Heilung ermöglichen statt Symptome managen

Ein integrativer schematherapeutischer Bezugsrahmen für die Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen

Eik Niederlohmann

Psychotherapie-Wissenschaft 15 (2) 2025 35–40

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2025-2-35

Zusammenfassung: Schwere psychische Erkrankungen wie schizophreniebezogene Syndrome stellen hohe Anforderungen an Behandlung, Versorgung und Prävention. Trotz vielfältiger Interventionen fehlt häufig ein übergeordneter Bezugsrahmen, der therapeutische, institutionelle und gesellschaftliche Ebenen integriert. In diesem Beitrag wird ein schematherapeutisch fundiertes, metapsychologisch erweitertes Verständnis vorgeschlagen, das strukturorientiert denkt, neurobiologische Forschung berücksichtigt und zentrale Prinzipien emotionsfokussierter Psychotherapie (ISTDP, EDT) einbettet. Der Fokus liegt auf der Förderung des gesunden Erwachsenenmodus als therapeutisches Ziel. Neben der klinischen Behandlung wird auch die präventive Dimension beleuchtet – unter Bezug auf ACEs, ICF und transdiagnostische Versorgungsperspektiven. Der Beitrag plädiert für ein koordiniertes, humanistisches und evidenzbasiertes Verständnis seelischer Heilung.

Schlüsselwörter: Schematherapie, schwere psychische Erkrankungen, gesunder Erwachsenenmodus, Beziehungsgestaltung, ISTDP, integrative Psychotherapie

Schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, affektive Psychosen oder komplexe Persönlichkeitsstörungen stellen eine tiefgreifende Herausforderung für Gesundheitssysteme, Therapeut:innen und Betroffene dar. Die Krankheitsverläufe sind oft langwierig, von Rückfällen und sozialen Einschränkungen geprägt und führen nicht selten zu Arbeitsunfähigkeit, sozialer Isolation oder Chronifizierung. Trotz einer Vielzahl an manualisierten Therapieangeboten, sektorspezifischen Programmen und pharmakologischen Behandlungsleitlinien bleibt die subjektiv erlebte Wirksamkeit häufig begrenzt. Betroffene berichten über fragmentierte Versorgung, wechselnde Bezugspersonen und mangelnde individuelle Passung therapeutischer Angebote. Diese Versorgungskritik verweist auf ein tieferliegendes Problem: Es fehlt ein übergreifendes, integratives und partizipatives Modell, das sowohl psychotherapeutische Methoden, sozialpsychiatrische Massnahmen als auch gesellschaftliche und präventive Ansätze sinnvoll verbindet. Stattdessen dominiert häufig ein «Flickenteppich» paralleler Angebote, die ohne ein gemeinsames metapsychologisches Verständnis operieren und strukturelle wie funktionale Unterschiede zwischen Patient:innen unzureichend berücksichtigen. Die gegenwärtige Orientierung an kategorialen ICD-Diagnosen wird zunehmend infrage gestellt (van Os et al., 2023; Goodkind et al., 2015) und erschwert die Entwicklung individualisierter, transdiagnostisch wirksamer Konzepte.

Vor diesem Hintergrund plädiert der vorliegende Beitrag für einen integrativen schematherapeutischen Bezugsrahmen, der das Modusmodell als klinisch anschlussfähige Metapsychologie nutzt, um schwer psychisch erkrankte Menschen besser zu verstehen und zu begleiten (Roediger & Valente, 2025). Dieser Rahmen erlaubt es, strukturelle Einschränkungen differenziert zu erfassen und Interventionen am tatsächlichen Funktionsniveau auszurichten – unabhängig von der diagnostischen Etikettierung. Dabei werden zentrale Konzepte emotionsfokussierter Psychotherapien (Abbass, 2022; Frederickson, 2020) integriert, um innerpsychische und zwischenmenschliche Prozesse in Echtzeit zu erfassen und therapeutisch zu nutzen. Ziel dieses Beitrags ist es, aufzuzeigen, wie ein integrativer, neuro-bio-psycho-sozial fundierter Ansatz – mit dem gesunden Erwachsenenmodus als therapeutischem Ziel – sowohl Heilungsprozesse begünstigen als auch präventive und gesellschaftspolitische Implikationen berücksichtigen kann. Damit soll ein Beitrag geleistet werden zur Weiterentwicklung einer menschlicheren, erfahrungsbasierten und evidenzfundierten Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen.

