Plädoyer für die Seele

Ein Beitrag der Jung’schen Tiefenpsychologie zu aktuellen individuellen und kollektiven Herausforderungen

Renate Daniel

Psychotherapie-Wissenschaft 14 (1) 2024 45–51

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2024-1-45

Zusammenfassung: In diesem Artikel wird der Frage nachgegangen, wie der Begriff der Seele in der Postmoderne gefasst werden kann. Dabei werden Definitionsvorschläge der Analytischen Psychologie vorgestellt und diese in den zeitgeschichtlichen Kontext der Postmoderne gestellt. Da der Seelenbegriff in der heutigen Zeit nicht mehr en vogue ist, findet zunehmend eine Entzauberung der Welt statt, die mit einem grossen innerpsychischen Preis gezahlt wird, der sich auch in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Coronapandemie, die Klimakrise und Kriege zeigt. Es werden Lösungsvorschläge aufgezeigt, wie mithilfe des Einsatzes von Konzepten der Analytischen Psychologie diesen Krisen begegnet und gleichzeitig der Seele wieder ein Platz in der postmodernen Gesellschaft eingeräumt werden kann.

Schlüsselwörter: Seele, Postmoderne, Klima, Krise, Lösungen

Das Phänomen Seele

Im Alltag hat das Wort Seele einen festen Platz: So sprechen wir bspw. von der Seelenverwandtschaft, vom Seelenfrieden oder Seelenheil, gelegentlich vom Balsam für die Seele und manchmal sagen wir auch: «Du sprichst mir aus der Seele.» Diese wenigen Beispiele sollen veranschaulichen, dass für zahlreiche Menschen die Vorstellung einer Seele emotional und intellektuell stimmig ist. Doch was ist die Seele?1 C. G. Jung (GW9/1, § 56) meinte, dass «beseeltes Wesen lebendiges Wesen ist […] Seele zu haben, ist das Wagnis des Lebens, denn die Seele ist ein lebenspendender Dämon […] Himmel und Hölle sind Schicksale der Seele». Seele und Lebendigkeit sind in Jungs Vorstellung somit eng miteinander verknüpft, wovon auch die Theologin Johanna Haberer (2021, S. 33) überzeugt ist, denn für sie «ist die Seele ein Wort, das Wesentliches beschreibt, ohne dass man es definieren könnte; sie ist das unsichtbare Unbekannte, ohne das alles Lebendige nichts ist». Wenn wir drei bisher genannte Eigenschaften der Seele, nämlich Lebendigkeit, Unsichtbarkeit sowie das Unbekannte ernst nehmen, dann schreiben wir der Seele einen «geheimnisvollem, metaphysischen Charakter» zu (Jung GW6, § 278), der auf ausschliesslich rationale Art und Weise nicht begreifbar oder fassbar ist. Und Hand aufs Herz, eigentlich wissen wir nicht genau, was Leben überhaupt ist. Wir können zwar beschreiben, dass es existiert, wann wir uns lebendig und somit «beseelt» erleben, welche Prozesse zum Lebendigen gehören, es erhalten oder töten, aber das Wesen (Essenzielle) des Lebendigen ist uns bisher verborgen. Und wenn Aristoteles (zit. n. 2011) die «Seele als Prinzip der Lebewesen beschreibt, die weder eine Art Substanz noch ein Einzelding ist, sie weder ohne Körper noch selbst Körper ist», dann ist aus naturwissenschaftlicher Sicht schwerlich eine Versuchsanordnung denkbar, mit dem eine solche Seele erforschbar wäre.

Unter Zugrundelegung der genannten Seelenvorstellung verwundert es kaum, wenn auf der Website der Universität Zürich zu lesen ist, dass es im Studium der Psychologie nicht darum gehe, über das Menschsein, den Sinn des Lebens oder die Seele nachzudenken.2 Psychologie als empirische Wissenschaft untersuche vielmehr das, was durch wissenschaftliche Experimente, durch Beobachtungen oder Fragebogen messbar sei. Es gehe um klare Fakten, eindeutige Zahlen und statistische Ergebnisse. Das ist ganz im Sinne Jungs (GW7, § 201), weil für ihn «das Ganze der Seele vom Intellekt allein nie erfasst werden kann». Bereits 1912 hat er dazu ausgeführt:

