Konstruktionen bulimischer Patientinnen über Einflussfaktoren auf die Entwicklung ihrer Essstörung
Julia Winkler & Brigitte Schigl
Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 29–35
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-2-29
Zusammenfassung: Untersuchungen zeigen, dass Mütter einen deutlichen Einfluss auf das Essverhalten ihrer Töchter haben. Ziel der vorliegenden Studie war es daher, die Beziehung zwischen bulimischen Töchtern und ihren Müttern aus Sicht der Tochter zu betrachten. Es wurde untersucht, ob die Betroffenen einen Zusammenhang zwischen ihrer Erkrankung und der Beziehung zu ihrer Mutter sehen bzw. welche anderen Erklärungen die Tochter für die Entwicklung ihrer Krankheit hat. Dazu wurden fünf Frauen mit Bulimie zu ihrer Erkrankung und ihrer Beziehung zu ihrer Mutter mittels narrativen Interviews befragt. Die gewonnenen Daten wurden sodann mittels dokumentarischer Methode ausgewertet und dabei eine formulierende und reflektierende Interpretation, sowie, im letzten Schritt der Auswertung, eine komparative Analyse durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mütter in den Augen ihrer Töchter einen Einfluss auf die Entwicklung der Erkrankung haben. Allerdings konnten noch weitere Aspekte festgestellt werden, wie der Einfluss von Hänseleien innerhalb und ausserhalb der Familie sowie die Nutzung sozialer Medien.
Schlüsselwörter: Essstörungen, Bulimia Nervosa, subjektive Krankheitstheorien, Mutter-Tochter-Beziehung, Qualitative Forschung
«Eine Bulimie entsteht nicht von heute auf morgen, sondern – wie jedes andere Körpersymptom auch – aufgrund einer schon lange andauernden, fehlgelaufenen Entwicklung, also mit einer inneren Vorbereitung, die schliesslich in das sichtbare Symptom einmündet» (Keppler, 1995, S. 49). Seit mehr als 50 Jahren beschäftigten sich Autor:innen mit der Frage, wodurch Essstörungen entstehen. Der Fokus der Untersuchungen lag und liegt dabei auf der Entwicklung einer Anorexia Nervosa. Über die Entstehung der Bulimia Nervosa (im weiteren Bulimie) ist im Vergleich noch nicht so viel bekannt. Über die vergangenen Jahre hat das Forschungsinteresse an dieser Erkrankung und ihren Entstehungsfaktoren jedoch zugenommen. In der hier dargestellten Studie lag das Hauptaugenmerk auf der Mutter-Tochter-Beziehung von weiblichen Bulimie-Patientinnen und der Frage, ob Töchter einen Zusammenhang zwischen dieser Beziehung und der Entwicklung ihrer Symptome sehen. Auch andere subjektive Krankheitstheorien der Patientinnen sollten in einer qualitativen Forschung erhoben werden.
Seitdem das Krankheitsbild der Bulimie 1980 beschrieben wurde, beschäftigte die radikale Symptomatik und die Ursachen dieser Störung schon die erste Generation feministischer Psychotherapeutinnen. Sie interpretierten diese Essstörung als eine Strategie von Frauen, die gesellschaftliche und individuelle Ursachen hat (Focks, 1994; Keppler, 1995; Langsdorff, 1995; Becker, 1998; etc.), und interpretierten sie als Ambivalenz zwischen Anpassung und Widerstand in Bezug auf das herkömmliche Frauenbild und Schönheitsideal. Das scheinbar makellose Äussere von Frauen mit Bulimie, ihre angestrebte Perfektion, wird konterkariert durch die geheimen Praktiken des Erbrechens, die aggressive Energie selbstzerstörerisch binden. Aus Beobachtungen der therapeutischen Praxis kristallisierte sich auch der besondere Stellenwert der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern bei dieser Problematik heraus. Viele Autor:innen betonen die Intensität dieser Beziehung bei Frauen und Mädchen mit Bulimie, die durch eine hohe Ambivalenz gekennzeichnet ist (z. B. Keppler, 1995, Reich, 2010).
