Eine Replik auf Kurt Greiner: «Psychotherapie als Textmedizin»
Jürgen Kriz
Psychotherapie-Wissenschaft 14 (2) 2024 103–108
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-2-103
Zusammenfassung: In dieser Replik auf einen Beitrag von Kurt Greiner über «Psychotherapie als Textmedizin» werden zwei Aspekte zur Diskussion gestellt. Zum einen geht es um die Frage, ob in den gegenwärtigen Entwicklungen der Psychotherapie, die stark von einem medizinisch-technischen Weltbild dominiert wird, die durch die beiden Wortbestandteile «Text» und «Medizin» diese – auch von Greiner kritisierte – Sicht nicht noch verstärkt wird und diese beiden Begriffe daher eher unglücklich gewählt sind (auch wenn sie von Greiner anders interpretiert werden). Damit verbunden ist die Frage, ob nicht stärker unterschieden werden muss zwischen (a) Psychotherapie als Gegenstand der Wissenschaft – die damit im Bereich von kulturell-objektiven Symbolsystemen angesiedelt ist – und (b) Psychotherapie als beziehungsgestaltendes Handeln – das zunächst einmal oder zumindest auch den Fokus auf leiblich-vorsprachliche Erfahrung zu richten hat. Der zweite Aspekt, der zur Diskussion gestellt wird, ist das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen. Der von Greiner vorgenommene Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft wird zwar methodisch geteilt, inhaltlich aber infrage gestellt, da auch die Gegenstände und Prinzipien der von den Naturwissenschaften behandelten Phänomene letztlich Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, wie dies bspw. im Pauli-Jung-Dialog betont wurde.
Schlüsselwörter: Psychotherapie, subjektives Erleben, Textmedizin, Objektivität, Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Personzentrierte Systemtheorie, Strukturwissenschaft, Archetypen, Synergetik
Es ist Kurt Greiner (2024) für seinen Beitrag «Psychotherapie als Textmedizin. Versuch über ein allgemeines Funktionsparadigma» zu danken: Regt er doch mit vielen profunden und prägnanten Aspekten aus etlichen klinischen, philosophischen und wissenschaftstheoretischen Diskursen (bei aller zugestandenen Selektivität) zu einer Diskussion über das Wesen – und damit indirekt auch über die zukünftige Gestaltung und Entwicklung – der Psychotherapie an, die hoffentlich auf fruchtbaren Boden fallen wird. Denn die Sorge, der auch Mario Schlegel (2024) in seinem Editorial zum Zeitschriftenheft in Bezug auf Greiners Beitrag Ausdruck verleiht, ist nur allzu berechtigt: Nachdem in Deutschland verhaltenstherapeutische Ansätze fast ausschliesslich das Monopol der Lehrstühle in «Klinischer Psychologie und Psychotherapie» erlangt und vor allem die humanistische und psychodynamische «Konkurrenz» eliminiert haben, ist der Diskurs über die Grundorientierungen von Psychotherapie weitgehend zum Erliegen gekommen (auch wenn nun, gottlob, die Systemische Therapie die Diskurse wieder zu beleben beginnt). Man muss für diese geistige Versteppung weder Ignoranz noch gar Bosheit unterstellen, sondern es ist schlicht die Befangenheit in den eigenen Alltagsgeschäften des akademischen Systems – allerdings auch eine Vergessenheit der vornehmsten Tugenden wissenschaftlichen Wirkens: nämlich die Pluralität der Perspektiven und Ansätze nicht als unliebsame «Konkurrenz» zu begreifen, die es auszuschalten gilt. Vielmehr sollten sie als intellektuelle Herausforderung dafür verstanden werden, die eigenen Argumente immer wieder in Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen zu schärfen, zu überdenken und ggf. auch zu erweitern oder zu revidieren. Wenn es diese Herausforderungen nicht mehr gibt, erlahmt dieser wichtige Bereich akademischer bzw. wissenschaftlicher Betätigung. So entstehen statt fundierter, argumentativer Gebäude – zu denen auch eine einstmals kritische Verhaltenstherapie zu zählen ist – nicht mehr hinterfragbare Tempel mit Altären aus Wahrheitsansprüchen. Und es ist kein akademisches Ruhmesblatt, wenn Absolventen von Studiengängen, in denen sie nie mit anderen Perspektiven konfrontiert wurden, zunehmend glauben, diese eine «wahre» Sicht sei «die» Wissenschaft, an der sich die Psychotherapie auszurichten habe.