«Wer also die menschliche Seele kennenlernen will, der wird von der experimentellen Psychologie leider so viel wie nichts darüber erfahren. Ihm wäre zu raten […] der Studierstube Ade zu sagen und mit menschlichem Herzen durch die Welt zu wandern, durch die Schrecken der Gefängnisse, Irrenhäuser und Spitäler, durch trübe Vorstadtkneipen, Bordelle und Spielhöllen, durch die Salons der eleganten Gesellschaft, die Börsen, die sozialistischen Meetings, die Kirchen, die Revivals und Ekstasen der Sekten zu gehen, Liebe und Hass, Leidenschaft in jeder Form am eigenen Leibe zu erleben» (GW7, § 409).

Seele ist erfahrbar, wenn man mit wachem Geist, Emotion und Körper ins Leben eintaucht, mit all seinen wunderbaren, faszinierenden, aber auch banalen und schrecklichen Facetten.3 Wenn aber die Seelenforschung in der derzeitigen universitären Psychologie keinen Platz hat, fragt man sich, wer heute für sie zuständig ist, zumal sich laut dem Psychiater Daniel Hell (2003, S. 20) mittlerweile sogar die Theolog*innen vor der Seele fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Ist die Seele – was immer sie sein mag – ein Tabu oder löst sie Ängste aus? Existiert sie vielleicht gar nicht oder stirbt sie langsam aus, etwa weil wir sie gar nicht mehr benötigen? Ein zunehmendes Schwinden der Seele ist für den Soziologen Hartmut Rosa (2019, S. 34) die logische Folge unserer naturwissenschaftlichen Bemühungen: Die Welt ist durch unser Wissen verfügbarer geworden und das hat eine «Entzauberung statt Beseelung» zur Konsequenz. Eine solche Entzauberung mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als ein Zurückdrängen des Unverfügbaren, Unbekannten oder Nicht-Gewussten macht die Welt planbarer und sicherer. Ehemals hinzunehmende Gefahren wandeln sich zu Risiken, die der Mensch mehr oder weniger gut beherrscht (Nassehi, 2021, S. 312). Das ist die Grundlage des Fortschritts, von dem wir alle profitieren.

Doch wie weit wird dieser Fortschritt gehen? Wird die Naturwissenschaft in der Lage sein, die ganze Essenz des Lebendigen zu erfassen und zu verstehen? Der Physiker Wolfram Schommers (1997, S. 48) bezweifelt das und postuliert, dass die fundamentale Wirklichkeit nicht erkennbar ist und wir von ihr lediglich Bilder haben können. Ähnlich gehen die beiden Neurowissenschaftler Mark Solms und Oliver Turnbull (2004, S. 71) davon aus, dass wir das, woraus wir gemacht sind, niemals wahrnehmen können. Wenn aber das Lebendige naturwissenschaftlich nicht vollständig zu entschlüsseln ist, dann braucht es u. a. die Tiefenpsychologie sowie die Geisteswissenschaften, die dem Uneindeutigen, dem Geheimnisvollen sowie der Ambiguität einen Platz einräumen. Neben das exakte Wissen treten Deutungen, Vermutungen sowie der Glauben – letzterer für viele mittlerweile etwas Anstössiges.

Historisch betrachtet kam es wohl im Lauf des 18. Jahrhunderts zur Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen (Jung GW9/2, § 268). Das grösste Problem des Glaubens ist, so der Philosoph und Psychologe Volker Gerhardt (2018, S. 9), dass er als historischer Vorläufer des Wissens gilt, weshalb es nur eine Frage der Zeit scheint, bis die Wissenschaft gläubige Menschen von der Rückständigkeit ihrer Einstellung überzeugen kann. Manche blicken mit verständnisvollem Wohlwollen, andere mit mehr oder weniger Verachtung auf all jene, die noch nicht so weit sind, den Glauben hinter sich zu lassen. Aber sind Naturwissenschaft und Glauben wirklich Feinde und somit unüberbrückbarer Gegensatz? Wenn der Philosoph Markus Gabriel (2013, S. 187) unser heutiges wissenschaftliches Weltbild als eine Religion unter anderen beschreibt, dann wären die beiden nicht getrennt, sondern eng miteinander verknüpft. Auch Wissenschaftler*innen glauben an etwas, sie haben mehr oder weniger bewusste Grundannahmen über die Welt, die sie selten hinterfragen. Ausgehend von solchen mehr oder weniger unbewussten Grundannahmen stellen sie Fragen, planen ihre Forschung und Experimente. Zudem sprechen wissenschaftlich gewonnene Daten nie für sich selbst, sondern werden interpretiert, und auch dabei kommen Glaubensätze und Überzeugungen ins Spiel. Interpretationen sind als Bewertungen nie völlig objektiv oder ausschliesslich rational.

Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die Beschäftigung mit der Seele auf unsicheres Terrain führt, weshalb sich die Frage stellt, ob es sich überhaupt lohnt, sich der Seele zu widmen. Folgt man Jung (GW17, § 302), der 1932 seelische Kräfte zur grössten Macht der Erde erklärte und die Wurzeln der uns bedrohenden Katastrophen in der Seele bzw. Psyche verortete, dann wäre eine Beschäftigung mit ihr lohnend, angesichts der derzeitigen existenziellen Herausforderungen vielleicht sogar zwingend. Wer kollektive Konflikte verstehen und sinnvolle Lösungen finden will, kommt um die Seele nicht herum. Dabei geht es im ersten Schritt um den einzelnen Menschen und seine seelische Entwicklung, wie sie Jung im Individuationsprozess beschrieben hat. Dieser Prozess bedeutet, das in uns Angelegte und somit unsere mitgebrachten Potenziale zu entfalten. Jung (GW17, § 302; GW7, § 30) spricht in diesem Zusammenhang auch von Auftrag, individueller Bestimmtheit und Bestimmung. Das ist nicht statisch gedacht, sondern in diesem Entwicklungsprozess geht es um das Wechselspiel zwischen Gegebenem und der Antwort unseres Ichs darauf. In dieser Selbstfindung werden wir uns zunehmend mehr bewusst, wie wir gemeint sind. Folgt man dem Psychiater Adolf Guggenbühl-Craig (1993, S. 88) so ist diese Individuation kein geradliniges oder lineares Fortschreiten, sondern ein spiralförmiger Tanz um ein Zentrum, dem man sich annähert und von dem man sich wieder entfernt. Und dieses Zentrum, auf das unser Ich bezogen ist, können wir Seele nennen.

Ursprünglich meinte nämlich der Begriff Seele den freien Raum als Zentrum, der die Form einer Gestalt vorgibt. Bei der Wendeltreppe ist die Seele der freie Teil, um den sich die Stufen spiralförmig winden, bei den Goldschmied*innen ist die Seele der Raum, um den herum ein Gefäss entsteht, bei den Mediziner*innen ist die Seele eine Bezeichnung für das Innenteil einer Trachealkanüle (Haberer 2021, S. 26). Dieser freie Raum – eine Leere oder Nichts – ist also essenziell, denn ohne ihn gäbe es weder die Wendeltreppe, das Gefäss oder die Kanüle. Wenn wir die Metapher des freien Raums im Zentrum als Bild der menschlichen Seele aufgreifen, dann wissen wir nicht wirklich, was sie genau ist und was daraus im Individuationsprozess lebendig werden kann. Trotzdem scheint sie halt- und formgebend zu sein. Die Seele ist die zentrale Impulsgeberin, aus der heraus sich die Persönlichkeit verwirklicht. Und hier haben Glauben, Staunen oder auch Ahnungen ihren Platz. Die Metapher des freien Raums öffnet zudem ein mögliches Verständnis für Menschen, die an einer inneren Leere leiden – es könnte sein, dass sie ganz nah an der Seele dran sind.4