Bereits 1993 beschäftigten sich Moreno und Thelen in einer empirischen Studie mit dem Einfluss von Müttern auf das Essverhalten ihrer Töchter. Sie beschrieben, dass Mütter die Nahrungsaufnahme ihrer bulimischen Töchter im Vergleich zu Müttern von nicht-bulimischen Töchtern restriktiver kontrollieren. Mütter bulimischer Töchter ermutigen ihre Töchter dazu, Diäten zu machen und Sport zu betreiben, um ihr Gewicht zu halten oder zu reduzieren. Viele dieser Mütter betrachteten ihre Töchter eher als übergewichtig (auch wenn sie normalgewichtig sind). Die bulimischen Töchter gaben im Gegensatz zu der nicht-bulimischen Kontrollgruppe an, hohen Druck seitens ihrer Eltern wahrzunehmen, Sport zu machen und Diät zu halten (Moreno & Thelen, 1993). Die Aussagen dieser Studie wurden in ähnlichen Untersuchungen bestätigt und differenziert. Blissett und Kolleg:innen (2006) untersuchten die Same-Gender-Dyaden bei Eltern-Kind-Konstellationen und bestätigten, dass Mütter sich generell verantwortlicher für die Ernährung ihrer Kinder fühlten als Väter und diese auch stärker kontrollierten. Die Auftrittswahrscheinlichkeit von Bulimie korreliert mit Ernährungspraktiken bei Müttern von Mädchen, aber nicht bei Müttern von Jungen. Diese Resultate legen nahe, dass die Weitergabe von gewichtsbezogenen Sorgen in der Same-Gender-Dyade bei Mutter und Tochter wahrscheinlicher auftritt (ebd.).
Brun und Kolleg:innen (2020) belegten, dass Mütter, die selbst mit ihrem Körper unzufrieden sind oder Probleme mit ihrem Essverhalten haben, dazu tendieren, diese problematischen gewichtsbezogenen Verhaltensweisen auch bei ihren Töchtern zu initiieren oder zu verstärken. Die Töchter entwickeln leichter eine Unzufriedenheit mit ihrem Körper und gestörtes Essverhalten. Hart et al. (2020) fanden in ihrer Untersuchung ähnliche Ergebnisse. Sie konstatierten einen Zusammenhang zwischen der Angst der Mütter vor Fett – es wird nicht genauer beschrieben, ob damit Fett im Allgemeinen oder speziell Körperfett gemeint ist – und deren Diätverhalten. Bei den Töchtern konnten dieselben Resultate gefunden werden. Die mütterliche Angst vor Fett korreliert mit dem Diätverhalten ihrer Töchter. Noch strikter ist das Diätverhalten der Tochter, wenn auch sie selbst Angst vor Fett aufweist.
Abseits von jenen direkt mit Essen in Zusammenhang stehenden Erkenntnissen ist die Psychodynamik zwischen Müttern und Töchtern v. a. ab der Pubertät oft intensiv und hochambivalent. Mütter und Töchter sind einander tief verbunden, an die Beziehung wird von beiden Seiten hohe Ansprüche gestellt. Doppelbindungen und Schuldgefühle, wenn den Anforderungen nicht entsprochen werden kann, sind sowohl bei Töchtern wie auch bei Müttern zu finden (Friday, 2009).
Aus derartigen Erkenntnissen lässt sich folgern, dass die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern für die Entstehung einer (bulimischen) Essstörung eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wichtig ist hierbei im Blick zu behalten, dass diese Studien nicht als Mother-Blaming missinterpretiert werden dürfen. Sie verdeutlichen vielmehr die identifikatorische Dynamik in der Same-Gender-Dyade und den geteilten Schönheits- bzw. Schlankheitsdruck, dem Mütter wie Töchter in hochentwickelten westlichen Staaten ausgesetzt sind (Schigl, 2013). Dieser gesellschaftliche Einfluss darf nicht unterschätzt werden: Essstörungen sind Gender- und Culture-bound-Syndrome, in denen sich in der Psychodynamik weiblicher Individuen ihre Beziehung zu sich selbst und andere Makrodynamiken des sozialen Feldes abbilden (Schigl, 2024).
Der gesellschaftliche Einfluss zeigt sich auch in der Bedeutung sozialer Medien mit ihrer unüberschaubaren Flut an Bildern makelloser weiblicher Körper und den Tipps und Programmen, einen solchen zu erreichen und somit schön, d. h. schlank zu werden. Keppler konstatierte bereits 1995, dass sich jedes Mädchen im westlichen Kulturkreis in ihrer Entwicklung mit dem für Frauen geltenden Schlankheitsideal auseinandersetzen muss. Dieser Druck ist in den letzten Jahrzehnten sicher noch gestiegen und ist durch die Verbreitung in sozialen Medien für Frauen und Mädchen omnipräsent. Sowohl Santarossa & Woodruff (2017) als auch Saiphoo & Vahedi (2019) konnten in ihren Untersuchungen den Einfluss sozialer Medien auf Essstörungen verdeutlichen. Sie beschrieben, wie sowohl die problematische Nutzung von sozialen Medien in einem Zusammenhang mit dem Körperbild, dem Selbstwert und den Symptomen von Essstörungen stehen als auch die Gesamtdauer der Nutzung von sozialen Medien (Santarossa & Woodruff, 2017). Sie fanden einen signifikanten Effekt zwischen der Verwendung von sozialen Medien und einem gestörten Körperbild (Saipoo & Vahedi, 2019).
