Wie sieht die Welt durch deine Augen aus?

Zur Überwindung autistischer Isolation

Helene Haker

Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 19–26

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-2-19

Zusammenfassung: Ich bin gebeten, in diesem Sonderheft zum Thema «Einsamkeit» einen Artikel zum Thema «Autismus-Spektrum-Störung bei Erwachsenen» zu schreiben. Autismus und Einsamkeit scheinen eng zusammen zu gehören. Das Bedürfnis nach Beziehung ist bei Menschen mit Autismus nicht primär reduziert, Verbindung zu finden jedoch schwierig. Gern werde ich hier eine Beschreibung des Phänomens Autismus formulieren. Keine Beschreibung der Oberfläche, wie sie in der diagnostischen Klassifikation oder in jedem klinischen Lehrbuch zu finden ist, sondern eine Beschreibung aus der Sicht der neueren, mechanistischen neurowissenschaftlichen Erklärungsmodelle. Wie entstehen die eigenen geistigen Welten Betroffener, die so schwer mit den geistigen Welten anderer Menschen zur Deckung zu bringen sind? Vor allem aber sollen Sie hier einen Artikel lesen dürfen über Möglichkeiten, der Einsamkeit zu entkommen; über die Fähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten. Er ist geschrieben aus der Perspektive von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, die den langen Weg aus der eigenen Welt hinaus in die fremde Welt der anderen Menschen gewagt und sich erarbeitet haben. Menschen, die in Einsamkeit leben, können etwas von autistischen Menschen lernen, die trotz ihrer angeborenen Erschwernis, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, Beziehungen gefunden haben. Ihr Weg dorthin ist ein besonderer; die Qualität der entstehenden Verbindungen ebenfalls; nicht selten ist sie von besonderer Tiefe und Schönheit. Möglich ist es für uns alle, wenn wir offen sind, in der Andersartigkeit jedes Einzelnen das Verbindende zu suchen.

Schlüsselwörter: Autismus-Spektrum-Störung, Bewusstsein, Informationsverarbeitung, Isolation, Beziehung

Entgegen der landläufigen Annahme, sind Menschen mit Autismus an Beziehungen interessiert. Ihre angeborenen Schwierigkeiten, sich spontan in die Interaktion mit anderen Menschen, insbesondere in Gruppen, einzufügen und ihre Innenwelt kommunikativ zugänglich zu machen, erschwert es ihnen, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, und diesen Kontakt zu stabilen Beziehungen zu entwickeln. Dieser Prozess ist erschwert, aber nicht unmöglich. Sind die Voraussetzungen günstig und die Bestrebungen des Versuchs ernsthaft und ausdauernd, sind enge Partnerschaften und tiefe Freundschaften zu finden. Finden die Beteiligten Interesse an dieser Begegnung, kann sie zum Ausgangspunkt intensiver gegenseitiger Exploration werden. Diese dient nicht nur dem Verständnis des anderen, sondern gleichermassen der Entdeckung seiner selbst durch den anderen.

Autismus-Spektrum

Diagnose

Wenn ich in diesem Artikel das Wort «Autismus» verwende resp. «Menschen mit Autismus», dann meine ich Menschen mit der klinischen Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gemäss den heutigen Kriterien des ICD-11 (6A02.0). Sie ist durch vier Kriterien definiert: 1. anhaltende Defizite, in soziale Kommunikation und reziproke Interaktion zu treten und diese zu unterhalten; 2. anhaltend eingeengte, repetitive und inflexible Verhaltensmuster; 3. Beginn während der frühen Entwicklung, üblicherweise in der Kindheit; 4. signifikante Einschränkungen in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsbezogenen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Die Kriterien 1 und 3 sind mit dem Zusatz versehen, dass die konkrete Manifestation der Schwierigkeiten variieren in Abhängigkeit vom Grad der Betroffenheit, Alter, von intellektuellen Fähigkeiten sowie momentanen Anforderungen der äusseren Umgebung und Bewältigungsfähigkeiten.

Entwicklung des Störungsbildes

Das klinische Konzept, das mit dem Begriff Autismus verbunden ist, hat sich in den letzten 40 Jahren stark verändert. 1976 wurde die Diagnose «Autismus» in die ICD-9 als das von Leo Kanner 1943 beschriebene schwere Behinderungsbild aufgenommen. 1992 wurde sie in der ICD-10 zu «Frühkindlicher Autismus» umbenannt, als die leichtere Form, und das «Asperger-Syndrom» in die offizielle Klassifikation mit aufgenommen. So verband man im allgemeinen Sprachgebrauch den Begriff «Autismus» sehr lange ausschliesslich mit den schweren Formen der Störung. Mit intensiverer Förderung von schwer Betroffenen wurde deutlich, welche – wenn auch verzögerten – Entwicklungen möglich sind. Gleichzeitig zeigte die Beobachtung des Erwachsenwerdens der ab den 1990ern mit «Asperger-Syndrom» diagnostizierten Kindern und Jugendlichen auf, wie weit die individuellen Entwicklungspfade auseinanderdriften können. Folge davon war, dass die Grenzen zwischen diesen beiden kategorialen Diagnosen verschwammen und sie schliesslich, mit der ICD-11 (WHO, 2022) zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst wurden.

