatischen, klinischen Bereich Forschungsergebnisse der Neurobiologie. Neurobiologische Emotionstheorien gehen davon aus, dass emotionales Erleben und Verhalten unter anderem auf der expressiv-motorischen Ebene verarbeitet wird (vgl. u. a. Damasio, 2003; Koemeda, 2009, 2012).

Affektregulation geschieht nicht nur auf der muskulären, biochemischen, hormonellen Ebene. Unser Herz steht neuroanatomisch in Verbindung mit Gesichtsausdruck, Stimmklang und -melodie, was sowohl im metaphorischen Sinne als auch der Polyvagal-Theorie folgend für das Sicherheitsempfinden eines Menschen und die emotionale Zuwendung zur sozialen Welt eine wichtige Voraussetzung darstellt. Ein freundliches Gesicht und eine beruhigende Stimme wirken über die Aktivierung des Ventralen Vaguskomplexes (VVC) beruhigend (vgl. hierzu Porges, 2010).

Definitionen von «Emotionen» und «Gefühl» werden auf den Körper bezogen: Emotionen sind «Handlungen oder Bewegungen, die grösstenteils öffentlich und sichtbar für andere sind, während sie sich im Gesicht, in der Stimme und in bestimmten Verhaltensweisen manifestieren» (Damasio, 2003, S. 38). Und Gefühle sind «die Wahrnehmung eines bestimmten Zustands des Körpers in Verbindung mit der Wahrnehmung einer bestimmten Art des Denkens und solcher Gedanken, die sich mit bestimmten Themen befassen» (ebd., S. 104).

Emotionen sind sowohl bei der Wahrnehmung und Speicherung emotionaler Inhalte als auch im Hinblick auf motorische und vokale Expressivität an Körperprozesse gekoppelt. Charakterstrukturell zeigen sich spezifische Ängste und muskuläre Schutzmechanismen (vgl. Reich, 1981; Lowen, 1985). Bestimmte Körperhaltungen und Bewegungen haben auch umgekehrt einen Einfluss auf unsere aktuelle Stimmung und langfristig auf emotionale Muster des Kontaktes zur Welt (vgl. hierzu Storch et al., 2006). Über die Spiegelneurone zeigen wir somatische Resonanz auf andere Menschen, reagieren auf deren Bewegungen und Emotionen. Wenn wir zum Beispiel ein Fussballspiel oder eine Tanzaufführung verfolgen und mit den Akteuren sehr identifiziert sind, können bei uns Beobachtern im prämotorischen Kortex ähnliche Aktivierungen zur Innervation der Beinmuskulatur gemessen werden. Soziale und körperliche Systeme der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung sind verbunden. Kränkungen und verletzte Gefühle werden genauso erlebt wie eine körperliche Empfindung von Schmerz (vgl. Bauer, 2011). Tiefe Atmung und motorische, vokale Expression unterstützen die Schmerzbewältigung. Die Selbstberuhigung und Beruhigung des Anderen in bedrohlichen Situationen ist eine weitere besondere Funktion der Stimme. Es besteht Konsens darüber, dass jede Emotion an eine Erregung geknüpft ist. Siegel (2006) spricht sogar von «Energie-Fluss» – ein ursprünglich neo-reichianischer Begriff. Die Emotion steuere «den Fluss der Aktivierung (Energie)» (Siegel, 2006, S. 291). Hier erfährt die Bioenergetische Analyse nach Jahrzehnten eine neurowissenschaftliche Anerkennung bezüglich des Konzeptes «Energiefluss» und der emotionszentrierten Arbeit, eine «Rehabilitation» des Energiebegriffes. Wir finden den Begriff des «Aufruhrs», womit das Veränderungspotenzial von intensiven Emotionen bzw. die energetische, körperliche Komponente der Emotion gemeint ist. Emotionen seien «immer Übergang und Aufruhr, manchmal erdrutschartige Veränderungen des Körperzustandes» (Damasio, 2005, S. 79). Sie gehen den Gefühlen voraus, die im Bewusstsein aus ihnen entstehen. Geuter (2006) betont, «dass hohe Gefühlsintensität von großem therapeutischen Wert für die Umstrukturierung emotionaler, affektmotorischer Schemata sein kann» (Geuter, 2006, S. 261f.). Andererseits finden Veränderungen am ehesten statt, wenn Impulse in einer emotionalen Mittellage gesetzt werden, ohne zu sehr von Angst- und Aggressionsaffekten aufgeladen zu sein (vgl. hierzu Oelmann, 2009, S. 174). Eine vertrauensvolle Beziehung und – wenn indiziert – Körperkontakt reduzieren Angst, Schmerz und erhöhten Muskeltonus und ermöglichen das Durcharbeiten und Flexibilisieren der Verhaltens- und Erlebensmuster von Patienten.

