Itten, T. & Roberts, R. (2022). Francis Huxley. Ein Leben für die Sozialanthropologie
Springer, 430 S., 35.60 CHF, 32.99 EUR ISBN: 978-3-658-38896-6
Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 128
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-2-128
Sozialanthropologie untersucht den Menschen als soziales Wesen in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Früher ein Teilbereich der Ethnologie, hat sie sich seit den 1960ern zu einer eigenen sozialwissenschaftlichen Disziplin entwickelt.
Itten und Roberts haben sich keine leichte Aufgabe gemacht, das Leben und Wirken von Francis Huxley als Sozialanthropologen nachzuzeichnen. Die Biografie ist exzellent und detailliert konzipiert, eine eigentlich sozialanthropologische Studie über Francis Huxley, einen Neffen des berühmteren Aldous Huxley und Mitglied einer sehr geachteten Dynastie von Wissenschaftlern in bester englischer Gesellschaft. Itten war in seinen Londoner Jahren Student von Huxley und blieb später lange Jahre mit ihm befreundet. Das macht meine Rezensionsarbeit etwas speziell, da ich auch über meinen Kollegen Theodor Itten (ehemaliger Präsident der ASP) vieles erfahre, wie er in die psychologisch-sozialanthropologisch-psychotherapeutische und antipsychiatrische Szene in London um Huxley und Laing selbst involviert war und dort viel über das Leben und Wirken in therapeutischen Gemeinschaften gelernt hat.
Kein Aufwand wurde gescheut, um eine gute Biografie zu schreiben: Fast 50 Interviews mit Zeitzeugen wurden geführt, unzähliges schriftliches Material gesichtet und ausgewertet.
Das Buch gliedert sich in verschiedene Teile. Erst wird eine chronologische Übersicht gegeben, dann werden Einflussfaktoren und biografische Hintergründe der Familie Huxley anschaulich beschrieben. In einem dritten Teil folgen private und berufliche Stationen seines Lebens, worauf im vierten Teil unter dem Titel «Auf der Suche nach der Welt» auf sein sozialanthropologisches Wirken in verschiedenen Feldforschungsprojekten eingegangen wird. Der letzte Teil schildert, wie er sich in der Philadelphia Association (einer antipsychiatrischen Bewegung unter der Führerschaft von Ronald D. Laing) bewegte und wieder austrat, und behandelt sein Altern in zunehmender Einsamkeit, seine Wesensveränderung und sein umfangreiches Wirken auch als Schriftsteller. Zum Schluss gibt es umfangreiche Anhänge zur Dokumentation.
Francis Huxleys Leben verlief keineswegs geradlinig, weder privat noch beruflich. Es war davon geprägt, seinen eigenen Weg zu gehen, sich nicht von sozialen Systemen wie der eigenen Familie, einer elitären Gesellschaft, dem universitären Mainstream, dem ethnologischen und sozialanthropologischen Forschungsdenken oder auch dem zunehmend autoritären Einfluss von Laing in der Philadelphia Association vereinnahmen zu lassen. In diesem Sinne war er ein getreuer Sozialanthropologe, der stets daran interessiert war, die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft zu verstehen und auch die Rolle des Forschers in Feldforschungsprojekten zu reflektieren, da er seinerseits das Feld beeinflusst. Er plädierte dafür, dass die alten objektivistischen Forschungsmethoden, wo man von aussen ein Volk als Objekt untersucht, in einem sozialwissenschaftlichen Ansatz nicht taugen können, sondern dass es intersubjektive Methoden braucht. Er wollte mit indigenen Menschen auf Augenhöhe in intersubjektivem Kontakt begegnen und so Erkenntnisse gewinnen. Er wollte die Funktionsweise von Ritualen verstehen, indem er sie sich von den zu Beforschenden erklären liess, statt sie von aussen zu deuten und zu bewerten. Das galt auch für heilige Rituale, Schamanismus und Voodoo-Medizin. Damit trug er wesentlich zu einem Paradigmenwechsel in der Ethnologie und Sozialanthropologie bei, verschaffte sich im Mainstream allerdings nicht nur Freunde. Er war ein beliebter und erfolgreicher Dozent, hatte aber in der universitären Welt immer wieder das «Geschick», sich zwischen Stuhl und Bank zu setzen, womit ihm auch eine Professur verwehrt blieb. Im privaten Leben war er auch eher unstet, mit vielen Frauengeschichten (dem Zeitgeist entsprechend) und mehreren Ehen. Er galt als fröhlicher Mensch und kostete das Leben aus bis zur Neige. Und selbstverständlich gehörten auch Beteiligungen an Experimenten mit psychedelischen Drogen zu seinem Leben sowie die Frage nach Übersinnlichem, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, das Einfluss auf unser Leben nimmt.
Es gelingt den beiden Autoren, ein lebendiges, differenziertes und vielseitiges Bild eines ausgesprochen vielseitigen Menschen, Forschers und Schriftstellers zu zeichnen. In seiner Bedeutung für die Sozialanthropologie wurde Huxley oft unterschätzt, wohl gerade deswegen, weil er nicht so gradlinig auf eine Universitätskarriere aus und etwas «eigen» war. Diese Biografie hilft, seine Bedeutung zu erkennen und zu dokumentieren. Das Spannende für mich als transkulturell tätigem Psychotherapeuten ist das Ineinandergreifen von sozialanthropologischer Forschung, wissenschaftskritischen Diskursen, psychotherapeutischer Praxis und Menschlichem. Ein Stück Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als eine grosse gesellschaftliche, psychotherapeutische, wissenschaftliche und intellektuelle Aufbruchstimmung herrschte.
Gern empfehle ich es zur Lektüre.
Peter Schulthess