Buchbesprechung

Vogel, R. T. (2023)
Das Geheimnis der Seele. Grundlagen einer zeitgemäßen Psychotherapiewissenschaft
Kohlhammer ISBN: 978-3-17-044003-6 136 S., 51.90 CHF, 37.00 EUR

Psychotherapie-Wissenschaft 14 (1) 2024 85–87

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-1-85

Der Titel des Buchs verspricht nicht zu viel. Zeitgemäss ist sie, die Psychotherapiewissenschaft, wie Ralf Vogel sie vorschlägt. Sie entspricht den heutigen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Menschen, zu sich selbst, zur Umwelt und zur Natur, wie sie heute in fortschrittlichen, kollektiven Diskursen bereits verankert sind. Letztlich geht es um die grundsätzliche Unverfügbarkeit, d. h. der nicht totalen Erfassbarkeit und Steuerbarkeit der Natur und auch im Umgang mit den Mitmenschen. Es bleiben Geheimnisse, die prinzipiell nicht gelüftet werden können. Ganz besonders gilt dies auch für die Psychotherapie, deren zugrundeliegende Wissenschaft dieser Tatsache Rechnung tragen muss. Mit seinem Buch bietet Vogel dazu einen neuen Ansatz.

Eine kurze historische Einordnung dieses Ansatzes ist nötig, um seine herausragende Bedeutung hervorzuheben. Die Proklamierung der «Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft» war in den 1990ern eine überlebenswichtige Reaktion auf die finanziell bedingten Hegemonieansprüche der akademischen Psychologie, die die Psychotherapie als eine Anwendung der Psychologie bezeichnete und sich ihrerseits als Naturwissenschaft definierte. Seitens der Psychotherapie entstanden im Gegenzug dazu Institutionen, die die wissenschaftliche Eigenständigkeit vertreten, wie z. B. die EAP, ASP, SFU. Auch der Titel dieser Zeitschrift gehört zu dieser Proklamation. Bedeutsam bei Vogels Arbeit ist, dass sie nicht auf diesen kontroversen Hintergrund rekurriert, sondern allein auf wissenschaftlichem Boden bleibt.

Er geht von einem allgemeinen Strukturmodell der Psychotherapieschulen aus. Dieses umfasst fünf Perspektiven: eine philosophische, soziologische, psychopathologische, psychologische sowie eine Handlungs- und Wirksamkeitsperspektive. Dieser wissenschaftlich systematisierende Blick ermöglicht es, unterschiedliche Wissenskulturen, d. h. epistemische Kulturen und unterschiedliche Sinnkonstrukte miteinander zu vergleichen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen und auch die gemeinsamen Aufenthaltsräume zu beschreiben. Überschneidungsvariablen bilden z. B. die allgemeinen Wirkfaktoren. (An dieser Stelle sei auf die gemeinsame empirische Untersuchung verschiedener Schulen in diesem Heft hingewiesen: «Zum Umgang mit Emotionen in der Psychotherapie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede psychotherapeutischer Interventionen», die Vogels Ansatz voll bestätigt.) Die Möglichkeit und Grenzen der Integration unterschiedlicher Wissenskulturen, ohne den eigenen Kulturbestand in seiner Integrität zu gefährden, seien wichtig, auch schlägt er ein psychotherapiesprachliches Übersetzungsschema vor. Allerdings zeige sich, dass die Überführung von therapieschulbezogenen Begriffen in die Sprache einer anderen Wissenskultur nur annäherungsweise möglich sei, es bleibe ein mehr oder weniger grosser Bedeutungsüberhang bestehen. Praktisch werde in solchen Diskursen eher kreativ-hermeneutisch als übersetzend gearbeitet.

Die Anwendung des Strukturmodells expliziert er am Beispiel der Wissenskultur der tiefenpsychologischen Perspektive der Analytischen Psychologie in der Nachfolge C. G. Jungs. Auf der ersten Ebene des Strukturmodells geht es um die Menschenbildannahme und deren erkenntnistheoretische Implikationen. Wenn es um existenzielle Themen wie z. B. den Tod gehe, bleibe es ein Geheimnis, das nicht erfasst werden könne, weil es das Unbewusste berühre resp. dessen kollektive Schicht, wodurch eine starke Ergriffenheit ausgelöst werde. Der Zugang zu diesen Dimensionen könne, so Jung, nur durch das Medium des Symbols hergestellt werden. Es gehe um die Numinosität des Unverfügbaren, das im Symbol aufgehoben sei. Auch der Lebensweg des Menschen, die sog. Individuation, folge einer unklaren Zielausrichtung. Diese auf eine ungewisse Zielausrichtung hinsteuernde Individuation, so Jung, verleihe dem menschlichen Leben Sinn und Bedeutung. Das bedeute aber nicht, so Vogel, eine Absage an positivistische Forschungsstrategien, vielmehr gehe es um die Bescheidenheit anzuerkennen, dass sie nur einen kleinen Teil der seelischen Ganzheit abzubilden vermögen. Geheimnisse trügen aber auch eine potenzielle Gefährdung mit sich. Dabei zitiert er Jung: «Nicht wir haben Geheimnisse, die wirklichen Geheimnisse haben uns.» Jung weise damit auf die Gefahr einer unreflektierten Ergriffenheit hin, die dann, mit dem Argument des letztlich Unergründbaren, auch dem rationalen Diskurs entzogen werde. Vogel setzt sich auch mit der herausragenden Rolle der Bilder in der Analytischen Psychologie auseinander, die zu einer auf Bilder beruhenden Erkenntnistheorie führe, die das Verstehen der Bedeutung der Bilder als imaginativen und hermeneutischen Vorgang auffasst.