2. Bioenergetische Analyse

2.1. Funktionalität somato-psychischer Schutzmechanismen

Das klinische Erfahrungswissen der Bioenergetischen Analyse – ein biografisches körperorientiertes Psychotherapieverfahren (in der Tradition von Wilhelm Reich und Alexander Lowen) – lehrt uns seit den 50er Jahren, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen emotionalen und somatischen Mustern der Verarbeitung von Kindheitserfahrungen.

Chronische Muskelspannung als Schutz. Erstmals sprach Reich in Bezug auf emotionale Schutzhaltungen von der «funktionalen Identität von Körper und Seele» und nannte die chronischen Spannungen «Muskelpanzer» (vgl. Reich, 1981). Damit ist ein neurotischer Mechanismus chronischer Muskelspannung als Schutz gegen Angst und emotionalen Schmerz gemeint, der häufig nicht bewusst ist und auch nicht willkürlich gesteuert wird. Dieser führt aufgrund einer mangelnden Motilität der Muskulatur zu reduzierter Emotionalität (in Wahrnehmung, Ausdruck und Kontrolle), wodurch die Kontakt- und Bindungskapazität eines Menschen eingeschränkt wird. Das gilt auch generell für die Bewältigung von Stress und Trauma (vgl. Lowen, 1985; Heinrich-Clauer, 2008). Gefühle, für die es keinen emotional-motorischen Ausdruck gibt, weil wir uns durch Gedanken oder unbewusste Ängste kontrollieren oder uns ein einfühlsames bzw. begrenzendes Gegenüber fehlt, werden als Muskelanspannung im Körper festgehalten. Je nach Qualität des blockierten Gefühlsausdrucks werden verschiedene funktionelle Einheiten des Körpers angespannt und gehalten, welche nicht unbedingt im engeren Sinne anatomisch verbunden sind. Jeder Mensch zeigt spezifische Haltungs-, Ausdrucks- und Bewegungsmuster, die je nach biografischer Erfahrung von Defiziten, Traumata oder Konflikten auf spezifischen muskulären Spannungsmustern basieren. Die Exploration dieser Verspannungsmuster kann in der Therapie Aufschluss über die zugrundeliegenden impliziten Erinnerungen und emotionalen Erfahrungen geben (vgl. Punkt 3).

2.2. Atmung und Emotionalität

Atmung ist der zentrale Schlüssel, um Gefühle wahrzunehmen und über die Stimme zum Ausdruck zu bringen. Die Atmung bewegt die Resonanzräume des Körpers und diese Dynamik ist beteiligt daran, Emotionen zu entwickeln, zu halten und zum Ausdruck zu bringen.

Im Hinblick auf die Gefühlskontrolle spielen insbesondere das Zwerchfell und der Kiefer (der Masseter) eine grosse Rolle, von Lowen als «Fallgitter der Persönlichkeit», als Schlüssel für alle übrigen Sperrmechanismen im Körper gesehen (vgl. Lowen, 1979).

Es gibt drei funktionelle (keine anatomischen!) Einheiten, in denen chronische Spannungen Spannungsringe entwickeln können, die verengen und den vollen Ausdruck der Gefühle verhindern können (ebd., S. 241f.)

Mund und Kiefer. Ein fester oder geschlossener Mund, ein verspannter Kiefer kann jede Kommunikation von Gefühlen blockieren. Bei Unterdrückung der emotionalen Expressivität wird die Stimmvariabilität eingeschränkt, indem unter anderem die Spannung in der Kehlkopfmuskulatur steigt. Hier gibt es über den Vagus eine neurale Verbindung vom limbischen System zur quergestreiften Kehlkopfmuskulatur. Die Unfähigkeit, spontan und adäquat auf die Umwelt zu reagieren, wird selbst zur Quelle von chronischem Stress (vgl. Sonntag, 2003, S. 56).