Spektrum einer Entwicklungsstörung

Die aktuellen Kriterien der ICD-11 ermöglichen dank ihren o. g. Zusätzen, die den Raum für die individuelle Manifestation aufweiten, abzubilden, was spezialisierte Fachpersonen in den letzten Jahrzehnten beobachtet haben: Die äussere Form der klinischen Präsentation ist höchst variabel und schwer mit wenigen Worten an der Oberfläche des von aussen Sicht- oder Erlebbaren zu beschreiben. Die Besonderheit liegt im Innern, auf Ebene der Wahrnehmungsverarbeitung und Handlungssteuerung, und ist sehr häufig durch eine – wenn vielleicht auch nur punktuell – fortgeschrittene Entwicklung maskiert. An der Oberfläche reicht das Spektrum von schwerst beeinträchtigten zu unauffälligen, vermeintlich höchst-funktionalen Betroffenen. Als Entwicklungsstörung liegt die Charakteristik dieses Störungsbilds also nicht auf einem konkret definierbaren klinischen Zustand, der mit Diagnosekriterien enger zu umreissen wäre, sondern auf der Besonderheit des Entwicklungswegs als Ganzem.

Informations-Integrations-Störung

Heutiges Erklärungsmodell

Die verwirrende klinische Variationsbreite verlangt nach einer grundlegenden Erklärung, die einen gemeinsamen Nenner beschreibt. In den letzten zehn Jahren hat sich ein Erklärungsmodell aus dem Bereich der «Computational Psychiatry» (Friston et al., 2014; Stephan et al., 2017) verbreitet, das das Phänomen Autismus im heutigen klinischen Sinn zu erklären vermag («Bayesian Brain»- oder «Predictive Coding»-Theorie des Autismus; Pellicano & Burr, 2012). Es beschreibt Autismus als Folge einer angeborenen Informations-Integrations-Störung, die auf tiefgreifende Weise die Bewusstseinsreifung und damit die gesamte individuelle Entwicklung prägt und – je nach Kontext mehr oder weniger – stört. Es zeigt sich, dass diese mechanistische Perspektive grosses Potenzial hat, neue Perspektiven für ungelöste klinische Fragen zu bieten (Haker et al., 2016; weiterführende Literatur zu den folgenden Erklärungen sind dort referenziert).

Informations-Integration im Gehirn

Unser Gehirn ist in einem zyklischen Prozess im Austausch mit seiner Umgebung. Die Aufgaben dieses Zyklus sind:

Die Menge an konstant einströmenden Signalen ist zu gross, als dass sie alle im Einzelnen bewusst verarbeitet werden könnten. Bedingt durch die physikalischen Begrenzungen der diversen physiologischen Kanäle sind die Signale verrauscht und mehrdeutig. Zudem sind die wahrnehmbaren Gegebenheiten durchsetzt von zufälligen Dynamiken, die für uns nicht immer bedeutsam sind. Um aus der Summe dieser Signale ein verstehbares Bild zu extrahieren, braucht unser Gehirn eine innere Repräsentation von wahrscheinlichen Mustern, ein mentales Modell, das bedeutsame Zusammenhänge aus dem grossen Rauschen herausfiltert.

Das mentale Modell entspricht einer Erwartung von Bekanntem, das neu hereinströmende Reize nach Mass der Vertrautheit gewichtet. So dient die innere Repräsentation der Welt und des Selbst dazu, bisher Erlebtes und Gelerntes durch neue Beobachtungen zu aktualisieren und das mentale Modell zu differenzieren, ohne zu stark durch Irrelevantes abgelenkt zu werden. Ist dieses System optimal reguliert, werden neue Reize verarbeitet, wenn sie für uns informativ, und ausgeblendet, wenn sie für uns bedeutungslos sind. Optimal ist in diesem Kontext im Sinne der Energieeffizienz zu verstehen: Bei optimaler Filterung der Information, reift das mentale Modell in einer Form aus, dass es die für unser Überleben relevanten Dynamiken in der Welt zuverlässig vorhersagt, sodass minimale Anpassungshandlungen notwendig sind, um das Gesamtsystem in Balance (Homöostase) zu halten.

Angeborene Dysbalance

Eine Störung dieser Balance führt über nicht optimale Gewichtung der Reize zu ungenügender Filterung, was die Orientierung beeinträchtigt. Als Folge davon entsteht ein erhöhter Bedarf an Regulationsmassnahmen gegen die konstante Unvorhersehbarkeit, was die Energieeffizienz des Systems reduziert und die Homöostase gefährdet. Eine solche angeborene Dysbalance, die biologisch auf mannigfaltigen Wegen zustande kommen kann, wird gemäss den neuen Theorien als Ursache autistischen Wahrnehmens und Handelns gesehen. Sie kann – in Abhängigkeit der individuellen Lebens- und Lernerfahrungen – das breite Spektrum an möglichen Entwicklungswegen erklären.

Bevor ich Ihnen die Verbindung dieser Theorie zur Klinik aufzeige, betrachten wir die Rolle der Informationsintegration für die Bewusstseinsreifung im Rahmen der menschlichen Entwicklung.

Bewusstseinsstruktur

Reifung der inneren Repräsentation

Das mentale Modell zur Vorhersage der zu erwartenden Sinnesreize reift parallel zum Heranwachsen und Entdecken der Welt. Die Reize, die wir dabei wahrnehmen, setzen sich immer mehr zu sinnvollen Mustern zusammen. Diese wiederum leiten unsere Handlungen und damit auch die Exploration der Welt. So entsteht ein sich selbst regulierendes System, das nach optimaler Orientierung und effizienter Regulation strebt. Ziel dieser Entwicklung ist eine selbstständige Homöostaseregulation in einem immer grösser werdenden Raum bis hin zur selbstständigen Lebensführung und Selbstverwirklichung (im biologischen Sinne: Fortpflanzung). Dank Generalisierung von Erfahrungen erschliessen sich Heranwachsenden grosse Handlungsspielräume, in denen sie sich als orientiert und handlungsfähig erleben, auch wenn sie ausserhalb des bisher Erlebten sind.

