Rezension

Liliana Merk

Nicola Gianinazzi: Psychotherapie-Wissenschaft (SPT/PTW) – Ein Ansatz zum menschlichen Leben

2014 Lugano: Verlag IRG, 260 Seiten. EURO 20.00

Der neue Text von Nicola Gianinazzi, soeben in Buchform wie als eBook erschienen, strukturiert sich, wie schon in seinen früher geschriebenen Büchern, als breiter und teilweise überraschender interdisziplinärer und interprofessioneller Dialog.

Die Reflexion des Autors beginnt bei der Praxis, der eigenen Erfahrung, in Erwägung der verschiedenen Subjektivitäten die im Rahmen einer Psychotherapie aufeinanderstossen und einem klinischen Zusammenhang Sinn geben: Themen, die an Bion erinnern und auf welchen die breite phänomenologische Literatur beruht und zum Verständnis der angelsächsischen „qualia“ (subjektiver Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes) führen.

Die Aufmerksamkeit des Autors fokussiert in spezieller Art auf die klinische Untersuchung der Psychotherapie, welche zurzeit auch in anderen Ländern geführt wird, von Exponenten anderer Psychotherapielehren und die Bedeutung der Zusammenhänge hervorhebt.

Das Thema ist nicht überwiegend theoretisch-akademisch, aber praxis-professionell, und orientiert sich an der Ausbildung der PsychotherapeutInnen und regt die Reflexion der Erfahrungen an.

Gerade die Reflexion der eigenen Erfahrungen rechtfertigt und begründet die stetige Vertiefung des Modells der Psychotherapie-Wissenschaft (PTW), gefördert durch die Schweizer Assoziation der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, in Zusammenarbeit – noch in der Projektphase bzw. Planung – mit der universitären Schule der italienischen Schweiz (SUPSI) und mit dem Polytechnikum von Zürich (ETH).

Auf diesem Modell basiert im Weiteren der interdisziplinäre Dialog. Der Autor, der von dieser These ausgeht, ist auf der Suche nach professionellen und geeigneten Partnern: in der Vergangenheit hatte er Reflexionen verbunden mit „Counseling“ entwickelt, jetzt regt er andere an, verbunden mit der Psychiatrie. Ein beständiges Modell der Psychotherapie-Wissenschaft systematisiert verschiedene Professionalitäten, jedoch in enger Beziehung der einen zur anderen. Interessant ist die These, gemäss welcher gerade die Systematisierung aufgrund eines stark praktischen Modells eine theoretische Gliederung der Psychotherapeuten zu den akademischen Titeln erlauben würde. Dies wird hauptsächlich im zweiten und letzten Teil des Buches behandelt (Kap. 3-10).

Im zweiten Kapitel wird versucht, eine kurze Synthese der klassischen und modernen philosophischen Elemente aufzuzeigen, welche relevante Bedeutung für diese für die Praxis haben, mit Bezug zur Phänomenologie (Husserl, Heidegger, Binswanger). Auch die Philosophie scheint geeignet für die Reflexion mit Autoren wie Wittgenstein und Galimberti.

Gianinazzi verweist in der Gesamtheit der psychotherapeutischen Beziehungen auf den Grundbegriff „conditio sine qua non“, der Möglichkeit „Kantiana“ der Psychotherapie selbst und entwickelt seine Argumentationen ausgehend von seinen „maîtres à penser“: Freud, Bion und Marcoli.

Der Text konstelliert sich aus wertvollen und zahlreichen Anmerkungen, welche zum Teil als „Glosse“ zum Haupttext dienen und sich in der Beschreibung der Texte ein wenig mittelalterlich abheben soll.

Bei den Anmerkungen werden komplexe und strukturierte Verweise auf die Transdisziplinarität von Morin hervorgehoben und teilweise die Bezüge zur Naturwissenschaft von Pragier und Mancuso: Begriffe wie „Dringlichkeit“, „Organisation“ und „Vielschichtigkeit“ erlauben die aktuellen und haltbaren neuesten Daten der Forschung, die sich mit der Menschlichkeit befassen, aufzunehmen. Nicht zuletzt ist die Bedeutung des Zugangs zur Literatur anzuerkennen, wie ihn Gianinazzi vorschlägt, um die Interpretation der Welt zu öffnen mit einem neuen natur-humanistischen Axiom: das „deterministische Chaos“ (Bohr und Pragier).

Die Naturwissenschaftler befassen sich mit mehreren dieser Anmerkungen und dem Gesamttext, angeregt durch das neueste Buch von Ceroni, Savoldi und Vanzago. Der Autor beruft sich auf die bedeutenden Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler um einen Zusammenhang zu den Modellen und Metaphern zu schaffen, die kompatibel sind zu seinem Dialog mit der Psychoanalyse und der Psychotherapie im Allgemeinen.

Unter diesen finden wir: Agnati, Azzone, Crick, Damasio, Di Francesco, Dennet, Edelman, Kandel, Koch, McGinn, Nagel Noë, Panksepp, Penrose, Purves, Searle, Siegel, Solms und Varela.

In diesem Bereich kann die logische-empirische Übereinstimmung mit der Methode von Fischer im philosophischen Bereich (spirituelle Materie und geistiges Material gemäss Synthesen von Hegel und Morin) und der Theologie noch besser verdeutlicht werden, die „theistische“ Schlussfolgerung wurde auf zuverlässige und „revolutionäre“ Art von Nagel zusammengefasst.

Hier stösst man auch auf die Neologismen von Gianinazzi, welche das philosophische „novum“ einer Überschreitung des Dualismus Körper-Geist und Geist-Bewusstsein erlauben und erleichtern: Geist-Körper, Psychosomatik, Öko-Soma-Psyche. Die Überschreitung des Dualismus ist eine weitere tragende These des Buches.

Das Ganze schliesst mit 4 klinischen Karikaturen (Kap. 9.1-4), welche versuchen, den sich wandelnden Kern einer ausreichend guten therapeutischen Beziehungen zu beschreiben.

Das Buch möchte keine Antworten geben, aber mit immer noch offenen Themen konfrontieren, den Dialog anregen und sich stimulieren lassen.

Übersetzt aus dem Italienischen von Miriam Marri