Begriffsklärung und theoretischer Hintergrund

Schizophrenie ist keine klar abgrenzbare Krankheitseinheit, sondern eine Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche psychische und soziale Phänomene. Der Begriff wird diagnostisch verwendet, obwohl seine definitorischen Kriterien unscharf und ätiologisch heterogen sind. Fachlich besteht weitgehend Konsens darüber, dass es sich bei Schizophrenien eher um ein Spektrum handelt – mit fliessenden Übergängen zu anderen Störungsbildern, darunter schizoaffektive, bipolar-affektive und komplexe Persönlichkeitsstörungen (Murray et al., 2021; van Os et al., 2023). Entsprechend kritisch wird der Anspruch diskutiert, mit manualisierten Interventionen alle unter diese Kategorie fallenden Personen gleich behandeln zu wollen.

Im Sinne der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) bietet sich eine funktionale Perspektive an: Nicht die Diagnose, sondern das tatsächliche Funktionsniveau einer Person ist entscheidend für Planung und Evaluation von Therapie und Teilhabe. Die Schematherapie stellt dafür ein praxistaugliches Modell bereit: Sie erlaubt eine differenzierte Analyse aktueller Modusaktivierungen (z. B. verletztes Kind, strafender Elternmodus, dissoziierter Bewältigungsmodus), die unabhängig von Diagnosen bei verschiedenen Personen in unterschiedlicher Kombination auftreten können (Roediger & Valente, 2025; Akers et al., 2025). Diese individuelle Variabilität ist auch das Resultat unterschiedlicher Entwicklungspfade. Besonders bedeutsam sind dabei Adverse Childhood Experiences (ACEs), also frühe interpersonelle Traumatisierungen, Bindungsverletzungen und chronischer Stress in der Kindheit. Die hohe Korrelation zwischen ACEs und späterer psychischer Erkrankung ist inzwischen gut dokumentiert (Hughes et al., 2017; Misiak et al., 2017; Pries et al., 2018). Je früher und intensiver die Belastungen, desto wahrscheinlicher ist eine strukturelle Beeinträchtigung von Affektregulation, Selbstzugang und Realitätsprüfung.

Neurobiologische Studien zeigen, dass chronischer Stress in der Kindheit sowohl die neuronale Reifung als auch epigenetische Schaltkreise beeinflusst (Cozolino, 2024; Kandel, 2021). Dabei kommt es zu einer veränderten Konnektivität zwischen präfrontalem Kortex, limbischem System und Default Mode Network (Chen et al., 2023). Im Sinne des Active Inference Framework (Friston, 2025) kann man Schizophrenie als eine Form gestörter Informationsverarbeitung verstehen: Das Gehirn aktualisiert seine Erwartungen über die Welt nicht mehr flexibel, sondern klammert sich an rigide Vorhersagen – selbst bei widersprüchlicher sensorischer Evidenz. Symptome wie Wahn oder Derealisation lassen sich als kompensatorische Versuche verstehen, Kohärenz in einem instabilen inneren Modell zu erzeugen (Cheadle et al., 2024; Read et al., 2014).