Daher ist es sehr begrüssenswert, wenn Greiner eine «pointiert geisteswissenschaftliche Perspektive» (Schlegel) für sein «Diskussionsangebot» (Greiner) wählt, dem darüber hinaus in vielen Aussagen aufgrund wesentlicher gemeinsamer Grundanliegen zugestimmt werden kann. Dies zu entfalten ist allerdings nicht der Gegenstand einer Replik. Sondern dieses Format nimmt eher die unterschiedlich und kritisch zu sehenden Aspekte in den Fokus. Dies sollte im Folgenden berücksichtigt werden, damit nicht ein falscher Eindruck durch diese Replik hervorgerufen wird, die sich mit zwei zentralen Argumentationskomplexen beschäftigt: zum einen der Bedeutung unterschiedlicher Perspektiven auf das, was Psychotherapie bedeutet, zum anderen die Frage unterschiedlicher Wissenschaftskulturen. Meine eigene Bezugsperspektive ist dabei – auch dies sei explizit gemacht – die «Personzentrierte Systemtheorie» (u. a. Kriz 2017, 2023a, 2024). Da diese sich aber, ähnlich wie Greiners Beitrag, verfahrensübergreifend versteht, ist es sinnvoll, dass beide Ansätze miteinander ins Gespräch kommen.
Greiner beginnt seine Analyse mit der bekannten Unterscheidung in «Erste-Person-Perspektive» und «Dritte-Person-Perspektive». Dass er die für die Psychotherapie so überaus wichtige «Zweite-Person-Perspektive» ausser Acht lässt, die sich z. B. in der Begegnung des «Du» sensu Martin Buber (1923) oder Moreno (1914, 2008) niederschlägt, ist für seinen Argumentationsstrang hinnehmbar – auch wenn er damit in seinem umfassenden Entwurf von vornherein Wesentliches gerade der humanistischen Psychotherapie ausklammert. Die «Erste-Person-Perspektive» verdeutlicht er (wie üblich) daran, dass «ich jeweils nur mein Angsterleben, mein Lusterleben, mein Schmerzerleben etc. habe, dass hingegen Tamara jeweils nur ihr Angst-, ihr Lust-, ihr Schmerzerleben hat» (Greiner). Dem würde man (üblicherweise) als «Dritte-Person-Perspektive» etwa die Befunde Diagnostik oder die Beschreibung eines Freundes gegenüberstellen.
Greiner sieht aber offenbar, dass diese für manche Fragen wichtige analytisch-logische Trennung der beiden Perspektiven ihre Tücken haben könnte (ausführlich in Kriz 2017, Kap. 5). Wohl deswegen setzt er gleich zum Sprung in die Wissenschaft an, in welcher der Aspekt der Sprache – besonders im Zusammenhang mit Psychotherapie – fraglos eine zentrale Rolle spielt. Der sich nach diesem Sprung ergebenden Feststellung kann ich problemlos zustimmen – sie sei hier zitiert, da sie m. E. den Kern der Deutung Greiners «Psychotherapie als Textmedizin» enthält:
«[Deutlich geworden sollte sein …,] dass Psychisches, rein phänomenal betrachtet, ausschließlich subjektiv, d. h. nur aus der Ersten-Person-Perspektive (Teilnehmer*innen-Perspektive) erlebbar ist. Um auf Psychisches Bezug nehmen zu können, müssen wir es zuerst einmal begriffssprachlich zum Gegenstand machen. Nur dann können wir uns mit Psychischem in Beziehung setzen bzw. mit ihm umgehen. Damit gewinnen wir Psychisches auch als wissenschaftliches Objekt. Denn als Objekt, auf das wir uns wissenschaftlich-forschend, d. h. methodisch-systematisch beziehen können, ist Psychisches stets Text.»
