Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 5–6
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Ich freue mich, Ihnen erneut ein sehr vielseitiges Heft vorlegen zu können. Als Titelthema hatten wir «Einsamkeit» festgelegt. Wir wollten das Thema aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchten, fanden aber leider innert gegebener Zeit nicht genügend AutorInnen. Nur gerade zwei Beiträge behandeln dieses. Dafür sind verschiedene, sehr interessante Originalbeiträge eingetroffen, die ein breites Spektrum an Themen abdecken. Es ist ein gutes Zeichen für eine Zeitschrift, wenn unaufgefordert Originalbeiträge eintreffen. Das zeigt, dass sie sich als Publikationsorgan etabliert hat.
Zum thematischen Einstieg schreibt Mareike Ernst über die Entwicklung, Risikofaktoren und Schutzmechanismen von Einsamkeit in der Lebensspanne und im höheren und hohen Lebensalter. Sie beschreibt Einsamkeit als substanzielles Gesundheitsrisiko. Der Schwerpunkt der Forschung liegt häufig im höheren Lebensalter, Einsamkeit kommt aber auch früher vor, mit einem ersten Höhepunkt im jungen Erwachsenenalter. Die Autorin beschreibt nicht nur die Entwicklung von Einsamkeit im gesellschaftlich-kulturellen Kontext, sondern schlägt auch die Brücke zur Psychotherapie, wo die Arbeit am Thema Einsamkeit einen wichtigen Fokus darstellen kann, um diese zu lindern und Betroffene zu stärken.
Helene Haker Rössler berichtet über Einsamkeit im Zusammenhang mit Menschen, die an einer Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter leiden. Autismus und Einsamkeit scheinen eng zusammenzugehören. Das Bedürfnis nach Beziehung ist bei Menschen mit Autismus nicht primär reduziert, Verbindung zu finden ist jedoch schwierig. Die Autorin unternimmt eine Beschreibung aus Sicht der neueren, mechanistischen neurowissenschaftlichen Erklärungsmodelle. Wie entstehen die eigenen geistigen Welten Betroffener, die so schwierig mit den geistigen Welten anderer Menschen zur Deckung zu bringen sind? Sie schreibt über Möglichkeiten, der Einsamkeit zu entkommen; über die Fähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten. Der Beitrag ist geschrieben aus der Perspektive von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, die den langen Weg aus der eigenen Welt hinaus in die fremde Welt der anderen Menschen gewagt und sich erarbeitet haben.
Julia Winkler und Brigitte Schigl präsentieren ein Forschungsprojekt, das die Einflussfaktoren auf die Entwicklung einer bulimischen Essstörung untersuchte. Es wurde untersucht, ob die Betroffenen einen Zusammenhang zwischen ihrer Erkrankung und der Beziehung zu ihrer Mutter sehen bzw. welche anderen Erklärungen die Töchter für die Entwicklung ihrer Krankheit haben. Dazu wurden fünf Frauen mit Bulimie zu ihrer Erkrankung und zur Beziehung zu ihrer Mutter mittels narrativen Interviews befragt. Die gewonnenen Daten wurden sodann mittels dokumentarischer Methode ausgewertet und dabei eine formulierende und reflektierende Interpretation, sowie, im letzten Schritt der Auswertung, eine komparative Analyse durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mütter in den Augen ihrer Töchter einen Einfluss auf die Entwicklung der Erkrankung haben. Allerdings konnten noch weitere Aspekte festgestellt werden, wie der Einfluss von Hänseleien innerhalb und ausserhalb der Familie oder die Nutzung sozialer Medien.
Eric Pfeifer nimmt das aktuelle Thema «Klimakrise, Natur und Psychotherapie» auf. Natur und Naturerfahrung sind wichtige Bausteine einer gesunden menschlichen Entwicklung und bedingen in positiver Weise psychische und physische Gesundheit. Globale Krisen, wie z. B. Klimawandel, Umweltzerstörung, wirken sich auch auf die menschliche Gesundheit aus. Psychotherapiekammern und -verbände appellieren deshalb an die Psychotherapeut*innenschaft, sich mit dem Thema Klimawandel auseinanderzusetzen. Der Beitrag enthält eine entsprechende Fallvignette aus der psychotherapeutischen Praxis sowie eine Kurzdarstellung der klinischen Studie «Psychotherapie im Gehen in der Natur für an Depression erkrankte Patient*innen». Psychotherapie verfügt über die Potenziale, um sich als wirksamer «Agent of Change» innerhalb des Diskurses «Klima – Natur – psychische Gesundheit» einbringen zu können.
Jean Schulthess Watt widmet sich dem Thema der Verwendung psychotroper Substanzen in der Psychotherapie, wie dies an verschiedenen psychiatrischen Kliniken im Rahmen von Forschungsprojekten praktiziert wird. Die Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass PatientInnen in Verbindung mit einer Psychotherapie davon profitieren könnten. Die Autorin sieht eine Renaissance dieser Praxis seit den 1990er Jahren. So wie andere Psychopharmaka eingesetzt werden, könnten – mit gar besserem Erfolg – auch psychotrope Substanzen ein neuer Standard der Wahl werden. Der Beitrag enthält einen historischen Abriss über die Verwendung psychotroper Substanzen in der Psychotherapie und wie diese durch die insbesondere amerikanische Drogen- und Gesundheitspolitik unterbunden wurde – zum Schaden der Forschung und der PatientInnen. Die Autorin schreibt in ihrer englischen Muttersprache, jedoch in einem einfachen und gut verständlichen Englisch. Für die deutsch- und französischsprachige Leserschaft bringen wir eine Zusammenfassung.