Dieser neurobiologische Erklärungsansatz widerspricht nicht psychodynamischen Theorien, sondern ergänzt sie: Auch in der modernen Tiefenpsychologie wird angenommen, dass sich psychotische Symptome aus massiver innerer Inkohärenz und einem Mangel an integrierter Selbststruktur ergeben (Shepherd, 2008). Schematherapeutisch betrachtet lassen sich diese Symptome als dysfunktionale Bewältigungsmodi deuten, mit denen die Psyche versucht, basale Bedürfnisse wie Sicherheit, Bindung und Autonomie auf indirektem Weg zu erfüllen. Die Symptome sind damit nicht Ausdruck von «Defekt», sondern von Notwendigkeit – als einziger verfügbarer Weg, das innere Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Derartige Perspektiven eröffnen neue Zugänge zur therapeutischen Arbeit: weg von der reinen Symptomkontrolle, hin zur tiefenpsychologisch und neurobiologisch fundierten Förderung von Reifung und Selbststruktur. Genau hier setzt das Modusmodell der Schematherapie an – als Brücke zwischen Lebensgeschichte, psychodynamischer Bedeutung und konkretem Erleben im Hier und Jetzt.

Metapsychologie: Der gesunde Erwachsenenmodus als Zielrahmen

Im Zentrum des vorgestellten Bezugsrahmens steht ein metapsychologisches Verständnis schwerer psychischer Erkrankungen, das strukturelle Integration statt Symptomreduktion fokussiert. Dieses Verständnis ist in der Schematherapie verankert, geht aber über eine rein manualisierte Anwendung hinaus. Die zentrale Idee ist die Förderung und Reaktivierung des gesunden Erwachsenenmodus, verstanden als integrative Instanz im innerpsychischen Geschehen. Dieser Modus ermöglicht Realitätsprüfung, Affektdifferenzierung, Perspektivübernahme, Empathie, Selbstfürsorge und dialogische Beziehungsgestaltung.

Schwere psychische Erkrankungen – insbesondere aus dem Psychosespektrum – sind durch eine eingeschränkte Verfügbarkeit oder Fragmentierung dieses Modus gekennzeichnet. Stattdessen dominieren rigide, stark affektbesetzte Modi, die aus biografischen Notlagen entstanden sind: verletztes Kind, verängstigtes Kind, wütendes Kind, strafende Elternanteile oder dissoziative Bewältigungsmodi. Die Symptome entstehen oft nicht willentlich, sondern als automatische Reaktion auf innere Konflikte und als Schutzmechanismus gegen nicht regulierbare Affekte. Eine zentrale therapeutische Aufgabe besteht darin, diese Prozesse nicht zu pathologisieren, sondern als sinnvolle, jedoch nicht mehr hilfreiche Lösungsversuche zu verstehen.

Der Bezug zur psychodynamischen Metapsychologie erfolgt über Konzepte wie Übertragung, Abwehr und das Selbst. Frederickson (2020) und Abbass (2015) haben in ihren Arbeiten eindrücklich gezeigt, dass psychische Symptome häufig sekundär zur Abwehr emotionaler Wahrheiten entstehen – oft infolge unbewusster Konflikte zwischen Bindung und Selbstbehauptung. In der ISTDP steht die präzise Auflösung solcher Abwehrketten im Zentrum: Abwehr, Angst, Gefühl, Bedürfnis, Selbst. Schematherapeutisch lassen sich diese Schritte als Moduswechsel beschreiben – vom Bewältigungsmodus über das verängstigte Kind hin zum wahren Bedürfnis. Die therapeutische Beziehung dient dabei als «sicherer Dritter», der emotionale Differenzierung ermöglicht und Integrationsprozesse moderiert.

Die Integration beider Ansätze erlaubt eine erweiterte Perspektive: Während die Schematherapie über das Modusmodell anschauliche Orientierung bietet, liefern die Experiential Dynamic Therapies (EDT) tiefgehende Prozessdiagnostik und Interventionslogik. Beide verfolgen das Ziel, das implizite emotionale Erleben ins Bewusstsein zu holen und dabei die strukturelle Integration zu fördern. Der gesunde Erwachsenenmodus ist damit nicht nur ein Modellbestandteil, sondern ein dynamischer Zielzustand – das wachsende Ich, das in der Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in wiederentdeckt und gestärkt wird. Zentral für diesen Prozess ist die Annahme, dass jeder Mensch – auch mit schwerer psychischer Erkrankung – über ein inneres Potenzial zur Reifung verfügt. Das Selbst ist nicht «kaputt», sondern verschüttet, fragmentiert, nicht zugänglich. Therapie bedeutet deshalb nicht Korrektur, sondern Befreiung: Das Wiederfinden und Verkörpern des gesunden Selbst jenseits von Symptomen, Diagnosen und Abwehrstrukturen. Es geht nicht um Funktionsanpassung, sondern um authentische Existenz.

