Buchbesprechung

Riedel, I. (2024). C. G. Jung und Meister Eckhard. Eine Begegnung
Patmos, 142 S. 17.00–28.90 CHF, 18.00 EUR ISBN 978-3-8436-1550-1

Psychotherapie-Wissenschaft 15 (1) 2025 93-94

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2025-1-93

Ingrid Riedel präsentiert mit ihrem neuen Buch C. G. Jung und Meister Eckhart ein beeindruckendes Werk über die Verbindung des Denkens dieser beiden prägenden Persönlichkeiten ihrer Zeit. Beide befassten sich mit der Seele des Menschen in ihrer existenziellen Tiefe und beide verbindet die Eigenschaft, dass sie vom seelischen Erleben ausgehen und nicht von gesellschaftlich vorgegebenen Vorstellungen. Die Tatsache, dass sie von Phänomenen ausgehen, ist die Voraussetzung dafür, dass Jung sich als Wissenschaftler auf Meister Eckhart beziehen kann. Ihr gemeinsames Forschungsobjekt war die Seele. Meister Eckhart hatte mit der weitgehend visionären Mystik des Mittelalters nur wenig gemeinsam. Vielmehr war er in Paris seit 1302 verschiedentlich ein akademischer Lehrer an der berühmtesten Fakultät jener Zeit, wie Riedel im kurzen biografischen Überblick schreibt. Seine Mystik hat einen philosophischen Hintergrund, auf den man sich als Wissenschaftler*in heute noch beziehen kann. Er hat das theologische Denken seiner Zeit gesprengt, indem er den Menschen nicht von Gott her, sondern aus sich selbst heraus begründete. Damit bedingen sich Gott und Mensch gegenseitig.

Dass Ingrid Riedel die Begegnung zwischen Jung und Meister Eckhart aus heutiger psychotherapeutischer Sicht beschrieben hat, ist ein Gewinn für alle, die sich für die tieferen seelischen Dimensionen interessieren, die über die reine Therapie hinausgehen. Sie schöpft aus der Erfahrung eines langen Lebens als Therapeutin und Universitätslehrerin in Theologie. Zudem hat sie sich seit ihrer Ausbildung in Jung’scher Psychotherapie mit der Verbindung des Denkens dieser beiden Persönlichkeiten beschäftigt, die 700 Jahre auseinanderliegen. Wir erfahren, dass C. G. Jung ein Leben lang inspiriert war von Meister Eckhart, wie er in seinen «Erinnerungen» und in seinen späten Briefen immer wieder bekannt habe. Die Autorin geht den «Begegnungsmomenten», den Textstellen, wo sich Jung auf Eckhard bezieht, nach und zeigt, an welchen Stellen seines Werks und in welcher Weise Jung sich von Meister Eckhart angeregt wusste.

Die beiden Welten der Eckhart’schen Philosophie und Psychotherapie lassen sich miteinander verbinden, weil es bei Jung nicht um Gott im theologischen Sinn geht, sondern um das Gottesbild als Symbol des Selbst, als Archetyp der Ganzheit, das all die Inhalte enthält, die darin gefasst werden können. Damit handelt es sich um ein psychologisches Phänomen und um psychologisch fassbare Erlebnisinhalte. Ihre tieferen Dimensionen erfasst Riedel unter dem Begriff der Seele, da es um tiefere und existenziellere Inhalte und um Lebensthemen geht, als sie mit dem Begriff der Psyche assoziiert werden, da dieser eher mit rational-technischen und verhaltens-psychologischen Vorgängen konnotiert ist. In der analytischen Psychologie Jungs unterscheiden sich die Begriffe «Ich» und «Selbst», indem das dem Bewusstsein zugeordnete Ich mit dem viel grösseren Selbst verbunden ist, das das schöpferischen Potenzial des Unbewussten beinhaltet. Die Selbstwerdung ist das virtuelle Ziel des Individuationsprozesses, der Ganzwerdung des Individuums: «Sie entfaltet sich, indem sie vom Menschen gesucht und empfangen wird» (S. 72).