Ganz in den Kontext der Unverfügbarkeit und des Geheimnisses gehört nach Vogel auch die Kunst: »Kunst ist begrifflich betrachtet gekennzeichnet durch Opazität. Die ewige Frage, was denn eigentlich Kunst sei, würde hier emotionspsychologisch mit der Auslösung einer bestimmten emotionalen Reaktion, nämlich mit tremendum und fascinosum beantwortet«. Diese Definition ist ihm als Professor an einer Kunsthochschule durchaus abzunehmen. Die prinzipielle Unverfügbarkeit veranlasst Vogel dazu, Opazität als Grunddatum in die Psychotherapiewissenschaft einzuführen. Damit gibt er dem Geheimnis die wissenschaftliche Legitimation, die es in der Psychotherapie braucht, damit existenzielle Probleme überhaupt zur Sprache gebracht werden können. Die wissenschaftliche Legitimation leitet sich aus der Philosophie- und Kulturgeschichte ab, die von den alten Griechen bis in gegenwärtige Diskurse reicht. Dabei zeichnet er die vielfältigen und faszinierenden Verbindungen um die Opazität nach, die von der Sprachphilosophie und Kommunikationswissenschaft bis hin zu den modernen Technikwissenschaften reichen. Opake Begriffe weisen auf die Unmöglichkeit der exakten begrifflichen Bestimmung der Gegenstände hin. Es gehe dabei um eine «Wirklichkeit zweiter Ordnung», wo es um Sinn und Werte geht, im Gegensatz zur Wirklichkeit erster Ordnung, die die weitgehend physikalisch feststellbaren Eigenschaften von Dingen beschreibt. Um es klar auszudrücken, und dies machen die Ausführungen in Vogels Arbeit unmissverständlich bewusst, sind nicht die Gegenstände opak, sondern deren begriffliche Fassung. Dieser Hinweis deutet auch auf die Gefahr einer unreflektierten Abwehr der rationalen Auseinandersetzung mit den Gegenständen hin. Als Beispiel opaker Begriffe erwähnt er das Selbst und den Tod. Bei letzterem demonstriert er die Opazität durch eine Aufzählung der vielen Begriffe, mit denen versucht wird, diesen zu fassen.

Existenzielle Themenbereiche können als grundlegend für die Entstehung psychopathologischer Phänomene verstanden werden. Vogel bezeichnet sie als sogenannte transdiagnostische Faktoren. Diese Themen behalten einen unaufklärbaren Rest und es erfordere Mut, so der Autor, das entstehende Nicht-mehr-weiter-Wissen anzuerkennen. Vogel setzt die Aporetik, das Nicht-weiter-Wissen, auch als psychotherapiewissenschaftliches Grunddatum. Auch diese bettet er in einen weiten philosophischen und historischen Diskurs ein. Die Anerkennung der letztgültigen Unwissbarkeit führe nicht zum psychotherapiewissenschaftlichen Fatalismus. Es müsse allerdings eingeübt werden, mit wissenschaftlichem Anspruch über Problembereiche und Fragestellungen zu forschen und zu sprechen, die nie einer wirklichen Lösung zugeführt werden können. Im praktisch forscherischen Kontext verlangten Aporien eine kreative Herangehensweise, lineare Forschungsstränge, die auf positivierbares Wissen hinzielen, verböten sich von selbst.

Wie kann das umgesetzt werden? Von der Kunst zu lernen, ist sein Vorschlag. Mit dem Blick über die Grenze eröffne sich ein Feld der Veranschaulichung der Arbeit mit der Aporie und dem Opaken. Die Fähigkeit auszuhalten, dass manch künstlerische Gestaltung immer auch unvollkommen bleiben könne, ermögliche eine kognitiv-emotionale Annäherung an ambigue Sachverhalte und Ereignisse. Auch an dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, was der Autor nicht sagt, nämlich Psychotherapie sei eine Kunst, sondern dass der Umgang mit der Unvollkommenheit in der Kunst als Beispiel dienen könne. Dieser Hinweis erfolgt, weil das Klischee, dass Psychotherapie eher eine Kunst ist als eine Wissenschaft, allzu nahe liegt und die Gefahr besteht, dass man unreflektiert auf dieser Spur bleibt.