Struktur des mentalen Modells

Durch Integration von Erlebnissen über die Zeit bildet sich ein mentales Modell mit vielen Ebenen, in denen Zusammenhänge wachsender Grössenordnung repräsentiert sind: Die untersten Ebenen bilden die Umgebung im Hier und Jetzt ab (primäre Sinnesareale). In nachfolgende Ebenen werden einfache Strukturen der Umgebung erkannt (sekundäre Sinnesareale), mit anderen Dingen in kausale Relation gebracht (multimodale, assoziative Areal). Je weiter man diese kognitive Hierarchie nach oben verfolgt, umso abstrakter und genereller, aber auch stabiler werden die repräsentierten Inhalte (z. B. frontale Areale). Wie schon angedeutet, spiegelt sich diese inhaltliche Hierarchie der Informationsverarbeitung in der Neuroanatomie unseres Cortex wider: Einzelne Areale sind in einer grossen hierarchischen Struktur synaptisch über- und nebeneinander geschaltet und gleichen die in ihnen gespeicherten Aktivitätsmuster durch zyklische Prozesse konstant untereinander ab, mit dem Ziel, die unerklärte Information – von der andauernd neue einströmt – innerhalb des Gesamtsystems minimal zu halten. Dabei Aktualisieren sich die unteren Ebenen in viel schnellerem Masse als die hohen.

Mass an Integration

Werden Sinnesreize durch das mentale Erklärungsmodell sinnvoll gewichtet und bedeutungsvoll ins Modell integriert, entsteht mittels synaptischer Plastizität eine optimal strukturierte Vernetzung unter den Regionen, und damit ein Bewusstsein, das eine hohe Anpassungsfähigkeit an eine variantenreiche und dynamische Umgebung ermöglicht: intuitive Orientierung in jedem Moment sowie eine Vorstellungsfähigkeit inklusive flexibler Handlungsplanung weit über den Moment hinaus.

Eine anhaltende Dysbalance in diesem Filtersystem führt nicht nur zu Schwierigkeiten, sich im Moment gut zurechtzufinden, sondern behindert auch die Reifung der höheren Ebenen und dadurch die Generalisierung einzelner Erfahrungen. Diese werden mit Information überschwemmt, die nicht sinnvoll verstehbar ist. Entsprechend repräsentiert die Aktivität in diesen Ebenen keine bedeutungsvollen Zusammenhänge, die in späteren Situationen Wiedererkennen und Verstehen sowie intuitives Reagieren ermöglichen.

Einzelne Bereiche der Welt, in denen wenig Variation und wenig Widersprüchliches angetroffen wird, können auch bei dieser Verarbeitungsform gut abgebildet werden. Insbesondere bei wiederholter Exposition kann es in solchen Lebensbereichen gelingen, eine differenziertere Repräsentation zu erlangen. Diese wird sich aber aufgrund der beeinträchtigten Generalisierung nicht in ein gut integriertes Ganzes einfügen, sondern isoliert bleiben. Entsprechend reift dadurch ein Bewusstsein heran, das wenig homogen ist; ähnlich einer zerklüfteten Landschaft, aus der vereinzelte hohe Bergspitzen ragen im Wechsel mit flachen Ebenen, im Vergleich zu einer sanften Hügellandschaft, die eine grosse runde Struktur umspielt, in der alles mit allem irgendwie zusammenhängt. In einer inhomogenen Landschaft sind bekannte Bereiche der Welt überpräzise repräsentiert (Bergspitzen), Abstraktion gelingt nicht spontan (flache Ebenen) und Unbekanntes bleibt ausserhalb des Vorstell- oder Bewältigbaren (jenseits des Horizonts). Der Fokus der Wahrnehmung eines Gehirns, das in einem solchen Reifungszustand ist, ist in den kleinen Aspekten des Hier und Jetzt verhaftet. Es registriert kleine unbedeutende Veränderungen im Nahbereich und übersieht die grossen, langsamen Dynamiken des Kontexts, ähnlich dem hoch aufgelösten, aber wenig übersichtlichen Bild bei hoher Vergrösserung in einem Mikroskop. Die so erlebte Welt wirkt instabil, unvorhersehbar und in vielen Bereichen chaotisch.

Autismus als Folge einer inhomogenen Bewusstseinsreifung

Autismus (gemäss den o. g. Diagnosekriterien) entsteht, wenn sich ein Mensch mit einer solchen angeborenen Dysbalance in einer Welt entwickeln und zurechtfinden muss, die für seine Verarbeitung zu komplex und zu dynamisch ist. Ein zusätzliches Problem entsteht dadurch, dass er von einer besser angepassten Mehrheit umgeben ist, der eine energieeffizientere Informationsverarbeitung gelingt, die sich intuitiv durch die Welt bewegt und geschmeidig immer wieder zu einer homogenen Masse zusammenfügt.