Besonders schlimm sind abwertende Bemerkungen über Körperlichkeit in Form von Hänseleien. Eltern, Geschwister und Peers, die solche Bemerkungen machen, fördern die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper bei den adressierten Mädchen. Hänseleien haben einen deutlichen Einfluss auf die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper bei Mädchen, weil (zumindest implizit) dabei immer ein sozialer Vergleich stattfindet. Das wirkt sich höchst negativ auf die Entwicklung des Körperbilds aus (Schaefer & Blodgett Salafia, 2014). Auch Øverland Lie und Kolleg:innen (2019) bestätigen in ihrer Meta-Analyse den Zusammenhang von Mobbing und der Entstehung von Essstörungen. Von Essstörungen Betroffene werden signifikant wahrscheinlicher gehänselt oder gemobbt als die gesunden Kontrollgruppen. Diese Evidenz zeigt sich besonders stark in Fällen der Bulimia Nervosa und der Binge-Eating-Störung (ebd.).
Ausgehend von den beschriebenen Prämissen untersuchte Winkler (2022) die Konstruktionen und Empfindungen bulimischer Töchter in der Frage, welchen Einfluss die Beziehung zu ihrer Mutter auf die Entstehung ihrer Erkrankung hat. Zusätzlich sollten weitere Faktoren gefunden werden, die aus Sicht der Töchter ebenso zur Entwicklung der Bulimie beigetragen haben könnten. Folgenden Fragen wurde im Detail nachgegangen: Wie beschreiben Patientinnen mit Bulimie die Beziehung zu ihrer Mutter? Sehen diese dabei einen Zusammenhang zu ihrer Erkrankung – wenn ja, in welcher Art und Weise? Welche sonstigen Erklärungen haben sie für die Entstehung ihrer Krankheit? Die Studie wurde einer Ethikkommission1 vorgestellt und erhielt ein positives Votum.
Die Stichprobe bestand aus fünf weiblichen Interviewpartnerinnen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die zum Zeitpunkt des Interviews unter Bulimie litten oder kürzlich genesen waren. Die Interviewten wurden durch eine Information über die Studie in sozialen Medien und im Schneeballverfahren durch ein Infoblatt zur Studie rekrutiert.
Für die Datenerhebung wurde die Form des narrativen Interviews gewählt. Bei dieser Form der Befragung steht die autobiografische Geschichte, also die Erzählung von selbst erlebten Prozessen, im Vordergrund. Es wird davon ausgegangen, dass ein solches Erzählen der Organisation der kognitiven Aufbereitung von Erfahrungen entspricht (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021). Nach einem Eingangsstimulus sollten die Interviewteilnehmerinnen frei über die Entstehung ihrer Erkrankung berichten. Sie wurden aufgefordert, alle für sie wesentlichen Erfahrungen mitzuteilen, die dazu beigetragen hatten, dass sich die Erkrankung entwickelte. Dieser erste Erzählanstoss enthielt bewusst keine Anmerkungen zur Mutter-Tochter-Beziehung, um zunächst abzuwarten, ob die Interviewten von sich aus die Mutter erwähnen und wenn ja, wie sehr darauf eingegangen wird. Erst im Anschluss an die Eingangserzählung wurde im Nachfrageteil explizit nach der Rolle der Mutter und der Mutter-Tochter-Beziehung gefragt.
Als Auswertungsmethode wurde die dokumentarische Methode herangezogen (ebd.). Diese korrespondiert mit dem narrativen Interview in der Datenerhebung und ermöglicht, auf detaillierte Erzählungen einzugehen und so die subjektiven Krankheitstheorien der Interviewteilnehmerinnen nachzuvollziehen. Nach einer formulierenden und reflektierenden Darstellung lag der bedeutendste Teil dieser Auswertungsmethode im letzten Schritt, der komparativen Analyse. Diese diente als übergreifende Interpretationstechnik, bei der homologe Sinnstrukturen identifiziert werden sollten. So beschriebene Sinnstrukturen sollten sich in einem Interview im Idealfall wiederholt finden und auch in weiteren Interviews zeigen. Somit lag der Hauptfokus der Auswertung im Finden von Gemeinsamkeiten sowie im Aufdecken der stärksten Unterschiede zwischen den Interviewten (ebd.). Die folgende Darstellung der Ergebnisse orientiert sich an dieser komparativen Analyse.