Mir erscheint dieser Sprung vom subjektiven Erleben in die Wissenschaft zu gross. Denn damit wird m. E. ein zentrales Problem der Psychotherapie (um nicht zu sagen: menschlichen Erlebens und Verstehens) einfach übersprungen und ausgeblendet. Nicht nur die Wissenschaft bedarf nämlich der Sprache, sondern auch der Alltagsmensch – sowohl in seiner persönlich-subjektiven wie auch interpersonell-gesellschaftlichen Lebenswelt. Aber es sind recht unterschiedliche (Teil-)Sprachen mit unterschiedlichen (Teil-)Regeln und unterschiedlichem Grad an Reflexion und Explizitheit. Daher weist die Personzentrierte Systemtheorie nicht nur auf die Komplementarität von subjektiven und objektiven Perspektiven hin (z. B. Befindlichkeiten versus Befunde), sondern eben auch auf die Komplementarität von biosemiotischer und symboltheoretischer Perspektive (oder, etwas salopper: von leiblich-organismischen und kognitiv-sprachlich-symbolischen Prozessen).
Damit Tamara ihre inneren Empfindungen überhaupt selbst verstehen kann, muss sie diese symbolisieren – also das Kulturwerkzeug Sprache auf sich selbst anwenden. Dem würde auch Greiner fraglos (mit unterschiedlichen Kernbegriffen) zustimmen. Aber die Wirkung unbewusster Prozesse, die in der Therapie bewusst gemacht und zur Sprache gebracht werden müssen, geht nicht nur von körperlichem Geschehen aus (worauf lange Zeit die Psychoanalyse fokussierte). Sondern es geht auch um die Wirkkräfte, die von den Strukturen der Prozesse auf interpersoneller und gesellschaftlich-kultureller Ebene ausgehen (Kriz 2023b). Die Wirkung dessen, was Systemiker bspw. «Triangulation» nennen (die Umleitung eines Konfliktes über eine:n Indexpatient:in s. u.) oder der Einsatz von Metaphern in der Psychotherapie wäre sonst nicht zu verstehen.
Wenn man dies nicht ausblendet, zeigt sich, dass die logisch-analytisch getrennten Erste- und Dritte-Person-Perspektiven in der faktischen Realität miteinander verschränkt sind. Die habe ich an anderer Stelle wie folgt erläutert (Kriz 2017, S. 231):
«Aus der Perspektive des Subjekts steht im Zentrum zunächst mein intensives Spüren und Erleben. Doch wie mache ich mir als Subjekt dieses, mein Spüren und Erleben, überhaupt zugänglich und verständlich? Gehen wir dieser Frage nach, so wird deutlich, dass unsere Gefühle von Traurigkeit, Stolz, Sinnlosigkeit oder Einsamkeit zwar auf unser ureigenes Erleben verweisen – und daher, nochmals betont, durch keine Beschreibung, Beobachtung oder gar Messung ersetzt werden können. Gleichwohl beruht aber die Symbolisierung, also das verstehende Einordnen unseres Spürens und Erlebens, auf der Verwendung von Wörtern, Begriffen, Kategorien, Bildern, Metaphern, Verstehensprinzipien etc., die aus unserer Kultur stammen. Kurz: Eine verstehende Aneignung seines eigenen subjektiven Erlebens ist für das Individuum nur möglich, wenn es dabei die kognitiven Werkzeuge seiner Kultur verwendet.»