Soziale Interaktionen sind hochkomplex, in ihrer Dynamik schwer vorhersehbar und durch mannigfaltige, meist nicht sichtbare Gründe motiviert. Menschliche Kommunikation transportiert sich über eine Vielzahl von Kanälen und ihre Bedeutung erschliesst sich erst, wenn diese integriert betrachtet werden und dadurch eine Abstraktion des mehrdeutigen Konkreten gelingt. Diese jeweiligen Aspekte von Interaktion und Kommunikation machen den Umgang mit der sozialen Welt für Menschen mit der zuvor beschriebenen Informationsverarbeitung zu den schwierigsten Herausforderungen überhaupt und führen zu den autismusspezifischen Schwierigkeiten (Diagnosekriterium 1). Gleichzeitig handelt es sich dabei um überlebensnotwendige Funktionen des Menschseins in einer Gemeinschaft, weshalb diesen Schwierigkeiten kaum auszuweichen ist.

Die Überforderung der Lebensbewältigung in einer solch ungeeigneten Welt lässt sich reduzieren, indem man seinen Bewegungs- und Handlungsradius limitiert, notwendige Alltagshandlungen immer unter gleichen Bedingungen ausführt und generell Abwechslung und Überraschungen vermeidet, indem man sich neuen Erfahrungen verschliesst (Diagnosekriterium 2). Neben diesen Stabilisierungsstrategien ergeben sich aus dem gleichen Mechanismus heraus vertiefte Beschäftigungen mit einzelnen Themen, die zu hoher Expertise in engen Bereichen führen können.

Entsprechend dem Mass an Ordnung in der (unbelebten wie sozialen) Umgebung, in der sich Betroffene entwickeln, sind sie mit mehr oder weniger Mehrdeutigkeit und Unvorhersehbarkeit konfrontiert. Klare räumliche und zeitliche Strukturen helfen, Zusammenhänge zu erkennen und sich an sie anzupassen. Der Mangel an Generalisierungsfähigkeit führt dazu, dass der Erfahrungsschatz auch bei optimalen Umgebungsbedingungen unausgewogen und auf das tatsächlich Erlebte beschränkt ist. So ist die Entwicklung Betroffener auf spezifische Art erschwert oder erleichtert. Die konkreten sichtbaren Auswirkungen und daraus folgenden Beeinträchtigungen variieren beträchtlich, in Abhängigkeit der individuellen Lebensbedingungen sowie den jeweils möglichen Stabilisierungsmassnahmen (Diagnosekriterien 3 & 4).

Das Ergebnis solcher Entwicklungen sind innere Welten, die wenig integrierte Abbilder der konkreten Lebenswege ihrer eigenen Geschichte sind. Einzelerlebnisse (gute wie schlechte) bekommen ein überdurchschnittliches Gewicht, da ihre Bedeutung weniger stark durch Verallgemeinerung nivelliert werden, wie es üblicherweise der Fall ist. Diese Tatsache befähigt Autismusbetroffene zu sehr intensivem Empfinden. Sie macht sie aber auch – zusätzlich zur Gefährdung aufgrund ihrer sozialen Schwierigkeiten – vulnerabel, ungünstige Erfahrungen traumatisierend zu erleben.

Individuelle Welt

Unser Bewusstsein dient uns als Filter für die Wahrnehmung der Welt. Es leitet unser Erkennen, Bewerten und repräsentiert unsere Handlungsmöglichkeiten. Je stärker Erfahrungen zu einem homogenen Gesamtbild integriert worden sind, umso eher ermöglicht der so entstandene Filter einen standardisierten Blick auf die Welt, der von vielen Menschen, die unter vergleichbaren Umständen («in der gleichen Blase») leben, geteilt wird. Es fällt nicht schwer, darüber zu kommunizieren, da Ähnliches wahrgenommen und erlebt wird. Individuelle Bewertungen und Reaktionen unterscheiden sich, bewegen sich aber auf bekannten Dimensionen, die üblicherweise für andere nachvollziehbar sind. Innere Welten sind von ihrer Grundstruktur her ähnlich. Es ist unter solchen Umständen leicht, sich in andere, ähnlich Strukturierte hineinzuversetzen. Die inneren Welten (vereinzelte «Bläschen») von Autismusbetroffenen sind weiter voneinander und von Nichtbetroffenen entfernt, und ihr Blick auf die Welt ist individueller als Nichtbetroffene dies voneinander kennen. Mit ihnen Anschluss an eine teilbare Sicht zu finden, ist schwierig.

Beziehungsfähigkeit

Fehlannahmen

Es ist eine Fehlannahme, dass Menschen mit Autismus an Sozialkontakt nicht interessiert sind. Der Begriff «Autismus» (von αὐτός, altgriech. für selbst) wurde ursprünglich von Eugen Bleuler (1911, S. 52–56) im Kontext der Schizophrenie eingeführt, zur Beschreibung der von der Welt abgewandten, nur noch auf sich selbst bezogenen, chronisch kranken Patienten. Für viele Autismusbetroffene ist dieser Zustand notwendig, da sie ihn als einzigen erleben, in dem sie sich in einer unverstehbaren und sie nicht verstehenden Aussenwelt stabilisieren können. Die ausschliessliche Nachinnenwendung ist aber keineswegs die Regel. So lässt sich heute die Selbstbezogenheit, die der Begriff «Autismus» impliziert, besser verstehen als das Gefangensein in einer zu individuellen Weltsicht, die schwer mit anderen zu teilen ist. Die meisten Menschen mit Autismus sehnen sich vielmehr nach Kontakt, nach Freundschaft oder gar Partnerschaft. Ein Rückzug erfolgt meist sekundär in Form von Resignation nach Nichtgelingen, aufgrund von Frustration nach aktivem Ausgegrenztwerden oder aktivem Vermeiden nach traumatischen Erlebnissen.