Im Zuge der komparativen Auswertung wurden die deutlichsten Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede zwischen den Interviewteilnehmerinnen (P1–P5) herausgearbeitet. Folgende thematische Aspekte traten dabei am deutlichsten zutage und werden mit Zitaten aus den Interviews illustriert. Die Zahlen in der Klammer zeigen an, wie viele der Interviewten darauf Bezug nahmen.
Mütterlicher Einfluss generell (5/5). In allen Interviews äussern sich die Töchter von sich aus und ohne Nachfrage über ihre Beziehungen zu ihren Müttern. Den Müttern wird von allen Töchtern ein bedeutender Einfluss auf ihre Entwicklung und somit auf die Entstehung ihrer Erkrankung zugeschrieben. Einige betonen auch die Wichtigkeit anderer Personen, aber die Mutter ist immer genannt:
«Also es hat auf jeden Fall eine Rolle gespielt ja ganz sicher … ich glaub dass andere Faktoren sicher eine größere Rolle gespielt haben aber (.) dass halt sie immer so viel Druck ausgeübt hat dass ich immer perfekt sein musste das auf jeden Fall also ja» (P2, Z. 118–120).
«[M]ir ist aufgefallen dass meine Mutter nicht so viel negativen Einfluss in meinem Leben (.) haben sollte … also es waren sie war sicher nicht der einzige Einfluss … es war sicher also der Junge war auch ein Großteil … aber (.) sie hat halt nicht wirklich irgendwas dagegen gemacht» (P1, Z. 87–90).
«[…] die Beziehung zu meiner Mutter mega verschlechtert hat aber auch halt eigentlich der Auslöser war» (P3, Z. 125f.).
Eine Interviewte spricht den Aspekt der Mutter als Role Model deutlich an:
«Ich würd auf jeden Fall einen Zusammenhang erkennen weil die Mutter ist ja das weibliche Vorbild» (P5, Z. 57f.).
Ambivalente Beziehung zur Mutter (5/5). Alle fünf Interviewteilnehmerinnen beschreiben das Verhältnis zu ihren Müttern sowohl positiv wie negativ. In einigen Interviews distanzieren sich die Interviewten explizit von ihren Müttern.
«Ja also teilweise hat meine Mama schon Verständnis gezeigt (.) phasenweise war wirklich viel Verständnis da (.) ähm und dann halt phasenweise gar nicht aber schon so» (P2, Z. 141f.).
«[D]a wars dann schon wieder so (.) dass ich mir dachte (.) schert sich ja doch» (P4, Z. 194f.).
Bei zwei Interviewteilnehmerinnen zeigt sich die Ambivalenz darin, dass sie einerseits eine negative Beziehung zu ihren Müttern beschreiben, andererseits jedoch ihren Müttern helfen möchten oder deren Aufmerksamkeit suchen.
«Ich versuch meine Mutter zu beschützen aber meine Mutter (.) lebt jahrelang in einer toxischen Beziehung (.) mit meinem Vater (.) wo auch Gewalt mit dabei ist und (.) ich kann ihr nicht helfen (.) also ist auch irgendwie toxisches Verhältnis, dass sie mir immer dieses Gefühl, dass sie mich nicht wertschätzen kann und trotzdem will ich ihr helfen weißt du (.) ist schwierig» (P5, Z. 135–139; ähnlich P1, Z. 119–122).
Sichtbar wird die Ambivalenz auch in der Sprache: Die Interviewten verwenden die Bezeichnung «Mutter», wenn eine problematische Seite der Beziehung angesprochen wird, und «Mama», wenn sie sich auf die liebevollen und positiven Beziehungsaspekte fokussieren:
«Dann immer, wenn ich dort gesessen bin, mein eigenes Essen gegessen hab, hat mir meine Mutter auch immer so nicht blöd angredet: Aber ja du kannst halt von uns auch! und dann wurde ich da aber ur aggressiv und so defensiv (.) gegenüber diesem Thema und war so: nein ich will meins essen! Lass mich doch einfach essen! und beim Abendessen bin ich nie gekommen und sie haben halt gesehen, dass es mir nicht gut ging […] … also ich hab mich es war ur schwer u:nd (.) es hat aber trotzdem funktioniert und da ist es mit meiner Mama besser geworden» (P3 Z. 104–109; Z. 142f.)
Negative Kommentare der Mütter (4/5). Vier der fünf Interviewteilnehmerinnen berichteten davon, dass ihre Mütter kritische und negative Kommentare zu ihrem Körper oder Essverhalten gemacht haben:
«Sie hat halt auch immer gesagt ja jetzt nimm mal ab» (P2, Z. 89).
«[D]er erste Kommentar den meine Mutter abgegeben hat war ein … äh du hast aber schon vor wieder abzunehmen» (P1, Z. 62f.).
