Editorial

Psychotherapie-Wissenschaft 14 (1) 2024 5–6

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-1-5

Das Heftthema dieser Ausgabe leitet sich aus der aktuellen Frage nach dem wissenschaftlichen Standort der Psychotherapie ab. Aktuell ist diese Frage im Zusammenhang damit, dass in der Schweiz die Ausbildungsinstitutionen, um PsychotherapeutInnen ausbilden zu dürfen, in kurzen Abständen von sieben Jahren periodisch vom Staat akkreditiert werden. Eine beratende Instanz sind dabei Professoren von psychologischen Lehrstühlen Schweizerischer und Deutscher Universitäten. Da es keine anthropologischen, humanistischen und psychodynamischen Lehrstühle mehr gibt, sind diese methodologisch v. a. am Messen und Zählen orientiert, was zu erheblichem Unverständnis mit einzelnen Ausbildungsinstituten geführt hat. Aus diesem Grund sind die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychotherapie von grosser Relevanz und nicht einfach nur eine akademische Frage. Der Titel unserer Zeitschrift lautet darum auch Psychotherapie-Wissenschaft.

Der erste Beitrag beinhaltet eine Perspektive auf die wissenschaftstheoretische Fundierung der Psychotherapie. Kurt Greiners Perspektive ist pointiert geisteswissenschaftlich, das zeigt sich bereits im etwas provokanten Beitragstitel «Psychotherapie als Textmedizin». Im Text wird diese Zuspitzung erklärt, indem er unter «Text» nicht nur die Lebensgeschichte und Schilderung des Leidens versteht, sondern auch den nonverbalen Ausdruck. Die Texte müssen interpretatorisch-hermeneutisch verstanden werden. Grundlegend dabei ist die Dilthey’sche Trias: Erleben – Ausdruck – Verstehen. Es ist ein wissenschaftstheoretisch interessanter und informativer Text, der die Hintergründe der Hermeneutik und Epistemologie in der Psychotherapie sichtbar macht und auch neuere wissenschaftsphilosophische Diskurse, (Sartre, Popper, Gadamer, Ricœur, Habermas, Wallner) einbezieht.

Es gibt aber auch andere Perspektiven auf die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapie. Die Diskussion hat zwischen der Redaktion und dem Autor bereits angefangen und wir hoffen, dass aus dem Leserkreis auch Beiträge kommen werden, damit wir sie öffentlich führen können. Bitte halten Sie sich nicht zurück, denn letztlich geht es auch um Ihre berufliche Identität. Ist diese eher naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich orientiert, oder finden Sie Psychotherapie sei eher eine Kunst als eine Wissenschaft, oder von allem etwas? Kurz vor Redaktionsschluss ist von Ralf Vogel bei Kohlhammer das Buch Das Geheimnis der Seele, Grundlagen einer zeitgemäßen Psychotherapiewissenschaft erschienen. Es handelt sich um eine neue Perspektive. Weil sie zum Heftthema gehört, ist das Buch hier rezensiert worden.

Der nächste Beitrag von Jael Wernli, Rosmarie Barwinski, Mario Schlegel und Agnes von Wyl ist eine qualitative Studie, bei der es um Prozessforschung in der Psychotherapie geht, genauer um das emotionale Erleben von PatientIn und TherapeutIn in der Therapie. Diese Arbeit ist eine Fortführung der Untersuchung im Rahmen des AGUST-Projekts (Stegmann et al. 2019), in dem es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Anwendung von Interventionen bei humanistischen und psychodynamischen Therapieverfahren geht. Beide Studien gründen auf den Resultaten der PAP-S (von Wyl et al. 2016), und es geht darum, über einen vertieften Einblick in die praktische Arbeit eine Einsicht zu erhalten, warum sich die unterschiedlichen Verfahren, wie in der PAP-S gezeigt, bzgl. ihrer Wirksamkeit nicht unterscheiden.