Eine weitere Fehlannahme ist, dass Autismusbetroffene zu Empathie nicht fähig seien. Zur Empathie gehören basale sensomotorische und vegetative Ansteckungseffekte und ungefilterte emotionale Reaktionen wie reflektierte kognitive Einordnung (Decety & Jackson, 2004). Ein reibungsloses Zusammenspiel all dieser Funktionen ermöglicht ein intuitives Verstehen und Eingehen auf ein Gegenüber in seiner momentanen emotionalen Situation. Da das geschmeidige Zusammenspiel basaler Wahrnehmungs- mit höheren kognitiven Prozessen eine Schwierigkeit für Menschen mit Autismus ist, erfolgt eine entsprechende Reaktion oft nicht intuitiv und spontan. Dies bedeutet nicht, dass intensive Gefühle anderer Menschen nicht wahrgenommen werden. Im Gegenteil werden unterdrückte Emotionen anderer oft anhand kleiner Veränderungen als Irritation empfunden. Auch sind Betroffene sehr empfänglich dafür, die Not anderer Menschen als Stressansteckung zu verspüren. Es fällt ihnen aber schwer, diese Stresssignale in unbekannten Situationen rasch sinnvoll zu interpretieren und nahtlos eine adäquate Handlung zu initiieren. Hingegen befähigt das feine Gespür für kleine Schwankungen in vertrauten Beziehungen nicht selten zu besonderer empathischer Nähe.

Quellen der Einsamkeit

Nichtverstehen. Es gibt diverse Quellen der Einsamkeit für Autismusbetroffene. Eine primäre Quelle ist die grundlegende Einzigartigkeit ihrer inneren Welt, durch die sie versuchen, sich mit der äusseren Welt in Verbindung zu bringen. Die Besonderheit liegt nicht am Inhalt, sondern an der Auflösung und dem limitierten Überblick, mit dem die Welt fragmentiert und seltsam gewichtet abgebildet wird. Das führt dazu, dass sie viele Aspekte des Lebens anders erleben: Andere Dinge bereiten Lust (z. B. besondere Sinnesreize), andere Dinge bereiten Freude (z. B. vorhersehbare Wiederholungen von angenehmen Dingen), andere Dinge lösen Ärger aus (Nachlässigkeit in formalen Aspekten), andere Dinge bereiten Stress (kleine Planabweichungen oder Störungen in einer Symmetrie) usw. Zu realisieren, dass die Mehrheit der sozialen Umgebung solchen Dingen wenig Beachtung schenkt, sie nachgerade als irrelevant abtut, erschwert das Verständnis ihres Verhaltens. Die Motive hinter den Handlungen anderer erschliessen sich nicht spontan auf Basis der eigenen Erfahrungen. Neben der Verwirrung führt dies zum Gefühl, grundlegend anders zu sein und für die eigenen Neigungen keine Entsprechung zu finden. Das Einfügen in eine Gruppe Nichtbetroffener ergibt sich nicht von selbst und ist nur unter Negieren der eigenen Besonderheiten und Bedürfnisse und mit Energieaufwand möglich. Daher geht es selten mit Lustempfinden einher.

Kommunikation. Das Überbrücken der Isolation durch Kommunikation führt zu weiteren Hindernissen: Aufgrund der punktuellen eigenen Interessen besteht nur eine begrenzte Chance, jemanden anzutreffen, mit dem man sich innerhalb seines vertrauten Gebiets unterhalten kann. Ein Gespräch, das sich auf einer unverbindlichen (Smalltalk-)Ebene um etwas dreht, zu dem kein eigener Bezug besteht, ist anstrengend und unbefriedigend, da es das allgegenwärtige Gefühl des Unbeteiligt- und Nicht-orientiert-Seins verstärkt. Findet sich aufgrund gemeinsamer Interessen oder auch nur aufgrund eines vorgegebenen (z. B. professionellen) Kontexts ein Gegenüber für ein Gespräch, so teilt dieses selten das eigene Bedürfnis nach Detailreichtum und Gründlichkeit der Erörterung. Es kommt kein befruchtender Dialog ins Schwingen. Eigene Ausführungen werden als Monolog erlebt und das Interesse am Gegenüber nicht erkannt. Ist dieses nicht bereit, ebenso tief in einen Austausch einzutauchen, mag es durchaus auch rasch schwinden, weil einmal mehr keine Resonanz entsteht. So äussern sich die kommunikativen Schwierigkeiten nicht nur auf der oberflächlichen Ebene der langen Antwortlatenz, wenn zu komplexe Fragen gestellt werden, oder die soziale Angemessenheit der Antworten zu gründlich überprüft werden müssen, bevor sie auszusprechen gewagt werden, sondern auch auf dieser strukturellen Ebene der unterschiedlichen Bewusstseinsstrukturen, die nicht miteinander zum Klingen kommen.