Psychotherapiewissenschaft sei diskursiv und selbstreflexiv auf der Basis von Kontextualität und Skeptizismus. Die Opazität, Numinosität, Polysemie und Aporetik spiegle sich auch in den unterschiedlichen Wissenskulturen der Schulen, die generell eine moderat-relativistische, kontextuelle und erkenntnistheoretische Grundhaltung haben. Die Psychotherapiewissenschaft sei dem Skeptizismus verpflichtet und habe sich einer kritischen Selbstbefragung zu stellen, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Unterschiedlichkeit der Wissenskulturen trügen zum gemeinsamen Grund der Psychotherapiewissenschaft bei. Dadurch entstehe kein Hegemonieanspruch und kein Konfliktpotenzial. Durch den integrierenden Aussenstandpunkt entstehe wiederum eine eigenständige Wissenskultur, die der kritischen Betrachtung ihrer selbst unterworfen sei, und dazu führe, dass sie keine Sicherheit bieten könne. Dies sei auszuhalten.

Wie kann aber in einem Wissenschaftsparadigma, das keine Sicherheit anstrebt, weil es sie grundsätzlich nicht gibt, geforscht werden? Vogel plädiert für ein erneutes Partizipieren der Psychotherapieforschung am «Konzert der narratologischen Wissenschaften vom Menschen». Nicht weit davon entfernt ist die Auseinandersetzung mit dem Bild, weil beide mit dem inneren Erleben zusammenhängen. Das Opake, Numinose und Aporetische äussert sich auch im Bilderleben, das der psychotherapiewissenschaftlichen Forschung zugänglich ist. Die Resultate hätten keinen beweisenden, sondern einen Hinweischarakter und ordnen sich der psychotherapiewissenschaftlichen Fraglichkeit zu. Sie hätten aber auch keine Beliebigkeit, denn sie müssen wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen.

In einem weiteren Schritt weist Vogel auf die kunstbasierte Forschung hin. Auch diese sei mit dem Wiederstreitenden konfrontiert. Es handelt sich dabei nicht um die etablierte Bildinterpretation oder Bildwissenschaft innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung, sondern um die Untersuchung künstlerischer Prozesse zur Annäherung an psychische Prozesse.

Schliesslich kommt noch der Stellenwert der positivistischen Forschung, d. h. vor allem der akademischen Psychologie im Verhältnis zur Psychotherapiewissenschaft zur Sprache. Zum einen sei die VT eine der Wissenskulturen unter den Psychotherapieschulen und bilde auch Aspekte des Opaken ab. Zum anderen sei ihre Einschätzung, dass die psychische und psychotherapeutisch relevante Wirklichkeit nicht sozial, logisch oder sprachlich konstruiert sei, sondern tatsächlich vorliege, eine scharfe Kritik an der skeptisch konzeptuellen Grundhaltung der Psychotherapiewissenschaft. Als skeptische Disziplin habe sie sich aber diese skeptische Betrachtung gefallen zu lassen. Auch hier fällt auf, das Vogel auf das inhaltliche der VT, ganz im Sinne seiner Konzeption einer integrierenden Psychotherapiewissenschaft, nicht konflikthaft reagiert. Opazität und Transparenz in den Begriffen der Psychotherapieforschung seien nicht ein duales Entweder-oder. Vielmehr stelle das Transparente und damit auch oft Messbare eine Oberflächenhülle des Gesamten dar. «Jedoch fordern Unsichtbarkeit, Uneindeutigkeit, Opazität einen hermeneutischen Freiraum, der z. B. durch Machtausübung leicht einzuschränken oder gar zu zerstören ist.» Zur politischen Situation der Hegemonieansprüche lässt die Klarheit seiner Stellungnahme aber nichts zu wünschen übrig. Abgeschlossen wird das Buch mit den Konsequenzen der Psychotherapiewissenschaft für die Ausbildung und die Supervision.

Wer sollte dieses Buch lesen? Für PsychotherapiewissenschaftlerInnen ist es Pflicht, für Interessierte an der Psychotherapiewissenschaft ist es gewinnbringend, denn es trägt zur beruflichen Identität bei, insbesondere liefert es wissenschaftliche Argumente gegen die Behauptung, Psychotherapie sei unwissenschaftlich. Es bietet eine weitverzweigte Übersicht über philosophische, sprachwissenschaftliche, soziologische und geschichtliche Aspekte. Dies macht es zwar nicht ganz einfach, es zu lesen. Man wird aber belohnt mit einem vollständigen Netz von Bezügen, denn es handelt es sich um die adaptierte Version der Habilitation, mit der sich Ralf Vogel als Psychotherapiewissenschaftler an der SFU in Wien habilitiert hat.

Mario Schlegel