Verbindung von Kopf und Hals. Hier liegt der Übergang von der willkürlichen zur unwillkürlichen Kontrolle: Der Rachen und der Mund liegen vor dieser Zone, Speise- und Luftröhre dahinter. Dinge, die man nicht schlucken will, werden hier kontrolliert. Gleichzeitig ist es ein unbewusster Abwehrmechanismus gegen den Ausdruck von Gefühlen, die man als nicht akzeptabel fürchtet. Die Spannung beeinträchtigt ebenso die Atmung und trägt auch zu Angstgefühlen bei.

Verbindung von Nacken und Thorax. Dieser Spannungsring (vor allem vordere, mittlere und hintere Scalenus- bzw. Rippenhalter-Muskeln) bewacht die Öffnung des Brustkorbes und somit des Herzens. Wenn diese Muskeln chronisch kontrahiert sind, wölben sie sich hoch und machen die oberen Rippen unbeweglich, wodurch die Öffnung zur Brust verengt wird. Weil dadurch die natürlichen Atembewegungen behindert werden, kommt es ebenso zu einer Beeinträchtigung der Stimmproduktion.

2.3. Chronische Muskelspannung – Angst und Ärger

Unter Stressbedingungen reagiert unser Körper mit Bereitstellungsreaktionen für Kampf, Flucht oder Immobilisation.

Angst führt zur Kontraktion der Muskulatur, Erhöhung der Herzschlagrate, Steigerung der Atemfrequenz bis zur Hyperventilation. Es zeigt sich erhöhte Fluchtbereitschaft, manchmal Bewegungsdrang bis hin zur Agitiertheit. Bei grosser Angst und Hilflosigkeit kommt es zum Anhalten des Atems und zur Erstarrung. Der Körper verliert in beiden Fällen an lebendiger Vibration und Motilität, wodurch eine emotionale Einengung bewirkt wird. Das innere Erleben, Motorik und Ausdruck zeigen ein Anhalten, Innehalten oder Zurückhalten, Hilflosigkeit.

Aus der Praxis

Eine Kollegin in Ausbildung berichtet in einer Selbsterfahrungsgruppe von Schlaflosigkeit. Sie habe aus Angst vor ihren ersten Beratungsstunden zwei Nächte nicht schlafen können und sei von Zweifeln an ihrem Können geplagt gewesen. Auch hier im Seminarhaus habe sie nicht schlafen können. Bei einer ersten Körperdiagnose ihres Haltungsmusters im Stehen fallen die hochgezogenen, verspannten Schultern und der ängstliche Augenausdruck auf. Sie berichtet über das Symptom der «Frozen Shoulder». In der körperorientierten Aufstellung der dazu gehörigen biografischen Szene entwickelt sich ein Bild von ihren drei älteren Brüdern, die ihr auf der Schulter lasten und sie runterdrücken. Diese hätten sie häufig mit Streichen geängstigt und sie gequält: Sie erinnert, wie sie mit vier Jahren im Dunkeln über den Hof auf das Plumpsklo gegangen sei und während sie dort alleine sass, hätten die Brüder das Licht ausgeschaltet. Sie habe fürchterliche Angst gehabt und geschrien. Ihre Eltern hätten das böse Spiel und ihre Not nicht bemerkt. Heute als Erwachsene könne sie nicht schreien und fühle sich bei Überforderung im Körper eingesperrt. Während der Arbeit an der Szene traut sich die Kollegin nach und nach, ihre Stimme zu erheben und mit zunehmender Lautstärke zu rufen «Hört auf!», bis sie einen fulminanten Schrei ausstösst, der den Raum füllt. In der Folge entspannt sich ihre Schultermuskulatur, ihre Angst erfüllten Augen ebenso. In der Nacht darauf kann sie im Seminarhaus gut schlafen. – Wieder zuhause praktiziert sie regelmässig das Schreien während Autofahrten auf dem Weg zur Beratungsarbeit und berichtet, dass sie wieder schlafen könne.

