Buchbesprechung

Raile, Paolo & Geißler, Peter (2025). KI in der Psychotherapie(-wissenschaft).
Erkenntnisse aus Forschung und Praxis

Waxmann, 241 S., 36.70 CHF, 29.90 EUR, ISBN: 978-3-8188-00119-2

Psychotherapie-Wissenschaft 15 (2) 2025 41–44

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2025-2-41

Auf dem Gebiet der KI geschieht seit einigen Jahren viel, auch im Feld der Psychotherapie. Noch ist der Diskurs zur Anwendung von Künstlicher Intelligenz geprägt von einer Polarisierung: Der Ersatz von menschlichen PsychotherapeutInnen, also realen Personen, durch künstliche Computerprogramme, die sich als virtuelle PsychotherapeutInnen verstehen, ist ein grosses Schreckgespenst für unsere Berufsgattung. Wie auch immer: Der Einsatz von KI in der Psychotherapie in Praxis, Wissenschaft und Forschung ist längst erfolgt und wird weiter zunehmen. Besser, man macht sich damit vertraut, was KI in unserem Berufsfeld kann, was sie nicht kann und wo Gefahren lauern. Raile und Geißler legen ein Buch vor, das genau das will: aufzeigen, wo und wie KI eingesetzt werden kann und wo Grenzen liegen.

Die Autoren verstehen KI als Werkzeug, das nicht die menschliche Expertise ersetzen soll, aber durch kompetente und reflektierte Anwendung erhebliche Vorteile bieten kann. Mit dem Buch bieten sie eine Einführung in das Wesen der KI und ihre Anwendung in Chatbots. Es folgen Kapitel über «KI in der Psychotherapiewissenschaft und -ausbildung» und «KI in der Psychotherapieforschung». Den Hauptteil stellt das Kapitel «KI in der Psychotherapiepraxis» dar. Den Abschluss bildet ein Kapitel zu «KI in der Verwaltung einer Psychotherapiepraxis».

Für Laien ist Kapitel 2 über «Künstliche Intelligenz und Chatbots» eine wertvolle Fortbildung und Einführung. Seit den 1950ern wird KI entwickelt. Ihr ist also keineswegs neu. ChatGPT ist vielen ein Begriff; hier wird erläutert wie das Modell funktioniert. Werkzeuge wie ChatGPT eignen sich zur Beantwortung komplexer Fragestellungen in Windeseile und erstellen Texte, Literaturrecherchen, ja sie zeichnen als Vorschlag ganze Modelle für Forschungsprojekte. ChatGPT kann nur wiedergeben, was ihm «gefüttert» wurde. Er rechnet nach einem Wahrscheinlichkeitsmodell, was die folgerichtigen Antworten sind. Er denkt also nicht selbst, sondern rechnet Wahrscheinlichkeiten aus aufgrund eingegebener Daten und formuliert diese in Texte. Eine Schwäche ist, dass er auch «halluzinieren» kann. Das heisst, er kann folgerichtige oder überzeugend klingende Aussagen machen, die aber falsch sind. Es braucht menschliche Intelligenz und kritische Aufmerksamkeit, solche Fehler zu entdecken.

Auf dem Gebiet der Psychotherapie sind Anwendungen entwickelt worden für personalisierte Selbsthilfeprogramme, zur Erkennung von Frühwarnzeichen von psychischen Erkrankungen, für die Diagnostik, Psychoedukation, literaturbasierte Analysen und vieles mehr.

In Kapitel 3 zu «KI in der Psychotherapiewissenschaft und -ausbildung» wird anhand von Praxisbeispielen gezeigt, wie ChatGPT als «Gesprächspartner» zur Vorbereitung von Ausbildungsmodulen eingesetzt werden kann, etwa im Therapieschulendialog, wie er in der experimentellen Psychotherapiewissenschaft an der SFU Wien entwickelt wurde. Auf dem Gebiet der Psychotherapie-Integration kann er grosse Dienste bei Literaturrecherchen und dem Durchsuchen von Datenbanken bieten. Je ausführlicher Fragende ihre Problemstellung beschreiben, desto ausführlicher und personalisierter erhalten sie KI generierte Antworten. Das liest sich manchmal wie interessante Fachdiskussionen. Es wird auch gezeigt, wie ChatGPT zur Vorbereitung von Seminaren hinzugezogen werden kann. Es ist beeindruckend zu lesen, wie detailliert solche Fachdiskussionen erfolgen können. Auch die Anwendung als PatientInnensimulator wird beschrieben und die Übungsmöglichkeit für angehende PsychotherapeutInnen präsentiert, erste TherapeutInnenerfahrungen zu machen, ohne reale PatientInnen dem Risiko einer Fehlbehandlung auszusetzen.