Daher finde ich Greiners Vorschlag «Psychotherapie als Textmedizin» zu charakterisieren zu einseitig im Kulturell-Symbolischen verortet (wohlgemerkt: es geht ja um Psychotherapie und nicht nur um Psychotherapiewissenschaft). Zu wenig wird «Text» der Komplementarität vor organismischen Erfahrungen und deren Symbolisierungen gerecht (bzw. den eben benannten Unterschieden zwischen explizit reflexiver Wissenschaftssprache und Alltagssprache mit ihren unbewusst vermittelnden Metaphern, Konzepten, Erklärungsprinzipien, Narrationen). Lautet doch bspw. ein Kernsatz der Personzentrierten Systemtheorie: «Die ‹Welt›, wie sie beschrieben wird (‹objektive›/intersubjektive Aspekte), und die ‹Welt›, wie sie erlebt wird (subjektive Aspekte), sind zwei komplementäre Perspektiven. Beide müssen in Klinischer Psychologie und Psychotherapie berücksichtigt werden» (Kriz 2023a, S. 79). Wobei hier, zur Vermeidung von Missverständnissen, noch hinzugefügt sei, dass mit «erleben» hier zunächst der rein organismische Vorgang gemeint ist, der – sofern bewusstseinsfähig – überhaupt erst einmal symbolisiert werden muss (konzeptionell unter Anwendung der o. a. Kulturwerkzeuge, aber praktisch mit sorgfältigen therapeutischen Vorgehensweisen wie z. B. Focusing (Gendlin & Wiltschko 2016), Körperpsychotherapie (Marlock et al. 2023) Imaginationsweisen (Reddemann 2016), Psychodrama (Kunz Mehlstaub & Stadler 2018) usw.). Der Kon-Text (sic!) dieser Verstehens-Symbolisierungen ist aber von dem Kon-Text wissenschaftlicher Beschreibungen und Erklärungen im Rahmen von Psychotherapie zu unterscheiden – auch wenn letztere gerade erstere (mit) zum Gegenstand erheben sollte.
Das wird auch in Greiners Endnote 2 explizit deutlich, wo er u. a. schreibt: «[…] untersuchen und beforschen ‹Geisteswissenschaften› die ‹Objektivationen des Geistes› […], d. h. kulturelle Sinngebilde aller Art – also im weitesten Sinne ‹Text›». Psychotherapie aber sollte nicht nur «Text» – also Symbolisiertes – im Auge haben, sondern auch jene Prozesse, die überhaupt erst symbolisiert werden müssen (also organismisches Erleben). Wenn also, um bei Greiners Beispiel zu bleiben, Tamara sagen würde «ich habe Hunger» wissen wir nicht, ob dies eine kongruente Symbolisierung ihrer inneren Prozesse ist, oder eine von anderen (z. B. frühen Bezugspersonen) inadäquate Beschreibung von Empfindungen, bei denen sie als Baby mit der Brust «abgespeist» wurde, um ruhig zu sein. Und bei sorgfältiger Spür-Arbeit würde sich vielleicht statt «Hunger» ergeben, dass die Symbolisierung der Empfindungen durch: «Eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe» in manchen Situationen viel angemessener wäre. Nicht nur wir wissen also, was in Tamara als Subjekt wirklich vorgeht, sondern ggf. weiss dies auch Tamara selbst nicht (was z. B. in der Psychoanalyse mit «Introjekte» thematisiert wird).
Das gilt analog auch für die Wirkkräfte, die von den sozialen Prozessen und ihren Strukturen ausgehen. Bei der oben bereits erwähnten Triangulation geht es ja darum, dass der verdeckte Konflikt zwischen Eltern bestimmte Reaktionsweisen des Kindes (z. B. «gestörtes Verhalten» oder psychosomatische Symptome) aufrechterhalten kann. Weder das Kind noch die Eltern haben in der Regel Einsicht in diese Dynamik; sie bleibt (ohne – ggf. therapeutische – Aufklärung) unbewusst. Dieses Geschehen einfach als «Text» zu bezeichnen – auch in dem von Greiner wesentlich erweiterten Verständnis – wird den benannten Differenzierungen innerhalb der Symbolwelten m. E. nicht genügend gerecht.