Das Epochenspezifische des Individuationsprozesses

Historisch betrachtet waren die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in der westlichen Welt lange sehr stark eingeschränkt. Im Mittelalter war durch die Hierarchie als der heiligen Ordnung per Geburt festgelegt, wohin man gehörte, und es war kaum möglich den eigenen Stand zu verlassen. Aber auch traditionelle Erwartungen der Gesellschaft engten lange die Persönlichkeitsentfaltung ein. Die in der Romantik beschriebene und von Jung aufgegriffene Idee des «Werde, der du bist – finde deinen Platz» eröffnete die Möglichkeit, äusserlich vorgegebene Erwartungen hinter sich zu lassen und Grenzen zu durchbrechen, wenn die eigene, von innen gespürte Bestimmung «gerufen» hat. Folgt man Rosa (2021, S. 38), so ist die Vorstellung einer solchen Bestimmung und damit unveränderlichen, vorgegebenen Identität im Sinne von «Werde, der du bist» heute obsolet. Welche Potenziale, Bedürfnisse ein Mensch entfaltet, welche Wünsche sich entwickeln und verfolgt werden, scheint heute radikal offen. Für den heutigen Menschen geht es vielmehr darum, Positionen zu vermeiden, sich als «Surfer», «Nomadin» oder «Drifter» nicht festzulegen, sondern immer neu zu erfinden. Wenn nun aber die Seele ein unsichtbares inneres Zentrum sein sollte, dann ist lediglich die Dynamik des Individuationsprozesses vorgegeben im Sinne eines Bezogenseins (religio) auf die Seele. Welcher Inhalt sich jeweils verwirklichen will, ist zunächst unbekannt, deutet sich aber zumindest partiell an im jeweiligen Zeitgeist und kollektiven Menschenbild.

Zu Lebzeiten Jungs und Freuds war laut dem Philosophen Byung-Chul Han (2018, S. 70) die Gesellschaft v. a. eine Disziplinargesellschaft. Der einzelne Mensch entwickelte ein Über-Ich als innere Repräsentanz der gesellschaftlich vorgegebenen Gebote, Gesetze und Verbote. Die verinnerlichten Normen als Niederschlag dessen, was erlaubt und was nicht erlaubt war, was zu tun und was nicht zu tun ist, prägte das sog. «Gehorsamssubjekt». Grob und verkürzt gesagt: Wer sich nicht einfügen konnte oder wollte, wurde entweder kriminell oder hysterisch, so Han. Auch wenn bis heute Disziplin, Gehorsam, Anpassung eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen, so scheint es in den letzten Jahrzehnten eine fundamentale Neuausrichtung des Individuums zu geben. In unserer Leistungsgesellschaft geht es nicht mehr vorwiegend um Gehorsam oder Anpassung an vorgegebene Strukturen. Die innere Orientierung erfolgt weniger am Über-Ich sondern zunehmend mehr am Ich-Ideal, also an dem, wie man sein könnte oder möchte. Der leistungserbringende Mensch will und muss ständig motiviert sein, soll Initiative zeigen, sich stetig verbessern, um nur einige Aspekte dieses neuen Selbstverständnisses zu zeigen. Hintergrund dieses Selbst- und Weltverhältnisses sind Slogans wie «Accept no limits» und «Yes we can». Im positiven Fall wachsen wir dabei über uns hinaus, überwinden hinderliche Grenzen, erweitern unseren Horizont, werden kreativ und innovativ.

Das nach oben offene Ich-Ideal mit seiner grenzenlosen Steigerungslogik – ich könnte immer besser, schneller, effizienter, schöner, sportlicher/fitter usw. sein – birgt erhebliche Gefahren: Weil nämlich der Umgang mit negativen Gefühlen wie Neid, Wut, Angst, Verzweiflung, Enttäuschung, Frustration, Überforderung usw. häufig nicht gelingt. Genau solche negativen Gefühle bringt nämlich, so der Soziologe Andreas Reckwitz (2021, S. 26, 205), die Postmoderne5 systematisch hervor, weil wir ja irgendwann die hohen Ansprüche nicht mehr schaffen, sondern scheitern, auf beschämende Art und Weise versagen oder im Burn-out landen. Für Tiefenpsychologen sind solche soziologischen Erkenntnisse wichtig, wenn es stimmt, dass jedes Zeitalter seine Leitkrankheiten hat (Han 2018, S. 7), oder, wie Jung (GW7, § 18) es formuliert, dass «die Neurose innigst mit dem Problem der Zeit verknüpft ist». Das Individuum leidet an etwas, das keine rein persönliche Angelegenheit ist, sondern eigentlich uns alle angeht. Individuelle und gesellschaftliche Entwicklung sind demnach eng verzahnt.