Das Kapitel «KI in der Psychotherapieforschung» zeigt auf, wie enorme Datenmengen effizient gesammelt und bearbeitet werden können. KI bietet Hilfe bei der Erstellung von Drittmittelanträgen, der automatisierten Datenaufbereitung, der Strukturierung von Rohdaten. Ja, KI kann ganze Forschungsdesigns generieren, deren Forschungsablauf zeichnen und die Budgetierung vornehmen. Die Autoren sehen auch ein Potenzial der KI im Projekt- und Qualitätsmanagement von Forschungsprojekten. Grosse Dienste kann KI bei der Literaturrecherche anbieten, auch zur Eruierung von Forschungslücken. Eine grosse Herausforderung ist jedoch die Validierung der mit KI erzeugten Ergebnisse. Die Autoren sprechen sich für regulatorische Rahmenbedingungen aus beim Einsatz von KI in der Forschung, etwa die Nennung von verwendeten KI-Programmen in einer vorgelegten Arbeit (Zitierung, Offenlegung der Quellen). Die Verantwortung für Inhalt und wissenschaftliche Qualität liegt beim Menschen. ChatGPT agiert lediglich als sprachlicher Assistent, der Formulierungslücken schliesst und verschiedene Versionen von Texten generieren kann, die dann der Beurteilung durch WissenschaftlerInnen obliegen.

Das Kapitel «KI in der Psychotherapiepraxis» zeigt die Reise eines der Autoren von anfänglicher Skepsis zur alltäglichen Nutzung in der Praxis. Erst wird gezeigt, wie ChatGPT zu befragen ist, um Antworten auf das zu bekommen, was man wirklich herausfinden will. KI kann eine Orientierungshilfe sein für laufende Therapien, kann für die Diagnosestellung herangezogen werden, in der Reflexion von langen Therapien behilflich sein, als Erinnerungshilfe dienen und zur Vorbereitung hilfreicher Interventionen beigezogen werden. Die Diskussionen lesen sich wie Supervisionsdiskurse oder Fachgespräche unter KollegInnen. Es werden gar Details zu Theorie und Praxis von Körperberührungen als therapeutische Intervention auf hohem Wissensniveau diskutiert.

Was mir in diesem Teil des Buchs auffällt, ist, dass wiederholt auch zur Vorsicht und kritischen Prüfung der KI-Antworten durch den Menschen aufgefordert wird, da KI nur aufgrund von Wahrscheinlichkeitsrechnungen antwortet und auch fehlerhafte Aussagen schlüssig präsentieren kann. Das würde eigentlich erwarten lassen, dass die Antworten der KI zum Schluss des jeweiligen Textes kritisch diskutiert würden. Das geschieht aber nicht. Viele Unterkapitel schliessen ab mit KI-Texten, als wäre sie die letzte Wahrheit. Das ist schade und zeigt zugleich die Gefahr der routinemässigen Verwendung von KI in der Praxis auf: Man scheint sich daran zu gewöhnen und billigt der KI einen Expertenstatus zu, der nicht mehr hinterfragt wird.

Zweifellos kann «KI in der Verwaltung einer Psychotherapiepraxis» (Kapitel 6) grosse Erleichterung und Effizienzsteigerungen bringen. Als Themen seien angeführt: Terminplanung, Unterstützung in der Kommunikation, Erstellen von Webseiten, Dokumentation und Verrechnung, Berichtwesen. Zu beachten sind hier die Einhaltung von Datenschutzrichtlinien insbesondere bei externer Lagerung von persönlichen Daten in einer Cloud.

Zusammenfassend schreiben die Autoren, dass bei allen Chancen der KI im Hinterkopf zu behalten sei, «dass KI nie menschliche Intuition, Empathie und Fachkenntnis ersetzen kann. Vielmehr sollte sie als ein Werkzeug verstanden werden, das den professionellen Alltag erleichtert und ergänzt, ohne dabei den Kern der psychotherapeutischen Arbeit zu gefährden» (S. 226). Sie fordern TherapeutInnen auf, «nicht nur die Grundlagen der Technologie zu verstehen, sondern auch die Fähigkeit zu entwickeln, ihre Grenzen und potenziellen Fehler zu erkennen» (S. 228).

In diesem Sinne empfehle ich dieses Buch gern als Fortbildungslektüre. Es bietet eine umfassende Einführung in Grundlagen von KI und in mögliche Anwendungen von KI in der Psychotherapie(-wissenschaft), deren Vorteile und Gefahren den LeserInnen zur Beurteilung überlassen werden.

Peter Schulthess