«[D]ass das Thema generell (.) in der Jugend ultra schwierig ist mit Abnehmen und dann im Winter zu sagen, ja jetzt passt schon nimmer in die Skihose rein mit so nem sarkastischen Unterton, weil man sich selber eh schon denkt ich bin zu dick (.) ist dann nochmal so (.) das sind so kleine Sätze aber die merkt man sich dann halt» (P3, Z. 236–239).
«[I]ch musste immer meine Mutter fragen wenn ich was essen wollte (.) und dann ist sie halt immer so nein in zwei Stunden gibt’s eh Abendessen du brauchst jetzt nichts essen … also triggernd ist bis heute (.) was hast du denn schon wieder Hunger so (.) von meiner Mutter» (P5, Z. 151–154).
Idealbild der schlanken/dünnen Frau (3/5). In drei Interviews wird deutlich, dass einige Mütter das Idealbild einer dünnen Frau propagieren. Sie äussern sich dabei auch selbstkritisch, auch wenn in den Interviews nicht deutlich wird, inwiefern diese Anforderungen von ihnen auch verkörpert werden.
«Meine Mama ist keine dicke Person sie ist halt so (.) ’ne Mamafigur dickere Hüfte, wie ’ne Mama halt, und meine Mama hat halt immer zu sich gesagt dass sie zu dick ist» (P3, Z. 214–216).
«Sie hat, glaub ich, auch unterbewusst versucht mir zu erklären, dass das … eine Sache ist die ich … ähm prinzipiell bedenken sollte oder mir Gedanken drüber machen sollte (.) Sie hat’s nie wirklich aktiv angesprochen aber sie hat’s immer mal wieder so erwähnt so: ja ihre Hosen passen ihr viel besser, weil sie das halt (.) wegmachen hat lassen (.) und das schaut auch viel besser aus und man ist auch viel dünner deswegen» (P1, Z. 261–266).
«Ich [habe] einfach körperbild-schädliches Verhalten propagiert gehabt in meinem Elternhaus (.) also quasi es gab die dicke Mama und den dünnen sportlichen Papa (.) und ähm das wurde auch quasi in der Beziehung so vorgelebt du bist weniger wert, weil du bist dick» (P5, Z. 13–15).
Mütter haben ein restriktives Verhältnis zu Essen (2/5). Zwei der Interviewten berichteten davon, dass ihre Mütter – aus ihrer Sicht – auch ein gestörtes Verhältnis zu Essen aufweisen. Dies ist aus dem Gesamtbild dieser zwei Interviews auch deutlich herauszulesen:
«[W]enn ich halt bei meiner Nachbarin war durfte ich das essen was ich wollte u:nd meine Eltern also insbesondere meine Mutter war dann immer se:hr genervt (.) u:nd hat mir dann halt weniger zu essen gegeben weil (.) das muss man ja irgendwie ausgleichen sozusagen (.) anscheinend irgendwie weiß ich nicht» (P1, Z. 30–33)
«[I]m Nachhinein gesehen würd ich sagen ich war ein normal bis leicht übergewichtiges Kind … wüsst ich jetzt selber nicht u:nd dann wurde auch immer gesagt [von der Mutter]: Ja (.) die [Name] darf mehr esse, weil die [Name] ist dünn, die [Name] soll mehr essen und es wurde irgendwie auf meine Bedürfnisse irgendwie gar nicht so rück also (.) Rücksicht genommen» (P5, Z. 17–20).
«Dann hat dieses Diätmachen angefangen schon mit so acht oder zehn Jahren so: Abendessen durch Joghurt ersetzen. Meine Mutter hat das voll zuglassen weil sie kannte es nicht besser, weil sie ist (.) total in dieser Diätspirale mit chronischem also gestörtem Verhalten drin» (P5, Z. 23–25).
Neben diesen Abschnitten in den Interviews, in denen die Mütter im Zentrum standen, liessen sich in den Erzählungen auch weitere Aspekte extrahieren, wie die Interviewten ihre Essstörung befördert hatten:
Negative Kommentare von Bekannten, Freund:innen oder Partnern2 (5/5). Alle Interviewteilnehmerinnen erzählten von Kommentaren zu Essen und Bewertungen ihres Körpers durch Bekannte, Freund:innen oder auch ihre Partner.
«Also diese Spanierin ist halt reingekommen u:nd hat dann irgendwann so einen Kommentar … von sich gegeben wie: ja es ist kein Wunder dass du so viel zugenommen hast wenn du den ganzen Tag Schokolade frisst» (P1, Z. 54–56).