Die Seele und die drei grossen Krisen unserer Zeit

Kollektiv betrachtet richtet sich unser Augenmerk in der westlichen Welt derzeit v. a. auf drei Bedrohungen: die Klimakrise, die Coronapandemie sowie die Kriege in der Ukraine und im Gaza-Streifen. Die Begriffe Klimakrise, Klimaschutz oder Klimagerechtigkeit gehen uns leicht von der Zunge, sind aber irreführend, denn das Klima hat weder eine Krise, noch muss es geschützt werden oder irgendwie gerechter gemacht werden. Und wenn wir etwa «für» das Klima Massnahmen ergreifen, dann schützen wir nicht das Klima, wie vor Kurzem ein deutscher Politiker meinte, sondern wir schützen Menschen und Natur. Das Klima ist nämlich zunächst einmal, wie es eben ist, unabhängig davon wie viel Anteil der Mensch daran hat. Aber was wir derzeit klimatisch erleben, seien es extreme Dürren, Feuer, Überflutungen, heftigste Stürme, bewirkt eine globale Natur- und Menschheitskrise, etwa weil die Existenzgrundlage vieler Menschen zerstört wird, weite Gegenden der Welt wohl unbewohnbar werden, die Menschen somit ihre Heimat verlieren und in noch bewohnbare Orte fliehen müssen. Für diese extremen Wetteränderungen sind v. a. die Länder des globalen Nordens mit ihrem hohen Konsum verantwortlich, während die Menschen in den ärmeren Ländern mit deutlich geringerem Energieverbrauch am schlimmsten von den Klimaveränderungen betroffen sind. Das ist ungerecht. Wir halten uns mit den genannten Klimabegriffen das Bedrohliche vom Leib, indem wir es nach aussen auf das Klima projizieren.6 Die projektive Wortwahl wendet den Blick weg von uns, entlastet und könnte zumindest teilweise für unser zögerliches Verhalten verantwortlich sein, obwohl Wissenschaftler*innen und andere seit Jahrzehnten verzweifelt anmahnen, dass wir so nicht weiter machen können. Solange wir aber emotional nicht berührt werden und spüren, wie ernst es um uns und alle Lebewesen steht, solange werden wir eher passiv bleiben. Ein weiterer Grund für unsere Passivität könnte auch unsere Einstellung zur Natur sein: Wir arbeiten gegen sie, überwinden sie, etwa in der Medizin, wir entnehmen ihr teilweise rücksichtlos, was uns gefällt. In der Coronapandemie befanden wir uns im Krieg mit ihr, falls man den Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Glauben schenken will.7 Das mag auf den ersten Blick absurd klingen, aber die Hamsterkäufe der Menschen, die Ausgangssperren, die Passierscheine für den Grenzübertritt, die Inflation oder auch Denunziationen sind typische Elemente im Krieg, genau wie die reale Todesangst. Und wie in jedem Krieg gab es in der Pandemie Gewinner und Verlierer – und v. a. viele Tote. Und das ist das Gemeinsame an den drei genannten Krisen: Wir sind mit dem Tod konfrontiert – dem Gegenpol zum Lebendigen und somit der Seele.

Mit dem Tod geht es uns ähnlich wie mit der Seele: «Was der Tod ist, weiss immer noch niemand […]. Der Tod ist das Andere der Aufklärung, der unaufklärbare Rest, eine lästige Erinnerung daran, dass Wissenschaft Grenzen hat» (Welzer 2021, S. 31). Und Grenzen sind etwas, was der postmoderne Mensch nicht gern akzeptiert, wohl mit ein Grund dafür, warum die reichsten Männer der Erde wie u. a. Jeff Bezos, Larry Page oder Peter Thiel sehr viel Geld in die Unsterblichkeitsforschung investieren. Bisher sind alle Menschen sterblich, der Tod ist somit ein archetypisches Phänomen. In allen Kulturen und Epochen ist er der unzerstörbare Zerstörer (Kast 2015, S. 176), den wir bisher nur hinausschieben, aber nicht besiegen konnten. Neben dem individuellen physischen Tod erleben wir derzeit einige kollektive Zerstörungen: tiefgreifende kollektive Transformationsprozesse, bei denen Altes stirbt, bevor bestenfalls etwas Neues entstehen und wachsen kann. Und ähnlich dem körperlichen Tod sind solche inneren und äusseren Transformationsprozesse häufig verlustreich und schmerzlich. Wenn wir den Tod, seine Bedeutung und Symbolik besser verstehen wollen, lohnt ein Blick auf religiöse Texte, Mythen und Märchen, da sie sich seit Menschengedenken mit ihm auseinandersetzen. Zwar haben sie weder eindeutige noch objektive Antworten parat, aber ein bis heute relevantes Wissen über existenzielle Fragen. Wie ist das möglich?

