Buchbesprechung

Greiner, K. (2024). Lehrbuch Experimentelle Psychotherapiewissenschaft
Hrsg. v. Tamara Trebes SFU University Press,
360 S., 49.90 CHF, 34.00 EUR ISBN: 978-3-902626-88-2

Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 127–128

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-2-127

Mit diesem Lehrbuch legt Kurt Greiner ein wichtiges Werk zur wissenschaftlichen Fundierung der Psychotherapiewissenshaft (PTW) vor, wie sie an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien (SFU) seit 2007 entwickelt und gelehrt wird. Herausgegeben wurde das Buch von Tamara Trebes, seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Institut für Experimentelle Psychotherapiewissenschaft (Psychotextologie) und psychotherapiewissenschaftliche Philosophie der SFU.

Die PTW versteht sich als Wissenschaft sui generis – jenseits von Psychologie und Medizin. Die universitäre Etablierung der PTW bedeutet einen deutlichen Schritt der Akademisierung der Psychotherapie. Anliegen einer PTW muss es ein, der gegebenen Diversität, Polymorphie und Heterogenität der Psychotherapie gerecht zu werden.

An der SFU gibt es im Geiste des akademischen Pluralismus vier Programme innerhalb der Fakultät für Psychotherapiewissenschaft: Allgemeine und Angewandte PTW (Gerhard Burda), Experimentelle PTW/Psychotextologie (Kurt Greiner), Psychotherapiewissenschaftliche Philosophie (Martin J. Jandl) und Handlungsmöglichkeiten-erweiternde PTW/HEP (Paolo Raile). Zwischen den Exponenten dieser Teilfachgebiete der PTW wird mitunter auch fachlich gestritten, was zu einer guten Wissenschafts- und Forschungskultur zwingend dazugehört.

Greiner sieht die Psychotherapie als eine Tätigkeit, in der es um Sinnverstehen geht, um eine Heilkunst, womit wissenschaftlich keine Reduktion auf das positivistische Forschungsparadigma der Psychologie oder Medizin erlaubt ist, sondern hermeneutische Theorienreflexion gefordert ist. Da die Psychotherapie auch an einer Schnittstelle zur Kunst liegt, nutzt er folgerichtig forschungsmethodisch auch Konzepte und Methoden aus der Kunst, Musik und den Literaturwissenschaften.

Dass er seinen Forschungsansatz «Experimentelle PTW» bezeichnet, zwingt ihn, immer wieder darauf hinzuweisen, dass er ein anderes Verständnis von Experiment hat als es etwa in der Experimentellen Psychologie, den Naturwissenschaften oder in der Tradition des Positivismus vorliegt.

Eine Wissenschaft braucht eine eigene wissenschaftstheoretische Fundierung. Greiner bezieht sich auf den Konstruktiven Realismus von F. G. Wallner, einem Wiener Wissenschaftstheoretiker. Er sieht darin eine geeignete Basis zur Erkenntnisgewinnung in der PTW und hat den Konstruktiven Realismus für die PTW fruchtbar gemacht. Experimente versteht er als etwas Spielerisches, Kreatives. Dem Leser entgeht nicht, dass auf diese Weise zu forschen, Lust und Freude – eben Spielfreude – freisetzen kann, und doch eine klare Forschungsstruktur gegeben wird.

In Greiners Lehre finden sich viele neuartige Begriffe, wie etwa «Psychotextologie», «irritationslogisches Erkenntnisprinzip», «Bizarrosophie» oder «imaginativhermeneutische Operationslogik», die einem Aussenstehenden das Verstehen erschweren, weshalb dem Buch ein Glossar beigefügt wurde.

Im Wesentlichen geht es Greiner darum, die vielen theoretischen und wissenschaftlichen Mikrowelten der vielen Psychotherapiekonzepte als gegeben und gewachsen anzuerkennen und zu hinterfragen durch einen Dialog zwischen den verschiedenen Schulen, ja auch zwischen solchen, die es nicht geschafft haben, anerkannt zu werden und doch kulturell verankertes und heilkundewirksames Wissen enthalten. Es geht ihm – im Gegensatz etwa zum Ansinnen, eine Allgemeine Psychotherapie zu entwickeln, in der es in positivistischer Forschungstradition zu «evidenzbasierten» Anpassungen kommt und die Schulenunterschiede verschwinden sollen – darum, den Wert der kulturellen und wissenschaftlichen Mikrowelten in ihrer Vielfalt zu würdigen und textwissenschaftlich je auch aus anderer Perspektive zu hinterfragen und so Impulse zur Weiterentwicklung der jeweiligen Ansätze zu liefern.

Methodisch haben sich vier verschiedene Forschungsinstrumente herausentwickelt, die unter dem Titel «Psychotextologische Methodenlehre» dargestellt werden: die Analyseprogramme «Standardisierter Therapieschulendialog» (TSD), «Psycho-Text-Puzzle-Verfahren» (PTP), «Psycho-Bild-Methoden» und «Psycho-Medien-Spiel-Techniken». Alle vier sind konzeptuell beschrieben und mit Anschauungsbeispielen erläutert. Alle Analyseprogramme haben eine analoge Struktur: 1) Selektion (Wahl eine bestimmten Theoriestückes), 2) Isolation (Herausarbeitung zentraler Termini technici), 3) Kreation (kreatives, spielerisches erarbeiten eines Experimentes), 4) Interpretation (Dialog zwischen einem Schulenvertreter und einer externen Person), 5) Modifikation (Begriffsaustausch aus den verglichenen Schulen und Re-Symbolisierung), 6) Konfrontation (Konvergenzen und Divergenzen, Schlussfolgerungen). Dem Lesenden wird anhand der Beispiele deutlich, wie kreativ und innovativ solches Forschen sein kann und dass es in der Tat dafür geeignet ist, durch kritische Reflexion Impulse zu Weiterentwicklungen der eigenen Theorie und Praxis zu setzen.

In einem dritten Teil des Buches wird eine Übersicht der bisherigen psychotextologischen Forschungsdokumentation gegeben: Es werden Beispiele von Forschungsarbeiten auf Bakkalaureatsstufe, Magisterium und Doktorat gegeben sowie publizierte Studien zu allen vier dargestellten Analyseprogrammen dokumentiert. Zum Abschluss findet sich auch eine Liste der sich in all den Jahren gebildeten Scientific Community der Experimentellen Psychotherapiewissenschaft. Es ist beeindruckend, was in all den Jahren zusammenkam und aus der Überzeugung wuchs, dass Psychotherapiewissenschaft als Wissenschaft sui generis zu verstehen und zu fassen sei.

Wer sich für diese Themen interessiert, wird durch die Lektüre dieses Lehrbuches bereichert.

Peter Schulthess