«Dann kann ich mich noch erinnern er [der damalige Partner] hat gesagt du hast schon zugenommen und du bist schon dick so gegen Ende der Beziehung und das hat mich dann voll verletzt» (P5, Z. 38–40).
«Das erste was sie [eine Freundin] zu mir gesagt hat war oh du bist ja nur mehr Haut und Knochen und das war so also ich weiß nicht im ersten Moment dachte ich so ist ein Kompliment irgendwo und dann doch noch und dann hab ich halt öfter gehört du hast ur abgenommen oder oh du siehst jetzt voll schön aus du hast ur die schöne Figur wo ich mir dann auch so dachte so ur nett im ersten Moment und dann so naja früher war ich euch zu schiach» (P3, Z. 319–324)
Direkte Mobbingerfahrung (3/5) und Mobbing in Sozialen Medien (4/5). Zusätzlich zu einzelnen negativen Äusserungen, die in Erinnerung geblieben sind, berichteten drei Interviewteilnehmerinnen über Mobbingerfahrungen, die zum Teil bereits in der Kindheit begannen:
«[…] ein Junge aus der Klasse angefangen hat mich zu mobben weil ich zu dick war in seinen Augen» (P1, Z. 9f.).
«[D]ann haben meine Eltern haben mich genommen haben mich zwei Jahre nach [Ort] gesteckt, da ist das Mobbing losgegangen … dann haben’s mich wieder zurück nach [Ort] gebracht … da ist das Mobbing weitergangen» (P5, Z. 116–119).
Eine Interviewteilnehmerin machte Mobbingerfahrung auch in den sozialen Medien:
«[D]ann auch auf sozialen Netzwerken hab ich dann halt auch … haben mir halt Leute, die mich nicht mochten auch immer geschrieben ja dass ich eigentlich ur schiach und ur hässlich und ur fett bin u:nd … ja das ist dann halt immer schlimmer geworden» (P2, Z. 47–50).
Genereller Einfluss Sozialer Medien (4/5). Auch jenseits von direkten negativen Reaktionen in den sozialen Medien benennen vier der fünf Interviewten deutlich deren generellen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Essstörung:
«Dass ich seh: ok (.) die hat auch Speck, dir geht’s gut. Das hast du halt nicht, wenn du nur mit Internet umgeben bist und mit deinem Exfreund also damaligen Freund ähm, das ist schon eingeschränkt (.) wie dich die Leute sehen … und wenn du dann immer nur auf YouTube bist und nur Workouts [siehst] und dies und das und perfekte Körper [siehst] und [hörst] das ist zu dick und dies und das» (P3, Z. 378–382).
«Erst als ich dann gemerkt hab (.) auch probably mit Social Media so dieses ok irgendwie entsprech’ ich jetzt nicht mehr dieser Norm von diesen Bildern die man da sieht (.) ähm hab ich halt angefangen mir da Gedanken zu machen und angefangen weniger zu essen weniger zu naschen, mehr mich mit Ernährung zu beschäftigen und so» (P4, Z. 299–302).
«Ja auf jeden Fall die Medien … schau dir Friends an … ich will ausschauen wie Rachel! Wieso schau ich nicht aus wie Rachel? … ja (.) schaut wunderschön aus oder die Carrie von Sex and the City» (P5, Z. 159–160).
Ziel dieser Studie war es, die Rolle der Mutter in der Entstehung einer bulimischen Essstörung aus Sicht der Töchter zu analysieren und die Beziehung zwischen den erkrankten Töchtern und ihren Müttern zu beleuchten. Alle Töchter bezogen sich in den narrativen Interviews tatsächlich sehr auf ihre Mütter, dies auch schon bevor sie explizit dazu befragt wurden. Sie schrieben ihnen einen wesentlichen Einfluss auf ihre Entwicklung generell und die Entwicklung ihrer Krankheit zu. Die Interviewten nannten Peers und soziale Medien als weitere Faktoren, die aus ihrer Sicht zur Entwicklung der Essstörung beigetragen haben.