Auch den Ausführungen Greiners über die Wissenschaftskulturen kann ich nicht vorbehaltlos zustimmen – obwohl auch hier, nochmals betont, zentrale Wegmarken auf dem Argumentationsgang meine volle Zustimmung haben. Aber das zunächst als Dichotomie entfaltete Verhältnis von «Natur- vs. Geisteswissenschaft», das Greiner später im Beitrag um Aspekte wie «Biologie der Subjektivität» erweitert, wird der Komplexität der Aspekte und Phänomene nicht gerecht, sondern blendet m. E. zu viel aus.
Als erstes fehlt mir eine kulturell-erkenntnistheoretische Relativierung dessen, was Wissenschaft ausmacht – schon, wenn Greiner ansetzt: «Seit jeher wird naturwissenschaftliches Denken …», und sich dann lediglich auf Mainstreamdiskurse des späten Abendlandes bezieht. Dieses «Denken» «seit jeher» wird aber nur von einer kleinen Minderheit der Menschen auf diesem Planeten in einem vergleichsweise sehr kurzen Zeitraum (bestenfalls 500 Jahre) der Menschheitsgeschichte geteilt (selbst wenn man es auf jene Menschen bezieht, für welche Fragen der Erkenntnis überhaupt eine Rolle spielten). So besteht bspw. zwischen der Weltauffassung und -erklärung, die wesentlich durch Aristoteles geprägt ist (griechische, römische, westlich-abendländische Kultur), und jener, die auf Konfuzius zurückgeht (östliche Kulturen), gravierende Unterschiede (s. z. B. Nisbett 2004 – trotz kritischer Diskussion).
Als zweites fehlt im Hinblick auf Naturwissenschaft die Unterscheidung zwischen «der Natur der Dinge» und «den Dingen der Natur». Denn es gab und gibt Traditionen und Strömungen (z. B. bei den antiken Griechen), die mit Natur nicht einfach die Summe der gegebenen Dinge um uns herum meinen, sondern wo das Interesse vor allem dem Wesentlichen der Phänomene gilt. Es geht bei dieser – eng mit der Philosophie verbundenen – Frage nach der «Natur der Dinge» um allgemeine Ideen. Dieser Art, Naturwissenschaft zu treiben, lag die Motivation zugrunde, die Natur zu erkennen, um in Einklang mit ihr (oft auch als Ausdruck des Göttlichen verstanden) zu handeln, und nicht so sehr darum, die Natur zu beherrschen – ein Motiv, das in der abendländischen Wissenschaft überhaupt erst um 1500 bedeutsam wurde (vgl. Kriz 2011).
Nach der Hybris in dieser Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts (in «unserer» Wissenschaft!), die uns glauben liess, ein Bild der Natur erkennen und zeichnen zu können, das sich (prinzipiell) vollständig berechnen lässt, sind die Naturwissenschaften heute doch deutlich bescheidener geworden (zumindest die Mehrheit ihrer wissenschaftstheoretisch hinreichend gebildeten Proponenten). Der Weltformel-Physikalismus, den noch Anfang des 19. Jahrhunderts Pierre-Simon Laplace mit seinem «Dämon» vertrat, ist der Erkenntnis gewichen, die Werner Heisenberg (1955, S. 21) so zusammenfasste: «Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.» Es sei zugegeben, dass sich diese Einsicht noch nicht überall herumgesprochen – und gerade Disziplinen wir die Psychologie und Medizin oft weiterhin an einem Natur(-wissenschafts-)bild festhalten, das aus dem 19. Jahrhundert stammt (bei allem Detailfortschritt mit Myriaden von Befunden). Die Frage, welches Bild der Beziehung zum Menschen eigentlich die akademische Psychologie und Psychotherapie zeichnet, wird allzu selten gestellt – und von der Jagd nach vermeintlich objektiven (und gar vom handelnden und entscheidenden Forscher unabhängigen) «Fakten» zu sehr verdrängt.