Aggression. Seit Beginn der 50er Jahre ist aus der Psychosomatik-Forschung durch die Arbeiten von Alexander bekannt, dass besonders unterdrückte Impulse der Selbstbehauptung oder unterdrückte feindselige Impulse direkte physiologische Auswirkungen haben und Ursache somatischer Symptombildung sind. Seitdem wurde eine Vielzahl derartiger psychosomatischer Zusammenhänge empirisch belegt (vgl. Heinrich, 1986).

Bei Wut und Ärger werden Atem-, Herzschlagfrequenz sowie Muskeltonus erhöht. Ärger ist eine annäherungsorientierte Emotion, das heisst der Körper wird aktiviert, damit wir uns mit einem Gegner auseinandersetzen können. Eine bewusst zurückgehaltene Wut lässt uns die Kiefer-, Nacken-, Rücken- oder auch die Streckmuskulatur der Beine schmerzhaft empfinden, weil wir die bissige Bemerkung nicht machen, die Faust nicht erheben und unserem Gegenüber auch keinen Tritt verpassen. Eine so bewusst empfundene Wut können wir situationsangepasst vielleicht später durch entsprechende Bewegung und Expressivität wieder in einen Zustand der muskulären Entspannung überführen. Eine nicht bewusste chronische Muskelanspannung in den entsprechenden Körperregionen kann jedoch auf eine charakterstrukturelle Haltung wie übermässigen Stolz, generelle Rigidität, Konflikt- und Kontaktvermeidung hinweisen, die mit Kindheitserfahrungen wiederholter Ohnmacht und Demütigung zusammenhängen. Eine manifeste Kieferspannung, die sich in einem dauerhaft trotzigen Gesichtsausdruck zeigt, sozusagen zum Wesensausdruck einer Person gehört, unterscheidet sich von einer situativ bewussten Entscheidung einer ansonsten emotional lebendigen Person, im Moment nicht weinen oder schimpfen zu wollen. Diese Entscheidung umsetzen zu können, setzt jedoch wiederum eine gewisse Ich-Stärke und (muskulär-tonische) Selbstkontrolle voraus, was uns einen Hinweis auf die Reifestufe der Person geben kann.

2.4. Muskuläre Traumareaktionen

Dysregulation der Erregung. Traumatisierte sind anfällig für entweder zu starke Aktivierung (Hyperarousal) und/oder zu geringe Aktivierung (Hypoarousal) – oder sie pendeln zwischen diesen beiden Extremen. Es kann so zu Überflutung von Affekten, Empfindungen und Erregung (Intrusion) oder aber zu einem Mangel an Empfindungen und Emotionen, Taubheit, Leere, Passivität kommen. Die Gefahr ist gross, dass sie durch eigentlich völlig normale Veränderungen des Erregungsgrades aus dem Gleichgewicht gebracht werden: «Sowohl neurochemische Prozesse als auch Emotionen werden aktiviert, um bestimmte Körperhaltungen und -bewegungen hervorzurufen, die dem Schutz, dem Angriff und der Verteidigung dienen sollen» (Odgen et al., 2010, S. 19). Tabelle 1 zeigt muskuläre Reaktionen, die durch Traumata bedingt werden können, beobachten wir in der Körperpsychotherapie (vgl. Clauer & Heinrich, 1999).

Tabelle 1: Verkörperte Erinnerungen und muskuläre Körperabwehrmuster

  • Augenring-, Schädelbasis- und Nackenmuskulatur, Schultergürtel halten Angst, Schrecken und Terror

  • Gefühlskontrolle über Regulierung der Atmung und Stimme, indem das Zwerchfell hochgezogen und immobilisiert wird

  • Kiefer und Kehle sind festgehalten, so dass sowohl die weichen verletzlichen, traurigen Gefühle (das tiefe Schluchzen) als auch die aggressiven Ausdrucksformen, wie Beissen, Zähne zeigen (Drohen), Schreien nicht möglich sind

  • Handgelenke oft unbelebt, ungelenk, unfähig zu einer abwehrenden Geste oder zum Festhalten

  • Füsse und Beine in den Gelenken «eingefroren», die erlebte Unfähigkeit wegzulaufen oder für sich selbst einzutreten, zu protestieren