Gerade bei chronifizierten Verläufen ist diese Haltung von zentraler Bedeutung: Statt resignativer Etikettierung als «schwer krank» oder «austherapiert» tritt eine Haltung der realistischen Hoffnung. Psychische Erkrankung wird nicht als statisches Defizit verstanden, sondern als dynamische Ausdrucksform eines Menschen, der bisher keine andere Möglichkeit zur Selbstorganisation finden konnte. Der Modus des gesunden Erwachsenen steht damit exemplarisch für die therapeutische Haltung insgesamt: dialogisch, ressourcenorientiert, beziehungsfokussiert – und zutiefst menschlich.

Therapeutische Haltung und Beziehungsgestaltung: Co-Regulation, Undoing Aloneness

Ein zentrales Wirkprinzip der schematherapeutischen Behandlung schwer psychisch erkrankter Menschen liegt in der Gestaltung eines sicheren interpersonellen Raums, in dem bisher unbewusst oder isoliert erlebte Anteile in Beziehung treten können. Dabei kommt der therapeutischen Haltung eine Schlüsselrolle zu – sie ist nicht bloss Trägermedium von Techniken, sondern der eigentliche Wirkfaktor, insbesondere bei strukturell eingeschränkten Patient:innen. Die Beziehung wird zum Ort der Co-Regulation, Spiegelung, Differenzierung und Integration.

Für viele Patient:innen mit Psychosen oder schweren Persönlichkeitsstörungen war Beziehung in ihrer Lebensgeschichte keine Ressource, sondern Auslöser von Schmerz, Beschämung, Bedrohung oder Vernachlässigung. Die therapeutische Beziehung stellt daher ein potenziell traumareaktivierendes, aber auch transformierendes Feld dar. Therapeut:innen sind gefordert, diesen Spannungsraum achtsam zu gestalten – präsent, emotional resonant und reflektiert. Frederickson (2020) beschreibt dies als «Healing through relating»: Die Beziehung selbst wird zum Ort der Veränderung, nicht nur zum Kontext für Interventionen.

Zentral ist dabei das Konzept des Undoing Aloneness, wie es Diana Fosha (2021) in der AEDP formuliert: Menschen heilen nicht allein, sondern im Angesicht eines Anderen. Diese Haltung impliziert nicht nur Mitgefühl, sondern auch Mut zur echten Begegnung (Pando-Mars & Fosha, 2025). Die Therapeutin ist kein neutraler Beobachter, sondern ein mitfühlendes Gegenüber, das sich mit seinen emotionalen Resonanzen in den Prozess einbringt – wohlwollend, transparent und professionell gehalten. Dies bedeutet auch, die eigene Reaktion auf projektive und interaktionelle Angebote wahrzunehmen und als diagnostisches und therapeutisches Material zu nutzen.

Die Begegnung findet nicht in einem affektneutralen Raum statt, sondern im Spannungsfeld von Übertragung und Gegenübertragung, das sich im Modusmodell intersubjektiv denken lässt: Die Modi der Therapeutin treffen auf die Modi der Patientin. In der Arbeit mit schwer erkrankten Menschen zeigt sich hier oft eine Aktivierung von elterlichen oder beschämenden Modi auf beiden Seiten, was zu wechselseitigen Abbrüchen führen kann – in Therapie wie in Versorgungssystemen. Eine bewusste Metareflexion dieser Prozesse – wie sie auch Barsness (2021) in der relationalen Psychoanalyse beschreibt – ist zentral für eine haltende Beziehungsgestaltung.

