Rezension

Verena Rattensberger und Pia Andreatta

Gottfried Fischer, Rosmarie Barwinski, Monika Becker-Fischer (unter Mitarbeit von Christiane Eichenberg): Emotionale Einsicht und therapeutische Veränderung: Manual der modernen tiefenpsychologischen und analytischen Psychotherapie

(2011) Kröning: Asanger. 235 Seiten, € 34,50

Tiefenpsychologische und analytische Psychotherapie muss sich durch die Neuerscheinung von Fischer und Kolleginnen nicht mehr dem Vorwurf der theoretischen und praktischen Inflexibilität aussetzen. Das Problem in diesen Therapieformen war unseres Erachtens eher der Mangel an einem praxeologischen Zugang und vermutlich weniger ihr geltendes Paradigma, welches an die Grenze seiner Gültigkeit gelangt wäre. Das therapeutische Handeln war letztlich zwar theoriegeleitet, aber in der Anwendung dann doch häufig therapeutischer Intuition überlassen. Damit war tiefenpsychologische und analytische Anwendung zwar vorhanden, aber nicht ausreichend genug „regelgeleitet“. Dies wird schon zu Beginn des Werkes deutlich, wenn sich die Autorinnen und der Autor mit der empirischen Wende in der Psychoanalyse befassen und damit dem Ruf nach wissenschaftlicher Transparenz gefolgt wurde. Doch bevor die verschiedenen Elemente des Buches und ihre Bedeutung für moderne Anwendung erläutert werden, soll das Ziel des Buches – so wie wir es verstanden haben – erörtert werden. Fischer und seine Kolleginnen reformieren die Psychoanalyse fundamental. Neben den Grundpfeilern wie Abwehrmechanismen, Übertragung und Widerstand wird die emotionale Einsicht als tiefgreifendes therapeutisches Veränderungsmoment aufgegriffen. Nur die ungehinderte Untersuchung von Affekten, der Ausdruck von Emotionen sowie die Erfahrung einer alternativen Beziehung im therapeutischen Arbeitsbündnis ermöglichen eine positive psychotherapeutische Wirkung und Nachwirkung. Die Einführung der dialektisch-ökologischen Sichtweise stellt eine weitere bedeutende Veränderung dar. Diese ermöglicht eine Verbindung und Ergänzung zur Traumatherapie. Durch diese Sichtweise wird der Komplexität der traumatischen Ätiologie sowie auch der Behandlung und Therapie Rechnung getragen, und es können Traumaparadigma und Neurosenparadigma ohne Theoriebruch zur therapeutischen Anwendung gelangen. In dieser traumaadaptierten Weiterentwicklung verlassen Fischer und Kolleginnen den zeitweilig vorherrschenden psychoanalytischen Mainstream und ziehen die Psychotraumatologie ins Zentrum der modernen Psychoanalyse. Die Psychotraumatologie zeigt sich als spezieller Bereich der kausalen Psychotherapie, unter Orientierung an der Ätiologie und einem dialektisch-ökologischen Denken. Die moderne Tiefenpsychologie und analytische Psychologie (TP/AP) zeigt sich fortschrittlicher hinsichtlich theoretischer Reflexion und empirischer Forschung. Wie bereits in Fischers (gemeinsam mit Kollegen verfassten) „Logik der Psychotherapie“ (2008; Kröning: Asanger Verlag) ist die gegenseitige Durchdringung von Theorie und Praxis Basis tiefenpsychologischen und therapeutischen Tuns und Denkens. Nur die Abstimmung von Empirie und Theorie ermöglicht Fortschritte in der Wissenschaft und stellt so den Begründungspfeiler der Psychotherapiewissenschaft dar. Fischer und seine Kolleginnen erfüllen dies mit der erkenntnistheoretischen Grundlage, der dialektisch-ökologischen Sichtweise, die im Mittelpunkt der modernen tiefenpsychologischen und analytischen Praxis steht. Dialektisches Denken enthüllt die Innenperspektive, die Geschichte menschlicher Subjektivität. Ökologisches Denken entspricht dem objektiven, umweltbezogenen Moment, in dem sich die Geschichte des Subjekts entfaltet. Um die Innenwelt zu verstehen, bedarf es der Erkenntnis der Außenwelt.