  • bei Patienten, die geschlagen wurden, hart verspannte Muskeln in Rücken und Gesäss sowie eine erhöhte Wachsamkeit im Rücken, verbunden mit der Unfähigkeit sich anzulehnen, zu überlassen

  • bei sexuell missbrauchten Patienten finden sich tiefe Verspannungen im Becken, in der Leistengegend, im Kreuzbein, Beckenboden

  • Verspannung der Ileo-Psoas-Muskulatur

Ileo-Psoas-Muskel. Während jeder traumatischen Erfahrung wird die Streckmuskulatur gehemmt, sodass die Beugemuskulatur kontrahieren kann. Dies erlaubt dem Körper, die Extremitäten zusammenzuführen, wodurch «eine Art geschützter Raum erzeugt wird, der ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, und wobei die weichen, verletzlichen Körperteile, die Genitalien, die lebenswichtigen inneren Organe und der Kopf mit Augen, Ohren, Nase und Mund geschützt werden» (Berceli, 2010, S. 150). Dieses System wird über die Psoas-Muskelgruppe – die Kampf-Flucht-Muskeln des menschlichen Tieres – in Bewegung gesetzt. Diese verbinden als einzige Muskelgruppe den Rumpf, das Becken und die Beine miteinander.

3. Entwicklungstraumen – Charakterstrukturmodell

Je nach Entwicklungsphase und der Art der zu bewältigenden emotionalen Krisen, den erschwerten oder verhinderten Reifungsschritten, können unterschiedliche Strukturen und Organisationsmuster entstehen. Hier sind insbesondere die nicht bewussten somato-psychischen Schutz- und Abwehrmechanismen von Interesse, die über Muskelspannung helfen, Frustration, (Todes-)Angst und Schmerz zu bewältigen. Diese emotionalen Muster spiegeln sich in Mimik, Gestik, Stimmklang, Körperhaltung, Bewegungs- und Atemmustern. Die Differenzierung von strukturell schwachen sowie besser strukturierten Patienten kann – neben der Beachtung von Beziehungsmustern, die sich im Kontakt zwischen Therapeut und Patient zeigen – auch über die Körperdiagnostik von autonomen Erregungs- und muskulären Spannungsmustern geschehen. Es kann sowohl zu einer hypertonen als auch zu einer hypotonen Lösung im Sinne der somato-psychischen Selbstorganisation kommen.

Die emotionale Haltekraft kann zu starr ausgeprägt sein, sodass wir emotionale Taubheit, Leere, «Eingefrorensein», Spaltung zwischen Kopf und Körper im Sinne von übermässigem Denken und mangelndem Gefühl sowie fehlende somatische und emotionale Resonanz auf andere im Kontakt zum Patienten erleben können (schizoide Lösung, s. Tabelle 2).

Tabelle 2: Schizoide Struktur (prä-, peri-, postnatal): Fragmentierung

Genese

Emotionale und/oder körperliche Abwesenheit der Eltern – keine Existenzbejahung des Kindes

Angst

Vor Auseinanderfallen, Nähe und Kontakt

Vernichtungsangst

Emotion

«Nein» zur sozialen Welt

Distanz

Misstrauen

gedankliche Kontrolle («Ich denke, also bin ich»)

Körper

Kontraktion, Zusammenhalten

energetischer Rückzug ins Körperinnere

Kopf-Körper-Trennung (Cephalic Shock)1

misstrauischer, desinteressierter Blick

«eingefrorene», blockierte Fuss-, Knie-, Hand-, Schultergelenke

Tabelle 3: Orale Struktur dependent (1. Lebensjahr bis zum Abstillen, Laufen lernen): Kollaps1

Genese

Deprivation

Verlassenheit

Angst

Vor Ausgreifen und Selbstbehauptung

Vor Verlassen-Werden

Emotion

Entbehrung, Leere, Mangel

Aggressionsmangel

«Ich brauche Deine Liebe!»

Körper

Schwache Muskulatur (zu wenig Ladung):

Deflation des Brustkorbes; nach vorne hängende Schultern, flache Fussgewölbe

Arme, Hände unfähig zum Ausgreifen nach der Welt

Becken nach vorne gekippt (keine Ladung)

Mangel an Aggression und Durchhalten

Blockierung der Stimme (Kiefer, Kehle)

Wir sprechen von Kompensierter Oralität, wenn zwar das Thema der Deprivation dominant ist, die Angst vor Abhängigkeit jedoch überwiegt und die Unabhängigkeit im Sinne von «Ich brauche Dich nicht!» sehr betont wird.