Noch deutlicher wird die Verwobenheit von Geistes- und Naturwissenschaft bspw. in dem seit 1990 heftig diskutierten Briefwechsel zwischen dem Therapeuten C. G. Jung und dem Quantenphysiker Wolfgang Pauli (sowie in deren gemeinsamen Publikationen) zwischen 1946 und 1958 in dem Bemühen, eine gemeinsame Sprache von Physik und Psychologie zu finden (vgl. Meier 1992, Kriz 1999). Für beide, Pauli und Jung, war klar, dass hierfür nur eine Konzeption möglich ist, die jenseits der üblichen Beschreibungen von Physik einerseits und Psychologie andererseits liegt (ansonsten würde ja eine der beiden Wissenschaftsdisziplinen die andere umfassen). Dafür, so fanden beide übereinstimmend, eignet sich u. a. das Konzept der «Archetypen» hervorragend – dessen Struktur eine systemtheoretische ist (übrigens sehr ähnlich auch den Grundlagen der Personzentrierten Systemtheorie). Wobei Jung das Prinzip der Archetypen eben psychotherapeutisch und Pauli physikalisch ausdeutete bzw. spezifizierte (Jung & Pauli 1952, s. a. Atmanspacher et al. 1995). Beide – und das macht es für unseren Zusammenhang wichtig – stimmten auch in dem Credo überein, dass die Konzepte der Naturwissenschaften fraglos dem menschlichen Geist entspringen (also gewissermassen Geisteswissenschaft sind) und von diesem kreiert und nachvollzogen werden müssen. Lediglich die Methoden, Beweistechniken, die gestellten Fragen und die Untersuchungsobjekte etc. sind spezifisch für die Naturwissenschaften (als Wissenschaften von den Dingen der Natur) – und diese und können in der Tat nicht einfach im Kontext psychotherapeutischer Erörterungen und Forschung übernommen werden.
Daher kann zwar Greiners Argument voll zugestimmt werden, dass naturwissenschaftliche Vorgehensweisen oder Konzepte nicht einfach in die Psychotherapie übertragen werden können (oder, noch schlimmer, letztere auf erstere zurückgeführt bzw. durch diese erklärt werden können). So habe ich an anderer Stelle (Kriz 2019) gezeigt, welche fatalen Folgen es hat, wenn im Zuge einer Umdeutung von «Evidenzbasierung» das gute Prüfmodell der Pharmaforschung mit seiner RCT-Logik der Bewertung von Psychotherapie übergestülpt wird. Denn dies funktioniert nur dann hinreichend, wenn der Mensch als Subjekt und sinndeutendes Wesen gegenüber dem Menschen als experimentell manipulierbares Objekt vernachlässigt wird. Aber es ist m. E. keine naturalistische Deutung, wenn im Sinne einer strukturwissenschaftlichen Analyse die formierende Kompetenz des menschlichen Geistes sowohl naturwissenschaftliche als auch soziale und psychische Phänomene auf gleiche Strukturen bzw. Erklärungsprinzipien zurückführt (wie die oben erwähnten Archetypen). So lassen sich bspw. mit dem strukturwissenschaftlichen Modell der Synergetik von Herrmann Haken (& Schiepek 2010) sowohl die Physik des Lasers oder auch viele andere Phänomene in Physik, Chemie, Biologie etc. als aber eben auch Phänomene im Bereich der Gestalttheorie oder der Psychotherapie angemessen und detailliert beschreiben. Synergetik liegt bspw. auch der Personzentrierten Systemtheorie zugrunde, um die typisch nicht linearen Entwicklungsverläufe im Leben des Einzelnen, von Paaren, Familien und Organisationen, oder die Überstabilität von Symptomen und deren Veränderung und vieles mehr zu beschreiben (Kriz 2017). Das grundlegende Konzept der «Sinnattraktoren» ist sicher kein «naturwissenschaftliches» Konzept, weil Sinn nur im Bereich des Menschlichen eine angemessene Kategorie ist. Aber strukturellen Dynamiken, welche die Stabilisierung, Reduktion, Veränderung usw. beschreiben, sind z. B. in der Laser-Physik die gleichen, wie auch im Bereich kognitiver Gestaltung im Rahmen von Psychotherapie (ebd.).