Therapeutische Beziehung bedeutet auch, innere Prozesse sichtbar und sagbar zu machen – in Worten, Gesten, Blicken. Der «unverfügbare Affekt» (Mentzos, 1988) wird durch Co-Regulation in einen «gemeinsamen Raum» gebracht, wo er sich differenzieren und verändern kann. Dies erfordert vom therapeutischen Gegenüber Präsenz, Geduld, aber auch die Bereitschaft, sich irritieren zu lassen, und den Mut, klare Grenzen zu setzen, wenn destruktive Muster die Beziehung bedrohen. Gerade in Momenten intensiver Übertragung (z. B. Parentifizierung, Idealisierung oder Devaluation) ist es hilfreich, über das Modusmodell zu externalisieren und damit gemeinsam zu mentalisieren.

Diese Haltung steht im Gegensatz zu einer reinen Defizit- oder Funktionsorientierung. Sie erfordert, die Person in ihrer ganzen existenziellen Komplexität zu sehen – jenseits von Symptomen, Diagnosen und funktionalen Zuschreibungen. Viele Patient:innen erleben sich durch diese Haltung erstmals als «gesehen» – als jemand, der nicht defekt, sondern verletzt ist. In der therapeutischen Begegnung kann sich ein neues Selbstbild entwickeln: nicht das alte, pathologisierte Ich, sondern ein wachsendes, integratives Selbst, das sich selbst mitfühlend und differenziert wahrnehmen kann. Ein solcher Zugang stellt hohe Anforderungen an Therapeut:innen – emotional, konzeptionell, institutionell. Es braucht daher eine Kultur der Selbstreflexion, kollegialen Unterstützung und strukturellen Anerkennung dieser komplexen Arbeit. Die Institutionen, in denen diese Prozesse stattfinden, sollten dies ermöglichen, nicht erschweren. Wenn – wie Lakoff (2014) beschreibt – der Staat als «strenger Vater» agiert, drohen autoritäre, standardisierte Prozesse. Wenn er als «fürsorgliche Elternfigur» denkt, kann er Bedingungen schaffen, unter denen Beziehung heilsam wird – auch institutionell.

Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung in diesem Sinne ist nicht beliebig, sondern fundiert: neurobiologisch (Cozolino, 2024), entwicklungspsychologisch, metapsychologisch. Sie ist das verbindende Element zwischen Schematherapie, ISTDP, AEDP und relationalen Ansätzen. Sie ist nicht Methode, sondern Haltung. Eine Haltung, die Beziehung nicht als Technik, sondern als existenzielle Begegnung versteht – und als Chance für gemeinsame Reifung.

Therapie und Prävention im transdiagnostischen Framework: Empowerment, gesellschaftliche Angebote

Die Behandlung schwer psychisch erkrankter Menschen erfolgt in einem fragmentierten System: Zwischen verschiedenen Berufsgruppen, Versorgungssettings, Bundesländern und Gesetzesgrundlagen bestehen Brüche, Zuständigkeitslücken und Widersprüche. Häufig gleicht die Versorgung einem Flickenteppich, in dem Kliniken, Praxen, Rehaträger, Sozialdienste und Angehörige jeweils eigene Sichtweisen, Methoden und Erwartungen vertreten – oft ohne ein gemeinsames Bezugsmodell. Ein integratives, neuro-bio-psycho-soziales Rahmenkonzept ist daher nicht nur ein theoretisches Ideal, sondern eine praktische Notwendigkeit.

Psychotherapie kann innerhalb dieses Systems eine verbindende Rolle einnehmen – vorausgesetzt, sie wird nicht auf Manualtreue und Symptombehandlung reduziert. Der hier vorgeschlagene schematherapeutische Bezugsrahmen ist nicht identisch mit einem klassischen ST-Protokoll, sondern dient als integratives Metamodell. Er vereint Aspekte aus Schematherapie, ISTDP und AEDP, um Bedürfnisse, Abwehr und Beziehung dynamisch zu erfassen und zu bearbeiten. Schizophrenie wird dabei nicht als homogene Diagnose verstanden, sondern als «umbrella term» für verschiedenste Pathomechanismen und Lebensgeschichten (van Os et al., 2023). Entscheidend ist ein individuumszentriertes und kontextsensibles Verständnis psychischer Gesundheit. Die ICF bietet dafür eine hilfreiche Perspektive: Nicht Symptome allein sind entscheidend, sondern die Einschränkungen in der Teilhabe und die Barrieren in Umwelt und Institution. Therapeutische Angebote sollten daher nicht standardisiert, sondern adaptiv sein – geleitet von der Frage: Was braucht diese Person in diesem Moment, um wieder in Beziehung zu treten, sich zu regulieren, zu verstehen und sich selbst zu erfahren?