Der Beitrag taucht etwas tiefer in die Fragestellung ein, indem die emotionale Dimension der therapeutischen Beziehung im Mittelpunkt steht. Der Versuchsaufbau besteht wie beim AGUST-Projekt darin, dass die SchulenvertreterInnen gemeinsam Videosequenzen aus einem psychotherapeutischen Lehrvideo der APA anschauen, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Resultate bestätigen bzgl. der Art der Interventionen die Resultate der PAP-S und des AGUST-Projekts. Durch die vertiefende Fragestellung nach dem Umgang mit Emotionen zeigt sich, dass die therapeutische Beziehung bei allen Verfahren im Zentrum steht. Dabei geht es nicht nur um die Emotionen der PatientInnen, sondern auch um die der Therapierenden. Das Erkennen von Gefühlsansteckung und Gegenübertragung wird in allen Ausbildungen durch Eigentherapie geübt und im Beruf stetig vervollkommnet. Das ist ein starkes Argument dafür, warum alle diese Verfahren gleichermassen wirksam sind. Das Bemerkenswerte beider Studien aus den Wissenschaftskolloquien der Schweizer Charta für Psychotherapie ist, dass es dabei nicht um theoretische Vergleiche geht, sondern um den Austausch zwischen den Schulen über Emotionen in der therapeutischen Arbeit. Diese Tatsache macht sie einzigartig.

Diese Resultate stehen in enger Verbindung mit dem darauffolgenden Beitrag von Anita Horn und Hartmut Rosa, die einen theoretischen Rahmen für die therapeutische Beziehung liefern. Mit dem Begriff der Resonanz hat der Soziologe Rosa eine moderne Modellvorstellung über Beziehungen zwischen Menschen, zur Umwelt, zu sich selbst und zur Natur eingeführt, die heute im kollektiven Diskurs verankert ist. Entsprechend hoch ist seine Präsenz in den Medien, wenn es um die Befindlichkeit in der heutigen Kultur und Gesellschaft geht. Die Jung’sche Psychotherapeutin und Philosophin Horn wendet im Austausch mit Rosa dieses Prinzip auf die psychotherapeutische Beziehung an. Es zeigt sich in diesem Kontext, dass der Begriff der Resonanz, weil er ein funktionsbeschreibender Begriff ist, sich mit psychotherapeutischen Begriffen amalgamiert und dadurch zu einer begrifflichen Klammer wird, die die theoretische Grundlage und Praxis der Psychotherapie befruchten kann. Dies nicht zuletzt, weil damit Bereiche integriert werden können, die nicht oder noch nicht in der Psychotherapie operationalisiert sind. So umfasst diese Klammer über die psychotherapeutischen Beziehungserfahrungen hinausgehend z. B. auch neuronale Resonanz, zwischenleibliche Resonanz usw. Horn und Rosa sehen im Begriff der Resonanz im Gegensatz zu anderen AutorInnen mehr als nur eine Metapher, nämlich eine identitätskonstituierende Form der Beziehung. Das erscheint mir logisch, weil der Begriff der Resonanz nicht nur eine Theorie begründet, sondern auch der Name einer Funktion ist. Das Besondere ihres Beitrags besteht darin, dass sie die Psychotherapie mit dem aktuellen Diskurs über die individuelle Befindlichkeit in der heutigen Gesellschaft verbindet.

Der sich anschliessende Beitrag von Renate Daniel nähert sich dem Thema aus der Perspektive der persönlichen und kollektiven Befindlichkeit an. Es handelt sich wie bei Horn und Rosa um die Bearbeitung eines Vortrags an einem Symposium des C. G. Jung-Instituts mit dem Thema «Psychotherapie und Gesellschaft in unruhigen Zeiten» im November 2022. Die Autorin zeigt die Problematik am Begriff der Seele auf. Sie assoziiert sie mit der Lebendigkeit, die nicht, wie Jung sagt, ausschliesslich auf rationale Art und Weise fassbar sei, und bezieht sich auf Rosas Symposiumsvortrag «Zeitenwende: Resonanz im Kontext von Aggression und Unverfügbarkeit». Der zentrale Begriff lautet «Unverfügbarkeit», der diametral der naturwissenschaftlichen Intention widerspricht, die ganze Welt verfügbar zu machen, was sich auch in unserem Leistungsstreben und psychischen Problemen niederschlägt. Lösungskonzepte sieht Daniel in Ansätzen der Jung’schen Psychologie, wo es auch darum geht anzuerkennen, dass man sich verrannt hat, und es darum geht, ein neues Gleichgewicht herzustellen, um der Seele wieder Platz zu geben.