Nichtverstandenwerden. Eine zweite Quelle der Einsamkeit sind die Reaktionen der Umgebung auf die eigene Andersartigkeit. Neben der eben beschriebenen Schwierigkeit, in einen ausgewogenen Dialog zu kommen, irritiert primär die generelle Inhomogenität, die Autismusbetroffene auf so vielen Ebenen auszeichnet: grosse Naivität in weiten Bereichen vs. Expertise in einem engen Gebiet, hohes Funktionsniveau auf vertrauten Wegen des Alltags vs. blockierende Überforderung in unbekannten Situationen, Nichtbeteiligung vs. Engagement in irritierender Intensität, Nichterkennen vs. Detailversessenheit, Erschöpfung vs. zerstörerische Energie, der rücksichtslos Weg gegeben wird. Diese Uneinheitlichkeit ist für Nichtbetroffene unverständlich, da aus eigener Perspektive nicht einfühlbar. Die für Betroffene entstehenden Schwierigkeiten werden gern infrage gestellt und als Ausdruck von Simulation, überwindbarer Umständlichkeit, Hysterie oder etwas ähnlich Abwertendem betrachtet. Die schwierige Vereinbarkeit beider Lebenswelten ist für beide Seiten anstrengend bis frustrierend. Es liegt auf der Hand, dass es Nichtbetroffenen einfacher fällt, sich dem nichtautistischen Rest der Umgebung zuzuwenden. Derweil bleiben Autismusbetroffene erst einmal allein in ihrer so eigenen Welt und sind dort oft weniger einsam als nichtzugehörig in Gesellschaft.

Entwertung. Eine weitere, fatale Quelle der Einsamkeit ist die der eigenen Entwertung: Nach einigen missglückten Versuchen des In-Kontakt-Tretens erscheint das eigene Scheitern als eine zuverlässige Tatsache, die so stabil erlebt wird, dass sie sich sogar in einem autistischen Bewusstsein zur Projektion in die Zukunft benutzt wird. Schlimmer noch: Es ist eine Tatsache, die auch die Umgebung genau so erlebt. Ebenso eindeutig ist, dass es mit der eigenen Person zu tun hat, da es dem Gegenüber in anderen Kontakten nicht so zu ergehen scheint, einem selbst aber immer wieder. Es braucht unwahrscheinlich günstige Umgebungsbedingungen, dass autismusbetroffene Jugendliche nicht durch eine solche Phase der Selbstentwertung gehen und stattdessen schon früh ihre eigene Subjektivität als daseinsberechtigt erleben. Rückzug und Vermeidung sind eine mögliche Strategie, mit dieser grundlegenden Infragestellung des Selbst umzugehen, forcierte Anpassung unter Selbstverleugnung (bei ausreichenden Ressourcen) eine andere. In beiden Fällen ist grosser Aufwand nötig, diese vermeintliche Erkenntnis der Minderwertigkeit und Irrelevanz eigener Empfindungen wieder loszuwerden und den eigenen Platz in der Welt und nach Möglichkeit auch in der Gesellschaft zu finden.

Begegnung

Bedingungen

Es ist möglich, sich aus dieser ungünstigen Ausgangslage heraus mit Mitmenschen zu verbinden und intensive Beziehungen und tiefe Freundschaften wachsen zu lassen. Wie kann das gelingen? Neben dem Willen, die Einsamkeit nicht hinzunehmen, und der Kraft, etwas dagegen zu unternehmen, braucht es günstige Umgebungsbedingungen, um soziales In-Kontakt-Treten zu erleichtern und den nachfolgend beschriebenen Prozess der Beziehungsgestaltung zu ermöglichen.

Analog den zuvor beschriebenen Bedingungen für eine günstige Entwicklung gelten ähnliche, um soziale Kontaktaufnahme zu erleichtern: Mitmenschen, deren kommunizierte Inhalte kongruent sind zu ihrer emotionalen Verfassung und sie diesbzgl. auch transparent und explizit sind, sind vergleichsweise einfach zu verstehen. Ihr Verhalten ist einfacher zu interpretieren und vorherzusehen. Um andere besser einschätzen zu können, werden nicht selten Hintergrundrecherchen angestellt, die im Extremfall Aktivitäten von Stalkern ähneln. In diesem Kontext ist das Motiv schlicht, mehr über einen Menschen herauszufinden, um ihn besser einordnen zu können. Erste Voraussetzung ist aber auf beiden Seiten eine Offenheit anzunehmen, dass das Gegenüber grundlegend anders denken, empfinden und handeln mag und dass das ein Grund zur Neugier sein kann. Wie ist es, Du zu sein? Und wenn ich es nicht verstehen kann, versuch es mir zu erklären, oder lass es uns in gemeinsamen Begegnungen und Erlebnissen sorgsam entdecken. Sicherheit ist für diese Offenheit eine wichtige Voraussetzung, Geduld nötig für den Prozess des Kennenlernens. Ein Treffen auf der Metaebene kann ein Anfang darstellen: Wir sind so unterschiedlich; wie faszinierend!

Weg

Bei aller Verschiedenheit, vereint uns Menschen mit oder ohne Autismus ja viel mehr, als uns trennen kann. Ein Besinnen darauf hilft, Berührungspunkte zu finden. Auch wenn die individuellen Welten von anderen Autismusbetroffenen inhaltlich gänzlich anders gestaltet sind, so schafft nur schon die ähnliche Auflösung der Weltsicht und womöglich ähnliche Isolationserfahrung eine gemeinsame Ebene, auf der Verbundenheit gefunden werden kann. Kontakte unter Mitbetroffenen sind oft frei von einem generellen Erklärungsaufwand. Gespräche finden sich – gemeinsame Interessen vorausgesetzt – auf ähnlicher Tiefe und in vergleichbarer Ausführlichkeit und bescheren daher oft grosse Befriedigung. Aktivitäten, die klaren Regeln folgen und das eigene Verhalten in gewissem Rahmen vorgeben und mit anderen synchronisieren, ermöglichen Resonanzerleben für Menschen mit Autismus auch in grösseren Gruppen: bspw. Gesellschaftsspiele oder gemeinsames Musizieren.