«Für Jung bedeutet und bestärkt Meister Eckharts Vorstellung von der wesenhaften Verbundenheit des Menschen mit Gott seine eigene Idee von der Selbstwerdung des Menschen. Für Jung vollzieht sich in dieser Verbindung des Menschen mit Gott die Verwirklichung des Selbst. Wird der Mensch mit seinem Ich-Bewusstsein an das schöpferische Potential, das auch die bisher unbewussten Lebensmöglichkeiten enthält, angeschlossen; er wird zum ganzen Menschen, in dem zugleich ein Aspekt der Gottheit sichtbar, lebbar und erlebbar werden kann. Für Jung bedeutet diese Vorstellung Eckharts also eine Symbolisierung der Selbstwerdung des ganzen Menschen, der sich mit dem göttlichen Funken im Seelengrund und der bis dahin unbewussten Gottheit mit all ihren schöpferischen Lebenselementen immer mehr verbunden fühlt» (S. 73). Riedel schreibt weiter: «Das Selbst ist einerseits ein Konstrukt. Als innerseelische Wahrnehmung wird es von Jung aber zugleich als eine vitale Erfahrung bezeichnet, als ein Prozess von Selbstregulierung und Selbstzentrierung, wobei zugleich der Seelengrund – das, was von Grund auf da ist – erfahrbar wird», zitiert Jung: «Dieser Vorgang der Menschwerdung wird in Träumen und inneren Bildern als allmähliches Hervortreten und Deutlichwerden von etwas, das stets vorhanden war, dargestellt», und fährt fort: «[…] einer potentiellen Ganzheit nämlich. Jung folgt hier Meister Eckhart, der die Einheit des Seelengrundes von Anfang an gegeben sah, noch ehe der Mensch dessen bewusst werden kann im Sinne einer Voraussetzung für den Lebensauftrag eines jeden Menschen: ‹Werde, der du bist.› Und was du, empirisch betrachtet noch nie warst!» (S. 104).

Gleich zum Anfang des Buchs bringt die Autorin ihren Leser*innen Meister Eckhart näher. Sein kühnes Denken ist atemberaubend. Es zeigt sich z. B. im «ohne Warum» oder «sunder warumbe», wie es in Eckharts mittelalterlichem Hochdeutsch heisst, und bezieht sich dabei auf das Leben selbst. Sie schreibt: «So bei Eckhart: ‹Wer das Leben fragte tausend Jahre lang: «Warum lebst du?» – könnte es Antworten, es spräche nichts anderes als: «ich lebe darum, dass ich lebe.» […] darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es (für) sich selbst lebt. […] Kühn – weshalb? Darf, ja muss man es so nennen? Eckhart fragt: «Warum lebst du?» – «Traun, ich weiß es nicht!» (Aber) ich lebe gerne!› […] Kühn, weil es alle verkrampfte Suche nach einem speziellen Sinn überflüssig machte – und was haben sich Philosophie, Theologie und nicht zuletzt auch die Psychologie samt Psychotherapie damit abgequält! Auf ein solches überlegenes Denken und Empfinden stösst C. G. Jung bei Meister Eckhart, dem er seit seinen frühen Jahren immer wieder in seinen Studien begegnet und den er zu allen Zeiten in seinem Lebenswerk zitiert und zu Wort kommen lässt» (S. 17). Sie fragt: «Bei allen Erfahrungen des Unsinns, des Widersinns und auch immer wieder einmal des Sinnes, die ja alle zum Leben gehören, gilt nicht dennoch und vor allem anderen: Ich lebe darum, dass ich lebe?», zitiert Meister Eckhart «Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird» (S. 18), und weiter: «[…] das heisst für Eckhart zugleich aus Gottes Lebensgrund selber» (S. 19). Riedel erwähnt, dass das «ohne Warum» des Lebens bei Jung ein tiefgehendes Echo auslöste, spürte er darin doch von Jugend an den «Hauch des Lebens» (S. 30).