Die interviewten Töchter beschreiben sich als eng, wenn auch hoch ambivalent an ihre Mütter gebunden; sie versuchen ihre Aufmerksamkeit und Liebe zu erhalten oder sie zu beschützen, auch wenn sie sich von ihnen zurückgestossen fühlen. Mütter sind für sie eine zentrale Instanz für Rückmeldungen und auch Role Models (Flaake, 1992). Die auch in dieser Studie deutlich gewordenen Ambivalenzen zwischen Töchtern und ihren Müttern können gut tiefenpsychologisch gefasst werden (Olivier, 1993; Halberstadt-Freud, 2000; Friday, 2009). Sind die Kommentare dieser so wichtigen Bezugsperson in Hinblick auf die Leiblichkeit der Töchter kritisch und negativ, trifft dies die Töchter zutiefst. Zumeist können sie die so entstandenen Verletzungen aber nur schwer ausdrücken – Wut und Kränkung zeigen sich im Symptom (Keppler, 1995). Alle Interviewten dieser Studie sehen ihre Mütter als höchst wichtige Einflussperson und berichten über abwertende Bemerkungen dieser: Ihre Mütter fungierten als Kontrollinstanz was Essen und Leiblichkeit betrifft. Besonders Kommentare zur Körperlichkeit der Töchter, zu ihrem Essverhalten und ihrer Attraktivität sind hier im Zentrum. Die Mütter sind offenbar (ebenso wie ihre Töchter) vom westlichen Schönheits- = Schlankheitsideal vereinnahmt und legen diesen Massstab an ihre Töchter an. Dies muss nun nicht in böser Absicht geschehen und es ist anzunehmen, dass vielen Müttern die krankmachende Wirkung solch kritischer, wenn auch vielleicht wohlgemeinter Äusserungen nicht bewusst ist. Sie fühlen sich für Ernährung und Essen zuständig und agieren aus dieser Haltung heraus (Blissett et al., 2006). Aus den Interviews geht auch hervor, dass die Mütter selbst mit ihrer Körperlichkeit nicht zufrieden sind und das Ideal eines schlanken Körpers vertreten, auch wenn sie ihm teilweise selbst nicht entsprechen (Bould et al., 2015).
Doch nicht nur die Kommentare der Mütter, auch Bemerkungen aus dem näheren sozialen Umfeld, von Familienangehörigen, Freund:innen oder Partnern, tragen in den Augen der Befragten zur Entstehung der Bulimie bei. Die Betroffenen nehmen Hänseleien und abwertende Aussagen als höchst toxisch wahr, was auch andere Studien bestätigen (Jäger, 2022). Auch kränkende Witze, Spott bis hin zu Mobbing über soziale Kanäle werden von den Betroffenen beschrieben. Sie tragen ebenso dazu bei, ein negatives (Körper-)Bild zu entwickeln (Saiphoo & Vahedi, 2019; Santarossa & Woodruff, 2017) und Essstörungen Vorschub zu leisten. Offenbar spielen sowohl direkte abwertende Bemerkungen als auch negative Kommentare in sozialen Medien bzw. ganz generell die allgegenwärtige Überflutung mit Bildern von «idealen» Körpern im Internet eine massgebliche Rolle in der Entwicklung einer Bulimie. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Mädchen und junge Frauen mit sich und ihrem Körper unzufrieden sind und kein gutes Selbstbild ihre Leiblichkeit betreffend aufbauen können (Schigl, 2024).
Hier zeigt sich eine Entwicklung, die sich auch in der Fachliteratur abbildet: Wurde in den 1990er Jahren, als die Beschäftigung mit Bulimie Fahrt aufnahm, das Augenmerk hauptsächlich auf die Beziehung von Müttern zu ihren Töchtern gelegt, so zeigen Untersuchungen aus den letzten Jahren, dass die Forderung nach einem schlanken, fitten Körper offenbar fast alle Bezugspersonen fest im Griff hat (Wunderer et al., 2022). Die Bewertung von Weiblichkeit und Attraktivität ist immer noch höchst genormt, äussere Attribute sind wesentlich in der Wahrnehmung von Weiblichkeit (Vogt, 2005). Dies bildet sich deutlich auch in den Daten der Studie ab, die über die Einflüsse durch die Beziehung zur Mutter hinausgehen. Alle Interviewten nahmen Bezug auf soziale Medien und die im Internet allgegenwärtigen dünnen bis mageren weiblichen Körper, die als Modelle für die eigene Leiblichkeit dienen. Sie behindern die Entwicklung eines guten eigenen Körperbilds und einer guten weiblichen Identität. Eine frauenspezifische Analyse all dieser Dynamiken ist beim Thema Essstörungen unerlässlich, um auch in der Psychotherapie gendersensibel mit derartigen Phänomenen arbeiten zu können (Schigl, 2024).