Neben diesen Beitragen zum Heftthema beinhaltet diese Ausgabe auch zwei Originalarbeiten. Beide lassen sich unter dem übergeordneten Thema Sex und Gender verorten. Hier überlagern sich gesellschaftliche Dimensionen, die im letzten halben Jahrhundert sichtbar geworden sind. Für die Psychotherapie sind sie äusserst relevant, weil Leiden oft auch aus diesen Perspektiven verstanden werden muss. D. h. aber auch, dass die Therapierenden über ihre eigenen Identitäten in diesem Spannungsfeld bewusst sein müssen. Der Selbsterkenntnisprozess in der Ausbildung darf sich deshalb nicht nur auf die persönliche Psychodynamik beschränken, er muss auch die eigene Gewordenheit im kulturell-sozialen Kontext beinhalten. Und damit ergibt sich auch ein Zusammenhang mit dem Thema dieser Ausgabe: Eine moderne Psychotherapie geschieht auf Augenhöhe, indem Therapierende z. B. den gemeinsamen sozialen Kontext mit den Patient*innen reflektieren.

In der ersten Originalarbeit «Ich überlege gerade, was es macht, dass ich eine Frau bin» halten Julia Groinig und Brigitte Schigl fest, dass psychisches Leiden von Patient*innen oft mit Normvorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit verbunden sei. Sie untermauern diese Feststellung mit einer diskursanalytischen Studie. Dabei stellt sich heraus, dass Psychotherapeut*innen erst auf einen Denkanstoss hin Genderaspekte reflektieren. Die Autorinnen verweisen somit auf die Notwendigkeit der Förderung von Gendersensibilität in der Ausbildung und Supervision. Darüber hinaus ist ihr Beitrag höchst lesenswert, da er in die reichgefächerte Genderproblematik aus Sicht der therapeutischen Beziehung einführt und eine Erweiterung des Wissenshorizont garantiert.

Die zweite Originalarbeit «Sturm und Drang im Würgegriff der Medien. Die Leiden der jungen Generation am eigenen Geschlecht» von Volker Tschuschke und Alexander Korte lässt sich aus philosophischer Sicht mit dem Heftthema verbinden, wo es darum geht, sich die ganze Welt verfügbar zu machen, was sich auch in unseren psychischen Problemen niederschlägt. Tschuschke und Korte sehen den Umgang mit der Geschlechtsdysphorie nicht zuletzt auch aus dieser Sicht. Die unhinterfragte Grössenfantasie, alles sei machbar, treffe auch auf eine sog. Geschlechtsumwandlung zu, eine Grössenfantasie eines pubertären Entwicklungsabschnitts. Psychotherapeut*innen sollten sich nicht dazu verleiten lassen, eine unbewusste Kollusion mit ihren Patient*innen einzugehen. Es handelt sich um einen sehr umfassenden Beitrag, der viele Aspekten der Problematik erfasst, angefangen vom Einfluss der sozialen Medien auf die Identität Jugendlicher durch soziale Ansteckung, über den Prozess im Deutschen Bundestag zum Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag bis hin zum Glauben an das Wachstum im Kapitalismus, der auch in soziale und psychische Bereiche eindringt. Für Therapeut*innen, die in ihrer Praxis mit dieser Problematik konfrontiert sind, ist dieser Beitrag im Dickicht der sozialen, kulturellen und politischen Landschaft eine sehr gute Orientierungshilfe.

Das Heft wird durch eine deutsche und eine italienischsprachige Buchbesprechung abgerundet.

Mario Schlegel

Literatur

Stegmann, C., Barwinski, R., Hartmann, K., Schlegel, M. & von Wyl, A. (2019). Das AGUST-Projekt. Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden schulspezifischer Psychotherapieverfahren. Psychotherapie-Wissenschaft, 9(2), 74–84.

von Wyl, A., Tschuschke, V., Crameri, A., Koemeda-Lutz, M. & Schulthess, P. (2016). Was wirkt in der Psychotherapie? Ergebnisse der Praxisstudie ambulante Psychotherapie zu 10 unterschiedlichen Verfahren. Psychosozial-Verlag.