Nach dieser Einführung in eine der Grundlagen des Eckhart’schen Denkens geht Riedel auf die Begegnungsmomente ein, die Jungs Denken beeinflussten. Ein zentraler Gedanke Eckharts, der Jung berührte, war der von der «Gottesgeburt in der Seele» – eine mutig ausgedrückte Erfahrung Gottes als eine Erfahrung der Seele, wie Riedel schreibt. Damit schafft sie für die Leser*innen einen orientierenden Mittelpunkt: Das Selbst als Gottesbild, um das sich die Begegnung dieser beiden Denker dreht. Der Mittelpunkt befindet sich in der Seele in der Beziehung zwischen dem Ich und dem kollektiven Unbewussten, die durch eine Funktion miteinander verbunden sind. Er bezeichnet sie als «transzendente Funktion», die bewusstseins-transzendente Inhalte in symbolischer Form zum Bewusstsein bringt. Um Missverständnisse zu vermeiden, handelt es sich nicht um einen esoterischen Vorgang. Es geht dabei mit rechten Dingen zu, indem das kollektive Unbewusste stammesgeschichtlich, d. h. evolutionär erworbene Fähigkeiten und Verhalten enthält, die es für das Bestehen in unserer komplexen sozialen und materiellen Welt braucht. «Die Seele als Wahrnehmungsfunktion des Bewusstseins erfasst Inhalte aus der Tiefe des Unbewussten, und als schöpferische Funktion gebiert sie deren Kräfte und sowie deren Dynamik in symbolischer Form und gibt ihnen sprachliche Gestalt» (S. 35). Eines dieser Sprachbilder ist z. B. die «Gottesgeburt in der Seele» (S. 41). «Es geht dabei um die symbolisierende Einstellung als einer grundsätzlichen Fähigkeit der menschlichen Seele, um das polare Zusammenspiel in ihr zwischen einem begrenzten, ichhaften Subjekt, wie Jung es später ausführt und definiert – ein Zusammenspiel, das zu einer Erweiterung der inneren Bilder und auch Begriffe führt.»

Neben der beschriebenen Linie des Buchs gibt es noch andere. Eine davon muss noch kurz erwähnt werden: Das Tun und Nicht-Tun im Taoismus und bei Meister Eckhart. Zur gleichen Zeit als Jung sich mit der Symbolik des Selbst beschäftigte, begegnete ihm die östliche Lebensweisheit durch den von Richard Wilhelm herausgegebenen und erläuterten taoistischen Text Das Geheimnis der goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch (vgl. S. 74). Diese taoistische Idee des Tuns im Nicht-Tun ist ihm bereits durch Meister Eckhart entgegengekommen: «Man muss psychisch geschehen lassen können», das sei die wahre Kunst, schreibt Jung. Er konkretisierte dies auch in seinen Therapien. In der Auseinandersetzung mit dieser Philosophie hat Jung die erste Anregung zur Anwendung von Imagination, sowie für Mal- und Gestaltungstherapie gefunden.

Das Denken Meister Eckharts ausserhalb der Konventionen erklärt die Faszination, die dieser heute noch ausübt. Für mich war das Buch sehr inspirierend, es hat mich in der Arbeit am Thema der säkularen Spiritualität auf neue Gedanken gebracht: Eckharts Begründung des Menschen aus sich selbst und die gegenseitige Bedingtheit von Mensch und Gott kann eine Philosophie für eine säkulare Spiritualität sein, die nicht auf Gott verzichten muss. Mit Jung ist es eine Frage der Perspektive auf das Gottesbild. Die Analytische Psychologie nimmt eine säkulare Perspektive ein, kompatibel mit dem modernen Konstruktivismus und neurobiologischen Erkenntnissen. Die religiöse Perspektive ist eine gläubige, kompatibel mit einer Religion. Beide Perspektiven können in ihrer höchsten Form zu Erlebnissen und Ergriffenheit führen, die sich nicht unterscheiden lassen. Es ist das reine Sein. Agnostizismus ist hier als Diskurs des Wissens überstiegen und darum als Mentalität des Habens völlig irrelevant, genauso irrelevant wie der Vorwurf des «Nichts als» an die wissenschaftliche Perspektive.

Für Jung’sche Therapeut*innen stellt die Begegnung Jungs mit Meister Eckhart eine vertiefende Sicht auf Jungs Psychotherapie dar und für Therapeut*innen anderer Schulen bietet sie ein Verständnis der geistigen Dimensionen des Individuationsprozesses. Das Buch ist sehr dicht und stellt intellektuelle Ansprüche, vermittelt aber keine papierene Theorie, man spürt das persönliche Erleben der Autorin in jeder Zeile. Es wird eines jener Bücher sein, die man nicht nur einmal im Leben liest und dabei jedes Mal neue Erkenntnisse gewinnt.

Mario Schlegel