Tabelle 4: Masochistische Struktur (18 Monate und später): Komprimierung

Genese

Selbstbehauptung wird unterdrückt

Kontrolle der Körperfunktionen

Angst

Vor Selbstbehauptung, Nein-Sagen

Ausdehnung

Emotion

Trotz, defensiv-passive Aggression, Ekel, Zweifel, Ambivalenz

Körper

Nach-innen-Halten

Überentwickelte, schwere Muskulatur – besonders Nacken, Schultern, Arme, Oberschenkel Becken und Kehle blockiert (oben und unten «zugeschnürt»)

Fussgewölbe kontrahiert

Dauer-Lächeln

Tabelle 5: Psychopathische Struktur (2.–4. Lebensjahr): Verschiebung nach oben

Genese

Objekt fremder Bedürfnisse; Manipulation anstelle von Unterstützung der Autonomie

Angst

Vor Versagen, Hilflosigkeit, Unterwerfung

Emotion

Manipulation anderer; Emotionen als Sache des Willens

Körper

Aufrecht- und Hochhalten des Körpers,

Oberkörper stark entwickelt («aufgeblasen»),

Beine weniger entwickelt (durchgedrückte Knie)

Die Qualität der Bodenhaftung (Kontakt der Füsse) sowie die Erregungsableitung über die Beine zum Boden entscheiden mit über die Fähigkeit zum Containment von Erregung sowie den Realitätskontakt (Grounding).

Tabelle 6: Rigide Struktur (3.-6. Lebensjahr): Steifheit

Genese

Zurückweisung der erotischen und Herzensgefühle durch die Eltern

Angst

Vor sexueller und herzlicher Hingabe

Emotion

Zurückhaltung und Verbergen von Gefühlen,

Herz = Schwäche; Leistung ist alles,

Perfektion, Stolz

Körper

Steifheit im Rücken; Becken nach hinten gezogen (Hohlkreuz) und unbeweglich;

Hals und Brustwirbelsäule überaufgerichtet;

Körper gut proportioniert, leistungsfähig

Hände, Füsse im Kontakt zur Welt

4. Entspannung – Lösung vs. Tonisierung der Schutzreaktionen

4.1. Sichere Beziehung

Prosozialer Ventraler Vaguskomplex. Porges (2010) hat mit der Polyvagal-Theorie eine Differenzierung des Vagus vorgenommen, sodass wir nicht mehr von der Dualität des Kampf- und Fluchtsystems und des parasympathischen Systems als beruhigende Instanz, sondern beim sozialen Wesen Mensch von der Dreigliedrigkeit des Autonomen Nervensystems ausgehen können. In sozial sicheren Situationen hemmt der «prosoziale» Ventrale Vaguskomplex mit seiner sogenannten Vagus-Bremse die mobilisierende Kampf- oder Fluchtbereitschaft des Sympathikus sowie die immobilisierenden Notfallreaktionen des dorsalen Vagus. Die Neurozeption von Menschen mit Vertrauen einflössender und einfühlsam klingender Stimme und entsprechendem Gesichtsausdruck führt zu einer sozialen Interaktion, die ein Gefühl der Sicherheit fördert (vgl. Porges, 2010, S. 90).