Eine so verstandene Therapie geht über Techniken hinaus. Sie ist eine Form der gemeinsamen Bedeutungsgebung – und damit auch eine Form der politischen Praxis. Sie wirkt empowernd, wenn sie Patient:innen hilft, ihre Symptome als Ausdruck von Bedürfnissen, biografischen Traumata und sozialen Zuschreibungen zu verstehen. Sie ersetzt das Stigma durch Narrativ, das Defizit durch Sinn. Das bedeutet auch, dass gesellschaftliche und kulturelle Angebote (z. B. Rituale der Trauer oder Initiation, religiöse Räume, Gemeinschaften, kreative Räume) präventive und regulierende Funktionen erfüllen können (Malbrancke, 2020). In einer zunehmend säkularen, digitalen und individualisierten Welt fehlt es vielen Menschen an Halt. Staatliche Institutionen können hier als «nährende Eltern» wirken – oder, wie Lakoff (2014) warnt, als «strenge Väter», die mit Kontrollfantasien auf Komplexität reagieren. Die Ausgestaltung von Sozialpolitik, Schulstrukturen, Wohnungslosenhilfe oder Präventionsprogrammen ist daher nicht neutral, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung zum Menschenbild: autoritär-defizitorientiert oder partnerschaftlich-ressourcenorientiert. Programme wie das isländische Präventionsmodell (Meyers et al., 2023) oder gemeindenahe Interventionsmodelle (Deuschle et al., 2020) zeigen, dass nachhaltige Veränderung möglich ist, wenn Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Werbung, Schulpolitik, Raumgestaltung, Familienförderung – all dies beeinflusst psychische Gesundheit, weit über das medizinische System hinaus.

Psychotherapie muss sich in diesen Kontext einfügen, ohne sich funktionalisieren zu lassen. Sie bleibt ein besonderer Ort: ein Beziehungsraum, in dem Verletzlichkeit gezeigt werden darf, ohne sofort «behandelt» zu werden. Zugleich kann sie Wegweiser sein – für einen humaneren Umgang mit Unterschiedlichkeit, Irritation, Leiden. Das bedeutet auch: Bücher, Biografien und Erfahrungsberichte können wichtige Ressourcen sein – nicht nur zur Psychoedukation, sondern zur Identifikation und Hoffnung. Werke wie Morgen bin ich ein Löwe (Lauveng), Hidden Valley Road (Kolker) oder Die Lügen, die wir uns selbst erzählen (Frederickson) geben Einblicke in Innenwelten und machen Veränderung vorstellbar. Ein transdiagnostischer, integrierter Ansatz bedeutet nicht, alle gleich zu behandeln. Im Gegenteil: Er achtet auf Unterschiede, Kontext, Struktur. Er betont Beziehung vor Technik, Haltung vor Protokoll. Und er sieht Therapie nicht als Reparaturmechanik, sondern als Mitgestaltung eines sinnvollen Lebens. In diesem Verständnis wird Psychotherapie zum Bindeglied: zwischen Selbst und Welt, Vergangenheit und Zukunft, Leiden und Entwicklung.

