Böckle, Markus & Kramer, Ueli (Hg.). (2025). Deliberate Practice in der Psychotherapie.
Wege zu einer effektiveren therapeutischen Praxis
Schattauer, 210 S., 53.00 CHF, 39.00 EUR, ISBN: 978-3608400816
Psychotherapie-Wissenschaft 15 (2) 2025 43
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2025-2-43
Das von Markus Böckle und Ueli Kramer herausgegebene Werk Deliberate Practice in der Psychotherapie. Wege zu einer effektiveren therapeutischen Praxis stellt auf nur gut 200 Seiten einen bemerkenswerten Beitrag zur deutschsprachigen Psychotherapieliteratur dar, der sich einem bisher vergleichsweise wenig beachteten Thema widmet: der gezielten, strukturierten Übung zur Verbesserung psychotherapeutischer Kompetenzen.
Der Band vereint Fachautor*innen aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen, die das Konzept der Deliberate Practice (DP) aus ihren jeweiligen theoretischen und praktischen Perspektiven beleuchten. Bereits die Einleitung verortet den Ansatz im Kontext der Society for the Exploration of Psychotherapy Integration (SEPI) und zeigt, dass DP nicht nur ein technisches Verfahren ist, sondern eine Haltung, die Integration und kontinuierliche Professionalisierung fördert. Die Herausgeber betonen, dass DP – ursprünglich aus Sport und Musik stammend – im Kern auf zielgerichtetem Üben, unmittelbarem Feedback und reflektierter Anpassung basiert. Ziel ist es, dass Psychotherapeut*innen nicht nur durch Erfahrung, sondern durch bewusstes, strukturiertes Training ihre Wirksamkeit verbessern resp. optimieren. Inhaltlich beeindruckt das Buch durch seine Bandbreite. Es spannt den Bogen von grundlegenden theoretischen Einführungen (Franz Caspar) über modellspezifische Anwendungen in Psychodynamischer Psychotherapie (Hanna Levenson), Systemischer Therapie (Elisabeth Wagner, Theresia Gabriel), Verhaltenstherapie (Ulrike Willutzki, Paul Geilenberg) und Emotionsfokussierter Therapie (Martina Belz) bis hin zur Behandlung chronischer Depression mit Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP; Anne Guhn, Jan Philipp Klein) oder zu spezifischen Kontexten wie E-Mental-Health (Markus Böckle et al.). Besonders wertvoll sind die praxisnahen Beispiele, die zeigen, wie DP-Übungen konkret gestaltet und in Ausbildung, Supervision und Praxisalltag integriert werden können. Herausragend ist die konsequente Verbindung von Theorie und Praxis. Viele Kapitel illustrieren die DP-Prinzipien anhand von Fallbeispielen, Rollenspielen oder Übungsformaten, was den Transfer in die eigene psychotherapeutische Arbeit erleichtert. Die Integration wissenschaftlicher Evidenz überzeugt: Die Autor*innen stützen ihre Argumente durchgehend auf empirische Befunde, wodurch das Werk nicht nur inspirierend, sondern auch methodisch wohlfundiert ist. Die abschließende Diskussion der Herausgeber fasst die Kernprinzipien von DP pointiert zusammen: Zielgerichtetheit, Übungsfokus, Feedback-Kultur und Wiederholung.
Das Buch bleibt erfreulich selbstreflexiv, doch ergeben sich aus der Lektüre auch weitergehende kritische Überlegungen. Folgende drei Risiken gilt es anzusprechen: Zum einen besteht nämlich die potenzielle Gefahr einer Übertechnisierung psychotherapeutischer Arbeit. Die isolierte Einübung spezifischer Fertigkeiten kann zu einem mechanistischen Verständnis führen, das die situative, relationale Komplexität von Psychotherapie nur unzureichend erfasst. Zum anderen ist mit DP ein gewisses Risiko der Überforderung in der Ausbildung verbunden. DP verlangt von Lernenden hohe Selbstdisziplin, Offenheit für Feedback und die Bereitschaft, eigene Defizite konsequent zu bearbeiten. Gerade bei weniger erfahrenen Psychotherapeut*innen kann dies zu Unsicherheit oder gar Rückzug aus dem Lernprozess führen, wenn die Unterstützung nicht ausreichend ist. Nicht zuletzt könnte die starke Orientierung an empirisch überprüfbaren Leistungsparametern zu einer tendenziellen Standardisierung therapeutischer Kompetenzen führen. Damit besteht das Risiko, individuelle Stile und kreative, situationsspezifische Lösungsansätze zugunsten «messbarer» Fertigkeiten zu vernachlässigen.
Nichtsdestotrotz ist Deliberate Practice in der Psychotherapie ein vielseitiger, fundierter und praxisnaher Sammelband, der Psychotherapeut*innen aller Schulen wertvolle Impulse zur gezielten Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen bietet. Er verbindet theoretische Fundierung mit methodischer Konkretisierung, zeigt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten und verschweigt auch nicht die praktischen Hürden. Der Band besticht durch seine wissenschaftliche Solidität und seine praxisnahen Beispiele, bleibt aber zugleich realistisch in der Einschätzung der Grenzen. Besonders für Ausbilder*innen, Supervisor*innen und erfahrene Praktiker*innen dürfte dieses Werk zu einer wichtigen Referenz werden. Die Lektüre lädt dazu ein, das eigene professionelle Handeln kritisch zu reflektieren und die Qualität psychotherapeutischer Arbeit durch strukturiertes, reflektiertes Üben nachhaltig zu steigern – vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen und die notwendige Lernkultur sind gegeben.
Kurt Greiner