4.2. Körperkontakt

Für die Herabregulierung der Erregung und Bremsung von Kampf- und Fluchtimpulsen durch Körperkontakt sprach die klinische Erfahrung seit Jahrzehnten, belegt durch viele Fallstudien (vgl. Heinrich-Clauer, 2008). Inzwischen gibt es physiologische und neurobiologische Studien, welche durch körperliche Berührung über die Erhöhung des Oxytocin-Spiegels unter anderem die Senkung des Blutdrucks und der Herzschlagrate sowie eine Erhöhung der Schmerzschwelle belegen. Oxytocin wird bei körperlicher Berührung, Sexualität und Stillen ausgeschüttet und führt insgesamt zu Zuständen von Ruhe, Heilung und sozialer Verbundenheit (vgl. Uvnaes-Moberg, 2003). Werden Körperinterventionen rein «mechanisch» ausgeführt, ist ihr psychotherapeutischer Nutzen minimal. Durch manipulative, invasive körperliche Eingriffe, welche nicht innerhalb einer sicheren therapeutischen Beziehung geschehen und rein mechanisch die somato-psychischen Schutzmuster einer Person tangieren (Augen, Nacken, Mund, Kiefer, Kehle, Zwerchfell, Ileo-Psoas, Becken usw.), können biografisch bedingte Ängste mobilisiert werden. Freundlicher Blickkontakt, stimmliche Abstimmung und Berührung im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung bewirken eine Regulierung autonomer Erregung sowie eine Regulation der Schmerztoleranz. Dies geschieht durch Aktivierung des ventralen Vagus und Oxytocin-Ausschüttung. Berührung, in einer sicheren Weise, fördert im Sinne der Neurozeption eine Aktivierung des ventralen Vagus und zusammen mit Mimik und Affektaustausch prosoziales Verhalten (vgl. Clauer, 2013, 152f.; Porges, 2010, S. 185).

4.3. Motorische und vokale Expression

Sportpsychologische Studien belegen generell die positiven Effekte des aktuellen und habituellen Sporttreibens auf das akute Spannungs- bzw. Angsterleben sowie die Reduzierung von depressiven Stimmungen (vgl. Fuchs & Schlicht, 2012, S. 115).

In der Bioenergetischen Analyse werden somato-psychische Schutz-(Abwehr-)Mechanismen – Emotionalität und Körper – gleichermassen fokussiert. Mithilfe von unterschiedlichen Interventionen wird Einfluss auf den Muskeltonus ausgeübt (vgl. Heinrich-Clauer, 2014a):

Erdung (Grounding) – Erregungsableitung und Containment. Das der Bioenergetischen Analyse ureigene Realitätsprinzip des Grounding richtet unsere Aufmerksamkeit auf die untere Körperhälfte, die Bodenhaftung, die Verwurzelung im Hier und Jetzt. Die Ableitung der Erregung in den Boden – dadurch Verbesserung der emotionalen Haltekraft – bedingt mehr emotionale Ladung und Tiefe, die getragen und gehalten werden kann (Beine und Füsse sind auch «Blitzableiter»).

Tiefe Atmung verbessert die Motilität der Muskulatur, die Eigenschwingung unseres Körpers – Vibration und Resonanz – und erleichtert die vokale Expression. Freier stimmlicher Ausdruck schafft Zugang zu Emotionen, kann gehaltene Emotionen lösen, unseren Körper beleben, tonisieren, Grenzen setzen und andere Menschen bewegen und berühren. Am Klang der Stimme lassen sich Emotionen voneinander unterscheiden (anhand von Tempo, Artikulation und Tonhöhe sowie der jeweiligen Dauer der Intonation von Vokalen und Konsonanten).

Vertiefung der Einatmung. Bei Passivität, flacher Atmung, Leere, Untererregung wird über Aktivierung (Bewegung und/oder Körperkontakt) die Vertiefung der Einatmung angeregt. Auch kann über die Aufforderung, so lange wie möglich auszuatmen, bis ein Seufzen und vielleicht ein lautes Schluchzen, ein Schrei, entstehen, eine ungewohnt tiefe Einatmung angeregt werden, die aus der Starre und der inneren Leere (Dissoziation und Taubheit) herausführt.

Tonisierung der Stimme. Auch wenn stimmliche Äusserung an sich schon lösend sein kann, wird bei energetisch schwachen oder traumatisierten Patienten darauf geachtet, dass über die Stimme nicht das Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt wird, indem ein absteigender, hilfloser Ton produziert, sondern der Ton ansteigend gehalten und Tonus entwickelt wird. Sowohl Lösung als auch eine Verbesserung der Selbstwirksamkeit wird darüber erreicht.

Vibrierende Lebendigkeit. Die durch Vertiefung der Atmung und Verbesserung des Energieflusses in der Muskulatur bewirkten Vibrationen haben sowohl befreiende (Spannung lösende) als auch integrierende Funktion, indem die Selbstregulation des Körpers angeregt wird und bis dahin unterdrückte Impulse sich entfalten und neuronal neu verknüpfen können.