Das heisst übrigens nicht, dass diese Konzepte für das Verstehen des Gegenübers in der professionellen Begegnung im Rahmen von Psychotherapie oder Beratung wesentlich wären. Denn dies markiert einen ganz anderen Bereich menschlichen Handelns als nach angemessenen Erklärungen und Prinzipien für beobachtete Phänomene zu suchen. Zum psychotherapeutischen Handeln bedarf es keiner erklärenden Theorie, sondern Empathie und eine therapeutische Beziehung, wie sie von Rogers (1951) wesentlich beschrieben wurde. Theorie kommt dort ins Spiel, wo diese Handlungen (zu Recht!) in unserer hoch differenzierten Gesellschaft begründet werden müssen. Dem würde auch Greiner sicherlich zustimmen.
Das wird im Rahmen medizinischer Tätigkeit und ärztlichen Handelns allein schon durch die unterschiedlichen Begriffe «Mediziner» und «Arzt» noch deutlicher. Dass auch im Bereich der sogenannten «Schulmedizin» ganzheitliche ärztliche Ansätze mit ihrem umfassenden Blick auf menschliches (Er-)Leben immer mehr zugunsten einer objektivierenden, auf losgelöste Details fokussierten Medizin verdrängt werden, muss hier nicht weiter erörtert werden – dazu gibt es zahlreiche Publikationen (z. B. Lown 2004, Grönemeyer 2018, Leiß 2020). Daher abschliessend ein Zitat aus Kriz (2019/2022):
«Inzwischen ist nicht nur die Humanistische Psychologie und Therapie weitgehend aus den deutschen Universitäten eliminiert, sondern eben auch die Bedeutung der Psychosomatik zugunsten eines technizistischen Medizinmodells revidiert worden. Die ‹Theorie der Humanmedizin› kann man nur noch antiquarisch erwerben, und selbst beim Lehrbuch ‹Uexküll: Psychosomatische Medizin› (Köhle [et al.] 2016) beklagt Leiß (2017) in einem ‹offenen Brief› an die Herausgeber: ‹auf dem Buch steht zwar noch Uexküll drauf, es ist aber (so gut wie) kein von Uexküll mehr drin› (S. 1) und kritisiert das ‹«Outsourcen» wissenschaftstheoretischer und philosophischer Überlegungen›, welche ‹die eigene Professionalität untergraben und mit einer «Passepartout»-Medizin der Ökonomisierung der Medizin Vorschub leisten› (S. 6). Entsprechend wurden viele Lehrstühle in psychosomatischer Medizin in den letzten zwei Jahrzehnten umgewidmet. Dabei wurde und wird die Ökonomisierung der Medizin und der Psychotherapie, die wesentlich zur Eliminierung ganzheitlicher, subjektbezogener Ansätze beigetragen hat, durch eine am Neoliberalismus orientierte Forschung befördert. Dieser geht es vor allem um monetäre Wertschöpfung inhaltliche Werte und die Verantwortung gegenüber der Sozialgemeinschaft oder dem Leben auf diesen Planeten sind weitgehend irrelevant.»