Eine weitere Bedeutung dieses Werkes zeigt sich in der ätiologischen Ausrichtung hinsichtlich Genese und Symptombehandlung. Diese Ausrichtung basiert auf der nosologischen Pyramide, bei welcher das Symptom als pathologische Endstrecke (S. 205) des Krankheitsgeschehens auftritt. Aufgrund des ätiologieorientierten Ansatzes werden Symptome aus ihrer überindividuell konstatierten Erscheinung entnommen und aus einem spezifischen Kontext verstanden. Auch eine Therapieplanung, welche sich ausschließlich am Symptombild orientiere, sei nicht zielführend. Psychotherapie, welche sich hingegen am polyätiologischen Modell orientiert, ermöglicht eine kausale Psychotherapie. Kausale Psychotherapie, ein bedeutendes Merkmal der modernen TP/AP, beinhaltet nicht nur das Ziel der Symptombeseitigung, sondern ebenso die Unterbrechung des Krankheitsprozesses und seine Rückführung in eine selbstregulierende Persönlichkeitsentwicklung. Gelungen in dieser Konzeptualisierung ist der Einsatz von handlungsbezogenen Interventionen. Die Autorinnen und der Autor bewirken damit sowohl eine Abgrenzung als auch eine Annäherung an die Verhaltenstherapie mit dem Ziel der Förderung einer „semiotischen Progression“. Nur eine präzise Beschreibung des Vorgehens gewährleistet die adäquate Einbettung der behavioralen Trainingselemente in die entwicklungsorientierte Therapie, wobei die psychodynamische Fallkonzeption sowie die Beziehungsgestaltung stets Vorrang haben. Die Darstellung und Beschreibung der besonderen Merkmale der modernen TP/AP steht den Kapiteln der „therapeutischen Veränderung“ und des „psychotherapeutischen Dialogs in Theorie und Praxis“ gegenüber. Besondere Beachtung findet in diesem Kontext die Übertragungsbeziehung, welche nach wie vor den Motor der Veränderung darstellt. Im psychotherapeutischen Dialog wird besonderes Augenmerk auf die Epistemologie der psychotherapeutischen Praxis mit den Stufen Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik gelegt. Fallbeispiele demonstrieren die „Aufhebung“ von pathogenen Konflikten, Widersprüchen und Symptomen mit Hilfe der einzelnen Stufen der Interventionslehre. Themen wie Abwehr und Widerstand finden in gesonderten Kapiteln ihren Niederschlag. Neben der Dialektik und dem ökologischen Denken wird die klassische Deutungslehre um das semiotische Instrumentarium erweitert. Die Semiotik wird sowohl auf der Ebene der Symptomatik als auch auf der der Interventionen ausgeführt. Dass das Buch nicht nur informiert, sondern darüber hinaus zum Studium einlädt, zeigt der didaktische Aufbau. Jeder Themenblock wird von einer Kurzfassung, welche die wichtigsten Thesen enthält, angeführt. Bereits eine anfängliche Kurzübersicht über den Gesamtinhalt ermöglicht ein umfassendes und vertieftes Verständnis. Darüber hinaus werden die einzelnen Kapitel mit Verständnis- und Feedbackfragen zur Orientierung beendet. Dies macht die Arbeit auch zu einem Trainingsmanual für die berufliche Praxis, für Studierende und andere interessierte Leser. Das Buch führt konsequent frühere Werke des Erstautors weiter und ebenso zusammen. In „Emotionale Einsicht und therapeutische Veränderung“ wird dem Leser, der Leserin nicht mehr wie in „Logik der Psychotherapie“ jeweils im Detail die theoretische oder geisteswissenschaftliche Herleitung einer Annahme begründet, sondern darauf auf- und weitergebaut. Dadurch werden die Lesenden zwar scheinbar mit einer Menge „Setzungen“ konfrontiert, für deren Herleitung sie die früheren Werke konsultieren müssten, dafür aber sollte sich ihnen die praxeologische Nutzbarkeit wohl rascher eröffnen. Dies macht dieses Buch zwar trotzdem zu einem „Nachschlagwerk“, aber eben mit der Einschränkung, dass es zum Manual wird. In jedem Fall ist dieses Buch als Lehr- und Arbeitsbuch zu verstehen. Letztlich tragen Fischer und Kolleginnen nicht nur zur weiteren Entwicklung psychotherapeutischer Tiefenpsychologie bei, sondern begründen die Psychotherapiewissenschaft mit bzw. tragen zu ihrer weiteren Verankerung bei. Sie blicken anhand ihres dialektisch-ökologischen Modells und den von ihnen ausgeführten „besonderen Merkmalen der modernen TP/AP“ hinter die Erscheinungsbilder. Ein Ansatz, der sich auf den Umgang mit Widersprüchen versteht und eine beschränkte Sichtweise verlässt. Mit ihrem Werk stellen sie ein Manual für die psychotherapeutische Praxis bereit, welches das moderne Bild der Psychoanalyse, aber auch ihre alten, bewährten Grundmauern wiedergibt. Zu empfehlen ist dieses praxisorientierte Manual sowohl informierten und interessierten Laien als auch Theoretikern und Praktikern aus den Bereichen der psychotherapeutischen und psychologischen Heilkunde.

Korrespondenz

Dr. Pia Andreatta, Universität Innsbruck, Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, Maximilianstrasse 2/ 214A - 6020 Innsbruck