Die Arbeit an der Erregungsmodulation ist immer verbunden mit der kognitiv-klärenden Arbeit an den Emotionen.

Fazit für die Praxis

Tiefe Atmung und motorische, vokale Expression unterstützen die Schmerzbewältigung. Charakterstrukturell gibt es spezifische Ängste und muskuläre Schutzmechanismen. Durch manipulative, invasive körperliche Eingriffe, welche nicht innerhalb einer sicheren therapeutischen Beziehung geschehen und rein mechanisch die somato-psychischen Schutzmuster einer Person tangieren (Augen, Nacken, Mund, Kiefer, Kehle, Zwerchfell, Ileo-Psoas, Becken usw.), können biografisch bedingte Ängste mobilisiert werden. Eine vertrauensvolle Beziehung und Körperkontakt reduzieren Angst, Schmerz und erhöhten Muskeltonus und ermöglichen das Durcharbeiten und Flexibilisieren der Verhaltens- und Erlebensmuster von Patienten.

Literatur

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Tonicity as Defense Mechanism – a Bioenergetic Perspective on Emotional Regulation

Emotional experience and behavior are – among other levels – processed on the expressive-motoric level. Especially anxiety and anger are enhancing muscular tonicity and have constrictive effects. Developmental trauma can cause chronic muscular tension patterns which can be understood as protective patterns against fear and pain (Bioenergetic Analysis). Safe social relationships (friendly gaze, calming voice, body contact) have relaxing and calming effects by activation of the ventral vagus (Polyvagal Theory). Motoric and vocal expression of primary emotions reduce the muscular tonus.

Key words: Affect regulation, tonicity, character structure, motoric and vocal expression, Polyvagal Theory, safe contact

Tensione corporea come meccanismo di protezione – una prospettiva bioenergetica della regolazione delle emozioni

L’esperienza e il comportamento emozionale vengono tra l’altro rielaborati a livello espressivo-motorio, in particolare la paura e la rabbia agiscono sul tono muscolare in modo cumulativo e costrittivo. A seguito di traumi dello sviluppo ne derivano modelli di tensione muscolare cronica, che sono da considerare come una forma di protezione dell’ individuo contro la paura e il dolore (analisi bioenergetica). Relazioni sociali sicure (sguardo amichevole, voce calmante, contatto corporeo) agiscono sul nervo vago ventrale in modo rilassante e calmante (teoria polivagale). Allo stesso modo le espressioni motorie e vocali delle emozioni primarie agiscono in modo calmante sul tono muscolare.

Parole chiave: regolazione emozionale, tono muscolare, struttura del carattere, espressione motoria e vocale, teoria polivagale, contatto più sicuro

Die Autorin

Vita Heinrich-Clauer, Dr. rer. nat., Dipl.-Psych.; 1981–88 Forschung und Lehre an der Universität Osnabrück: Psychologi­sche Diagnostik, Entwicklungspsychologie; seit 1989 tätig als Psy­cho­therapeutin, Supervisorin, Dozentin, Autorin in Osnabrück; internationale Trainerin für Bioenergetische Analyse (IIBA Faculty) in Skandinavien, Deutschland, Russland, Polen, Brasilien, Schweiz. Herausgeberin des Handbuch Bioenergetische Analyse.

Kontakt

Dr. Vita Heinrich-Clauer, Dipl.-Psych.

Krahnstr. 17, 49074 Osnabrück

Tel. 0541-2023101

Email: vita.heinrich-clauer@osnanet.de

www.vita-heinrich-clauer.de

Anmerkungen

1 Unter dem Begriff «Cephalic Shock» fasst man Verspannungen im Bereich der Schädelbasis und der Augen zusammen (vgl. hierzu Lewis, 2008). Diese entwickeln sich bei frühkindlichen Traumatisierungen (mangelnder Halt, intrusive Fehlabstimmungen der Bezugsperson) und führen zu einer Desintegration von Informationen aus Gleichgewichtsorgan, visuellen Wahrnehmungen und Tiefensensibilität. Der Bereich Schädelbasis/Auge steht aus bioenergetischer Sicht funktional mit den Sprunggelenken und Füssen in Zusammenhang (vgl. Clauer, 2009).