Resümee: Neben vielen guten Argumenten, Ausführungen und Vorschlägen in dem «Diskussionsangebot» von Kurt Greiner halte ich gerade die titelgebenden Wortbestandteile «Text» und «Medizin» für problematisch, weil missverständlich. Die mit beiden Worten verbundenen Konnotationen weisen – zumindest in Deutschland – eher auf eine objektivierende, dem Menschen in seiner Subjektivität und Ganzheit nicht gerecht werdende Sicht hin. Dies ist das Gegenteil von dem, was Greiner eigentlich anstrebt.
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How do we express inner experience and the effect of social structures?
A reply to Kurt Greiner: «Psychotherapy as text medicine»
Abstract: In this response to an article by Kurt Greiner on «Psychotherapy as text medicine», two aspects are put up for discussion. The first is the question of whether, in the current developments in psychotherapy, which is strongly dominated by a medical-technical world view, the two word components «text» and «medicine» do not reinforce this view – also criticized by Greiner – and whether these two terms are therefore rather unfortunate choices (even if they are interpreted differently by Greiner). This raises the question of whether it is not necessary to differentiate more clearly between (a) psychotherapy as an object of science – which is thus located in the area of cultural-objective symbol systems – and (b) psychotherapy as a relationship-forming activity – which must first of all or at least also focus on bodily-pre-linguistic experience. The second aspect that is put up for discussion is the relationship between different scientific cultures. Greiner’s contrast between the humanities and the natural sciences is shared in terms of method, but questioned in terms of content, as the objects and principles of the phenomena treated by the natural sciences are ultimately also creations of the human mind, as emphasized, for example, in the Pauli-Jung dialogue.
Keywords: psychotherapy, subjective experience, text medicine, objectivity, natural science, humanities, person-centered systems theory, structural science, archetypes, synergetics
Come possiamo esprimere il vissuto interiore e l’effetto delle strutture sociali?
Una risposta a Kurt Greiner: «La psicoterapia come medicina testuale»
Riassunto: In questa risposta a un articolo di Kurt Greiner su «La psicoterapia come medicina testuale», vengono messi in discussione due aspetti. Da un lato, ci si chiede se negli attuali sviluppi della psicoterapia, fortemente dominata da una visione del mondo tecnico-medica, l’abbinamento di termini che compongono l’espressione «medicina testuale» non rafforzi questa visione – criticata anche da Greiner – e che quindi non rappresenti una scelta appropriata (anche se Greiner li interpreta diversamente). Ciò solleva la questione se sia necessario operare una maggiore distinzione tra (a) la psicoterapia come oggetto di scienza – che si colloca quindi nell’area dei sistemi di simboli culturali-oggettivi – e (b) la psicoterapia come attività formativa della relazione, che deve innanzitutto fondamentalmente concentrarsi sull’esperienza corporea-prelinguistica. Il secondo aspetto che viene messo in discussione è il rapporto tra diverse culture scientifiche. La contrapposizione di Greiner tra scienze umane e scienze naturali è condivisa sul piano metodologico, ma messa in discussione in termini di contenuto, in quanto gli oggetti e i principi dei fenomeni trattati dalle scienze naturali sono in ultima analisi anche creazioni della mente umana, come sottolineato ad es. nel dialogo Pauli-Jung.
Parole chiave: psicoterapia, vissuto soggettivo, medicina testuale, oggettività, scienze naturali, scienze umane, teoria dei sistemi incentrati sulla persona, scienza strutturale, archetipi, sinergia
Biografische Notiz
Prof. Dr. Jürgen Kriz ist Emeritus für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück, hatte aber über 25 Jahre auch Professuren in Statistik und Forschungsmethoden inne. Er ist Ehrenmitglied etlicher psychotherapeutischer Fachverbände, war Gastprofessor u. a. in Wien, Zürich, Berlin, Moskau, Riga und den USA, und ist Autor von über 20 Büchern und 300 Fachbeiträgen. 2004–2008 war er Mitglied im WBP.
Kontakt
Prof. Dr. Jürgen Kriz
Universität Osnabrück
Institut für Psychologie Seminarstr. 20, Poststelle D-49074 Osnabrück
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