Schlussbetrachtung: Integration, Heilungsperspektive, Zukunft

Schwere psychische Erkrankungen stellen das Gesundheitssystem ebenso wie die therapeutische Haltung auf die Probe. Oft sind es Patient:innen, die institutionell zwischen die Raster fallen – zu gesund für die Psychiatrie, zu «schwierig» für die ambulante Psychotherapie. Ihr Leid verweist auf ein Systemproblem, aber auch auf die Chance, neue Wege zu denken: verbindend statt trennend, sinnstiftend statt defizitorientiert. Der vorgeschlagene schematherapeutische Bezugsrahmen ist kein dogmatischer Ansatz, sondern eine integrative Perspektive. Er erlaubt es, bestehende Therapien, Präventionsmassnahmen und Versorgungsangebote in einem gemeinsamen, neuro-bio-psycho-sozialen Verständnis zu verorten. Indem Symptome als Ausdruck eines Kampfes um Beziehung, Autonomie, Sicherheit und Sinn gedeutet werden, können sie als Ausgangspunkt eines individuellen Reifungsprozesses verstanden werden – statt als endgültige Etiketten. Der gesunde Erwachsenenmodus fungiert dabei als Metapher für psychische Integration: ein Zustand, in dem Emotionen reguliert, Bedürfnisse erkannt, Affekte differenziert und Beziehungen reflektiert gestaltet werden können. Dieser Modus ist nicht immer verfügbar, aber kultivierbar – durch therapeutische Beziehung, körperliche Erfahrung, soziale Einbettung, sinnvolle Tätigkeit. Je nach strukturellem Ausgangsniveau braucht es hierfür mehr Zeit, mehr Begleitung, mehr Raum. Aber das Ziel bleibt: nicht Anpassung an Symptome, sondern Entwicklung des Selbst.

Ansätze wie die Experiential Dynamic Therapy (EDT) und die Intensive Short-Term Dynamic Psychotherapy (ISTDP) zeigen, dass auch schwere und chronifizierte Störungen veränderbar sind, wenn Abwehrmechanismen als Schutz verstanden und auf tieferliegende Bedürfnisse hingearbeitet wird (Abbass & Town, 2025; Frederickson, 2020. Heilung wird dabei nicht als «Zurück zur Norm» verstanden, sondern als ein «Vorwärts zu mehr Selbst». Psychotherapie allein kann nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Aber sie kann Resonanzraum sein für die Fragen, die Menschen mit sich tragen: Wer bin ich? Was macht mich aus? Wofür lohnt es sich zu leben? In einer Zeit der Verunsicherung, Polarisierung und Systemüberlastung braucht es solche Räume – professionell, zugewandt, verstehend. Therapie wird so nicht zur Reparaturwerkstatt, sondern zur Einladung, gemeinsam Mensch zu sein.

Literatur

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Enabling healing instead of managing symptoms

An integrative schema therapy framework for the treatment of severe mental illness

Abstract: Severe mental illnesses such as schizophrenia-related syndromes pose significant challenges to treatment, care, and prevention. Despite a wide range of available interventions, a unifying framework that integrates therapeutic, institutional, and societal levels is often lacking. This article proposes a schema therapy-based and metapsychologically expanded understanding that incorporates a structure-oriented perspective, current neurobiological research, and key principles of emotion-focused psychotherapy (ISTDP, EDT). The central focus is on strengthening the Healthy Adult Mode as a therapeutic goal. In addition to clinical treatment, the paper highlights the importance of preventive approaches – with reference to ACEs, the ICF framework, and transdiagnostic perspectives on care. The article advocates for a coordinated, humanistic, and evidence-based understanding of psychological healing.

Keywords: Schema Therapy, severe mental illness, healthy adult mode, therapeutic relationship, ISTDP, Integrative Psychotherapy

Biografische Notiz

Dr. Eik Niederlohmann ist Facharzt für Psychiatrie und ärztlicher Psychotherapeut und in eigener Praxis in Leipzig sowie klinisch im Bereich der Psychosomatischen Medizin tätig. Er arbeitet zusätzlich als Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter in der psychotherapeutischen Weiterbildung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der integrativen Behandlung schwer psychisch erkrankter Menschen, insbesondere unter Einbezug schematherapeutischer, psychodynamischer und neurowissenschaftlicher Perspektiven.

Kontakt

E-Mail: kontakt@praxis-niederlohmann.de