Der schwierigste Schritt, ähnlich empfindende Menschen überhaupt zu finden, ist, die eigene Stimme nicht zurückzuhalten. Wie sonst sollen Gleichgesinnte einen finden? Es braucht viel Kraft, ohne Garantie auf Antwort, seine Worte des Interesses und der Zuwendung immer wieder an die Menschen zu richten. Aber nur so funktioniert die Kunst der Liebe (Fromm, 1956). Entsprechend wichtig ist eine gute Selbstfürsorge, um innere Stabilität für diese Vorleistung zu schaffen.

Offenbaren wir uns immer wieder der Welt und sind wachsam gegenüber kleinsten Zeichen von Resonanz, eröffnen wir uns den Raum für Beziehung (Buber, 1962). Resonanz ist Ausdruck von geteilten Repräsentationen (Decety & Jackson, 2004), einer geistigen Verbindung, die im Hier und Jetzt auf beiden Seiten aktiviert ist: ein Gemeinsames als Ich-Du-Einheit im Moment und in Beziehung. Und genau für dieses intensive, unvoreingenommene Erleben des Moments sind autistische Gehirne optimal geeignet. Gelingt es, dies in dialogischer Zweisamkeit zu tun, wird für diesen Moment der Autismus transzendiert.

Qualität

Beziehungen von Menschen mit Autismus werden bevorzugt im 1:1-Kontakt gepflegt und sind daher sternförmig angeordnet, statt sich zu einem Netzwerk zu verbinden. Frequenz und Amplitude des Austauschs können ungewöhnlich sein: Sowohl intensives engmaschiges Abgleichen von spontanen Gedanken wie epische Briefe in grossen Abständen können zum Dialog dienen. Nicht selten entstehen Freundschaften aufgrund gemeinsamer Spezialinteressen. So kommt es vor, dass auch in langjährigen Beziehungen einzelne Ecken des Bewusstseins miteinander geteilt werden und dort grosse Nähe erlebt wird, ohne dass je andere Bereiche beleuchtet werden. Die Ignoranz bzgl. des Gesamtbilds der anderen Person ist in solchen Fällen nicht durch Desinteresse begründet.

Besonderheit

Eine besondere Qualität erreichen Beziehungen zwischen Menschen mit Autismus, wenn grosse Vertrautheit die innere Repräsentation des Anderen auf die hochdifferenzierte autistische Art hat wachsen lassen. Das bewusste Reflektieren, um Unverstandenes ins wacklige mentale Modell einzusortieren, ist eine verbreitete Bewältigungsstrategie gegen autistische Verwirrung. Hat man jemanden an seiner Seite, der in diesem Prozess eigene Denkkapazität anbietet, können Irritationen von grösserer Komplexität bewältigt werden; ähnlich einem Rechenprozessor mit mehreren Kernen. Solche gemeinsamen Seelenwanderungen führen dazu, das Gegenüber in den entlegensten Winkeln seiner Seele kennen und in seinen Besonderheiten verstehen zu lernen. Sofern dieser Blick aufeinander ein interessierter, grosszügiger, liebevoller ist, können Verbundenheit und Empathie in einem überdurchschnittlichen Ausmass entstehen.

Möglichkeiten

Folgende abschliessende Überlegungen gelten für alle Menschen; für Autismusbetroffene gelten sie in besonderem Masse, weil ihre Entwicklung einen anderen Weg nimmt und viele Schritte nicht spontan in Gang kommen:

Das Wagnis, sich anderen Menschen zuzumuten und sich auf sie einzulassen, braucht Mut, ist anstrengend und birgt keine Erfolgsgarantie. Gelingt es aber, Zeichen der Resonanz nicht zu übersehen, kann das ein Anfang sein, über sich hinauszuwachsen. Sowohl der Alltag wie Fortschritte in der Entwicklung können vereinfacht werden, wenn man sie nicht allein bewältigen muss. Denk- und Handlungsspielraum vergrössern sich, wenn zwei Bewusstseine sich begegnen. Menschen mit Autismus kann dies Schritte in unbekanntes Terrain oder Projektionen in die Zukunft wagen lassen, die sie allein nicht überblicken könnten. Offenheit für ungewöhnliche Perspektiven anderer kann Menschen ohne Autismus inspirierende Denkinhalte bescheren, die auch ihnen neue Wege abseits der ausgetretenen Spuren der Mehrheit aufzeigen können.

Ein Bewusstsein für die Möglichkeit von kaum vorstellbarer Inhomogenität im Entwicklungsprofil aufgrund angeborener Informations-Integrations-Besonderheiten reduziert Irritation. Möglicherweise schafft sie grössere Offenheit für Individualität anderer. Exzentrizität ist selten selbst gewählt oder übertrieben inszeniert, sondern oft Ausdruck, dass eine Person, sich entschlossen hat, eigene Daseinsberechtigung einzuräumen. Aus der Autismusperspektive ist dies der erste Schritt aus der Einsamkeit: Anders zu sein als die Mehrheit, ist ein Teil der grösseren Ordnung. Die eigenen Bedürfnisse und Grenzen gut kennen zu lernen, um ihnen treu zu bleiben, schafft innere Stabilität und Sicherheit, um sich dem Rest der Welt hinzugeben zu wagen. So können wir unsere Grenzen transzendieren und Teil von etwas Grösserem werden.

Dank

Diese Perspektive kann ich berichten, weil sich andere Autismusbetroffene mir gegenüber geöffnet und mir zum gemeinsamen wie gegenseitigen Ergründen Einblick in ihre Seelen geschenkt haben; und weil ich Dank Klaas Enno Stephan und der Translational Neuromodeling Unit (UZH und ETH Zürich) mit dem Thema Neuromodellierung vertraut wurde, was mir das Thema Autismus – vieles darüber hinaus – auf neue Art zugänglich gemacht hat. Ihnen allen gebührt mein Dank.