Allem voran gilt es zu beachten, dass in dieser Arbeit ausschliesslich die Gefühle der bulimischen Töchter sowie deren Ansichten in Bezug auf die Mutter-Tochter-Beziehung bearbeitet wurden. Wie die Mütter das Verhältnis zu ihren Töchtern empfinden, wurde nicht behandelt. Da alle Befragten auch schon Psychotherapie absolviert haben, ist es möglich, dass die dortige Bearbeitung dieser Beziehung die Antworten beeinflusste. Eine weitere Limitation betrifft den Stegreifcharakter der narrativen Interviews im Prozess der Datenerhebung. Die Teilnehmerinnen waren aus der Ausschreibung vorab über das Thema des Interviews informiert. So haben sie womöglich vor den Interviews auch schon darüber nachgedacht, was sie erzählen werden, und sich ihre Narrationen zurechtgelegt. Es gilt jedoch zu erwähnen, dass die unterschiedliche Tiefe der Reflexion der Geschichten der Interviewten in der Auswertung berücksichtigt wurde (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021). Schliesslich ist die Zahl von fünf Befragten selbst für qualitative Erhebungen gering – wenn auch die Ausführlichkeit des narrativen Interviews und der dokumentarischen Auswertungsmethode eine gewisse Tiefenschärfe ermöglicht.
Die Studie belegt, dass der Einfluss des sozialen Umfelds – und hier prioritär der Mutter – auf die bulimischen Töchter aus deren Sicht sehr hoch ist. Allerdings sollte dabei auch bedacht werden, dass alle genannten Einflüsse, Mütter, Peers, Familie und auch soziale Medien – anders als in den Ergebnissen dieser Studie mit an Essstörungen erkrankten Frauen –, auch eine positive Wirkung haben könnten. Mütter und andere weibliche Vorbilder könnten bestärkend, Peers unterstützend wirken und alternative Inhalte im Netz – siehe «body positivity»-Bewegung – jungen Frauen Beispiele einer freundlicheren Wahrnehmung ihrer Körper geben. Ebenso ist in der Psychotherapie die annehmende Beziehungserfahrung in der weiblich-weiblichen Dyade heilsam (Schigl, 2022). Für die zukünftige Forschung in diesem Feld wäre es wünschenswert, auch mögliche präventive Wirkungen deutlicher in den Fokus zu nehmen, auch um sie mehr nutzen zu können.
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What makes me ill?
Constructions of bulimic patients about factors influencing the development of their eating disorder
Abstract: Research shows that mothers have a significant influence on their daughters’ eating behavior. The aim of the present study was therefore to look at the relationship between bulimic daughters and their mothers, from the daughter’s point of view. It was investigated whether the affected women see a connection between their mothers or what other explanations the daughter has for the development of her illness. For this purpose, five women with bulimia were interviewed about their illness and their relationship with their mother by means of narrative interviews. The data obtained were then analyzed using documentary methods, with formulative and reflective interpretation and in a final step of evaluation, a comparative analysis. The results show that mothers have an influence on the development of the disease in the eyes of their daughters. However, other aspects could be identified, such as the influence of teasing within and outside the family as well as the use of social media.
Keywords: eating disorders, bulimia nervosa, mother-daughter relationship, subjective theory of disease, qualitative research
Cosa mi fa ammalare?
Le costruzioni di pazienti bulimiche sui fattori che influiscono sullo sviluppo del loro disturbo alimentare
Riassunto: Gli studi dimostrano che le madri hanno un influsso significativo sul comportamento alimentare delle figlie. Lo scopo dello studio è stato, quindi, quello di esaminare la relazione tra figlie bulimiche e le rispettive madri dal punto di vista della figlia. Si è esaminato se le persone colpite vedono una correlazione tra la loro malattia e il rapporto con la madre o quali altre spiegazioni hanno addotto per spiegare lo sviluppo della loro malattia. A tal fine, a cinque donne affette da bulimia sono state poste domande sulla loro malattia e sul rapporto con la loro madre mediante interviste di tipo narrativo. I dati ottenuti sono stati poi analizzati con il metodo documentario ed è stata fornita un’interpretazione riflettente e formulante nonché, nell’ultima fase della valutazione, un’analisi comparativa. I risultati mostrano che, agli occhi delle figlie, le madri esercitano un influsso sullo sviluppo della malattia. Tuttavia, sono stati individuati anche altri aspetti che hanno un influsso sul disturbo alimentare come l’essere derisi all’interno e all’esterno della famiglia e l’uso dei social media.
Parole chiave: disturbi alimentari, bulimia nervosa, teorie soggettive della malattia, relazione madre-figlia, ricerca qualitativa
Biografische Notiz
Julia Winkler, BSc., studiert derzeit Psychologie im Masterprogramm.
Prof.in Dr.in Brigitte Schigl, MSc., ist Psychotherapeutin (Integrative Gestalttherapie und Integrative Therapie) seit 30 Jahren in freier Praxis, Lehrtherapeutin für Integrative Therapie und Supervisorin. In der Psychotherapieforschung mit Schwerpunkt Gender ist sie tätig an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und an der Universität für Weiterbildung, Krems.
ORCID: https://orcid.org/0000-0001-9646-3074
Kontakt
Corresponding author: brigitte.schigl@aon.at