Christoph Eichert präsentiert eine Studie zur Integration verschiedener Psychotherapieansätze in der täglichen therapeutischen Praxis. Es wurden PsychotherapeutInnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit dem Zweck befragt, zu untersuchen, ob sich die in der Psychotherapiewissenschaft diskutierte Methodenintegration in der psychotherapeutischen Praxis widerspiegelt. Als Bezugsraster dient ein Konzept aus der Integrativen Therapie zu Heilfaktoren, Modalitäten und Beziehungsmodalitäten, Medien und Strukturebenen. Psychotherapeut:innen mit Zweitverfahren Integrative Psychotherapie und Psychotherapeut:innen aus der Schweiz, wo dieses Verfahren verbreiteter ist, schätzen die praktische Bedeutsamkeit von (Beziehungs-)Modalitäten, Medien und Strukturebenen höher ein.
Christa Futscher widmet sich einem wichtigen Forschungsthema. Sie untersuchte die individuelle Entwicklung von Forschenden als Faktor für «Wissenschaftlichkeit». Für die wissenschaftliche Grundlage der Psychotherapie ist die Abkehr von dieser vermeintlichen Objektivität besonders wichtig. Der Grundgedanke besteht darin, dass verschränkte, rekursive, intersubjektive und gesellschaftliche Austauschprozesse in ihren Grundfunktionen und Strukturen erkannt und ihre Dynamiken beschrieben werden. Zentral ist dabei der Raum, in dem diese Prozesse stattfinden, die Fantasie und das Erkenntnisstreben des Menschen unaufhörlich am Laufen halten. Der Rückgriff auf zentrale Grundfunktionen und Strukturen ermöglicht es, sie von den konkreten Forschungsinhalten zu trennen und damit das Allgemeine und Persönliche im Forschungsprozess zu erkennen.
Im Rahmen einer Diskussion innerhalb unseres Redaktionsteams um die wissenschaftliche Basis der Psychotherapie und um unseren Zeitschriftentitel wurde deutlich, dass jüngere KollegInnen in der Schweiz kaum mehr wissen, dass Psychotherapie seitens der ASP und der Schweizer Charta für Psychotherapie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin verstanden wurde und man sich auch für eine entsprechende Gesetzgebung stark machte, leider erfolglos. Zu sehr hat sich hierzulande das Verständnis etabliert, dass Psychotherapie eine psychologische Spezialisierung sei, so wie Psychiatrie in der Medizin. Dies ist nun aber nicht in allen europäischen Ländern so. So fanden wir es sinnvoll, einen Blick über den nationalen Tellerrand zu werfen. Miran Možina hat es übernommen, einen Einblick in Psychotherapieregelungen in verschiedenen europäischen Ländern zu geben, wo Psychotherapie als eigenständiger wissenschaftlicher Beruf geregelt ist bzw. entsprechende Gesetzgebungsverfahren am Laufen sind. Gern hoffen wir, dass dieser Beitrag den Blick über das hier selbstverständlich Gewordene verstört und den Horizont erweitert hin zum Verständnis der Psychotherapie als wissenschaftlichem Kulturgut. Dieser Beitrag wird in Englisch publiziert (der Autor ist Slowene) und auf deutsch übersetzt.
Im letzten Heft (PTW 1/2024, S. 9–17) ist ein psychotherapiewissenschaftlicher Beitrag von Kurt Greiner zur «Psychotherapie als Textmedizin» erschienen. Im Editorial wie auch seitens des Autors wurde zu einer Diskussion eingeladen. Wir bringen nun zwei kritische Repliken. Die eine stammt von Jürgen Kriz, einem weit herum bekannten Psychotherapieforscher, die andere von Gerhard Burda, einem psychotherapiewissenschaftlichen Kollegen von Kurt Greiner an der SFU. Der begonnene öffentliche Diskurs ist es Wert, weitergeführt zu werden.
Und zu guter Letzt bringen wir noch eine Umfrage unter den Mitgliedern der ASP als Leseecho. Peter Schulthess hat im Auftrag und in Abstimmung mit dem Vorstand der ASP eine LeserInnenumfrage durchgeführt, die darüber Aufschluss geben soll, wie gut verankert die Zeitschrift ist. Denn in der Folge nötiger Sparmassnahmen in der ASP aufgrund kostenintensiver berufspolitischer Aktivitäten ist die Weiterführung der Zeitschrift gefährdet. Die Umfrage zeigt, dass die PTW unter den Antwortenden gut bekannt ist, gelesen und geschätzt wird. Manche Einzel- wie auch Kollektivmitglieder sind bereit, einen freiwilligen finanziellen Zusatzbeitrag zur Sicherung der Weiterexistenz der PTW zu leisten.
Abschliessend finden Sie drei Buchbesprechungen. Eine betrifft ein Grundlagenwerk zur Psychotherapiewissenschaft von Kurt Greiner, eine weitere ist der Biografie über den Sozialanthropologen Francis Huxley gewidmet und die letzte bespricht auf Italienisch ein Buch von Lindsay Gibson über die Wunden von erwachsenen Kindern emotional unreifer Eltern.
Ich wünsche eine anregende Lektüre.
Peter Schulthess