Literatur

Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Franz Deuticke.

Buber, M. (1962). Elemente des Zwischenmenschlichen. In Das dialogische Prinzip. Lambert Schneider.

Decety, J. & Jackson, P. L. (2004). The functional architecture of human empathy. Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews, 3(2), 71–100. https://doi.org/10.1177/1534582304267187

Friston, K. J., Stephan, K. E., Montague, R. & Dolan, R. J. (2014). Computational psychiatry: The brain as a phantastic organ. The Lancet Psychiatry, 1(2), 148–158. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(14)70275-5

Fromm, E. (1956). The art of loving: An enquiry into the nature of love. Harper.

Haker, H., Schneebeli, M. & Stephan, K. E. (2016). Can Bayesian Theories of Autism Spectrum Disorder Help Improve Clinical Practice? Frontiers in psychiatry, 7(3), 1174. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2016.00107

Kanner, L. (1943). Autistic disturbances of affective contact. Nervous child, 2(3), 217–250.

Pellicano, E. & Burr, D. (2012). When the world becomes ‹too real›: A Bayesian explanation of autistic perception. Trends in cognitive sciences, 16(10), 503–509. https://doi.org/10.1016/j.tics.2012.08.009

Stephan, K. E., Siemerkus, J., Bischof, M. & Haker, H. (2017). Hat Computational Psychiatry Relevanz für die klinische Praxis der Psychiatrie? Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 65(1), 9–19. https://doi.org/10.1024/1661-4747/a000296

World Health Organization (2022). ICD-11: International classification of diseases (11th revision). https://icd.who.int

What does the world look like through your eyes?

Overcoming autistic isolation

Abstract: I have been asked to write an article on «Autism Spectrum Disorder in Adults» in this special issue on «Loneliness». Autism and loneliness seem to go hand in hand. The desire for relationship is not primarily reduced in people with autism, but finding a connection is difficult. I will formulate a description of the phenomenon of autism. Not a description of the surface, as it can be found in the diagnostic classification or in every clinical textbook, but a description from the perspective of the newer, mechanistic neuroscientific explanations. How do the idiosyncratic mental worlds of affected individuals develop, which are so difficult to reconcile with the mental worlds of others? Above all, however, you should be able to read an article here about ways to escape loneliness; about the ability to enter into relationships with people. It is written from the perspective of people with an autism spectrum disorder who have travelled the long and stony way out of their own world into the strange world of other people. People who live in loneliness can learn something from people with autism who have found relationships despite their innate difficulty in socialising with others. The path they take this is a special one, as is the quality of the resulting connections, which are often of particular depth and beauty. It is possible for all of us if we are open to finding what connects us in the differences of each other.

Keywords: autism spectrum disorder, consciousness, information processing, isolation, relationship

Come appare il mondo ai tuoi occhi?

Verso il superamento dell’isolamento causato da disturbi dello spettro autistico

Riassunto: Mi è stato chiesto di scrivere un articolo sul tema del «disturbo dello spettro autistico negli adulti» in questo numero speciale dedicato alla «solitudine». Autismo e solitudine sembrano andare di pari passo. Nelle persone affette da autismo, il bisogno di relazioni non è ridotto in via primaria, ma instaurare legami è difficile. Desidero soffermarmi a tale proposito sulla descrizione del fenomeno dell’autismo. Tuttavia non fornirò una descrizione superficiale, come la si può trovare nella classificazione diagnostica o in un testo clinico, del fenomeno quanto piuttosto una descrizione basata sui modelli esplicativi neuroscientifici più recenti e meccanicistici. Come si sviluppano i mondi mentali delle persone colpite, che sono così difficili da conciliare con quelli degli altri? Tuttavia in tale contesto, si dovrebbe poter leggere un articolo incentrato sulle opzioni che portano ad evitare la solitudine, sulla capacità di entrare in relazione con gli altri. È stato scritto dal punto di vista di persone con un disturbo dello spettro autistico che sono riuscite ad addentrarsi nello strano mondo delle persone che le circondano abbondonando il proprio. Chi vive in solitudine può imparare dalle persone autistiche che sono riuscite a instaurare relazioni interpersonali nonostante la loro innata difficoltà a socializzare con altre persone. Il loro percorso verso tale obiettivo è speciale, così come la qualità dei legami che ne derivano, spesso di particolare profondità e bellezza. Tutti noi possiamo farcela se siamo aperti a trovare ciò che ci lega nella diversità di ogni individuo.

Parole chiave: disturbo dello spettro autistico, consapevolezza, elaborazione delle informazioni, isolamento, relazione

Biografische Notiz

PD Dr. med. Helene Haker hat in Zürich Medizin studiert und promoviert, die Facharztausbildung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und am Klaus-Grawe-Institut absolviert und sich an der Universität Zürich mit dem Thema «Empathiefähigkeit bei Schizophrenie und anderen psychiatrischen Störungsbildern» habilitiert. Nach einer Zeit in der «Computational Neuroscience» – 2012–2018: Medizinische Leitung und Aufbau der Forschungsambulanz an der Translational Neuromodeling Unit (UZH/ETH Zürich) – arbeitet sie heute in eigener Praxis mit Schwerpunkt Autismus bei Erwachsenen und als Dozentin an der UZH und ETH in Zürich.

Kontakt

haker@hin.ch
www.autismusperspektive.ch