Vom Wissen um wiederkehrende kollektive Krisen

Der von Freud beschriebene Wiederholungszwang als unbewusster menschlicher Impuls, schmerzliche, unangenehme oder sogar destruktive Handlungen zu wiederholen, scheint nicht nur den einzelnen Menschen zu betreffen, sondern ganze Gesellschaften. Deshalb könnte man, wie auch die Jung’sche Analytikerin Aniela Jaffé (1983, S. 128f.), von einer Individuation der Menschheit sprechen, als einer sich über Jahrtausende hinziehenden Entwicklung und Differenzierung des kollektiven Bewusstseins. Warum es diesen kollektiven Differenzierungsprozess mit grossartigen Chancen, aber auch Gefahren gibt, wissen wir nicht; wir können ihn sowie seine sozialen, politischen und praktischen Folgen lediglich beschreiben. Was nun den Wiederholungszwang anbelangt, hat Marie-Louise von Franz 1974 im Rahmen einer Vorlesungsreihe zu Märchen über einen regelmässig wiederkehrenden kollektiven Prozess referiert: Die Menschheit gerät immer wieder in vergleichbare Sackgassen. Abhängig von der jeweiligen Epoche sind die Inhalte solcher wiederkehrenden Sackgassen zwar verschieden, der strukturelle seelische Prozess ist hingegen sehr ähnlich. Wenn man das Bild der Wendeltreppe mit dem inneren leeren Seelenraum zur Veranschaulichung heranzieht, befindet sich die Menschheit immer wieder am gleichen Punkt, aber jeweils eine Stufe höher. Die alten Überlieferungen, Mythen oder Märchen wissen davon, erzählen wie unsere Ahnen die seelischen Hintergründe einer Krise eingeordnet haben und welche innere Haltung hilfreich sein kann.

In der von Jaffé beschriebenen kollektiven Individuation hat es wohl wiederholt Zeiten gegeben, in denen die zivilisierte Welt zu verfeinert, zu differenziert, zu glänzend, zu ästhetisch, zu formal, zu komplex usw. geworden ist. Von Franz (2019) hat anhand von Märchen die typischen Folgen solcher Epochen einer Überzivilisierung und Überdifferenzierung herausgearbeitet, nämlich zunehmende soziale Klüfte zwischen den oberen und den unteren Bevölkerungsschichten: «Wenige führende Clans sind die alleinigen Nutznießer und die Armen haben nichts davon» (ebd., S. 24, 137). Als weitere Folge beschreibt sie «innere und äussere Spaltungen, denen gewöhnlich zerstörerische Bewegungen folgen» (ebd., S. 84f.). Genau solche Phänomene erleben wir heute wieder, eine zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen, verknüpft mit Abstiegsängsten von bisher gut situierten Menschen, die wissen, wie rasch sie in eine finanziell prekäre Situation abrutschen können. Forschungen des Soziologen Oliver Nachtwey (2018) belegen die bedrohliche Zunahme der sozialen Unterschiede, bei der es sich um einen «Rückschritt» handelt im Vergleich zu den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ähnlich regressiv ist in den aktuell so überfordernden Zeiten die Sehnsucht vieler Menschen nach starken, vorwiegend männlichen autoritären Führern, auf die häufig der «Erlöser» oder «Erretter» projiziert wird. Auch hierbei handelt es sich um ein wiederkehrendes kollektives Phänomen.

Zu den Spaltungsphänomenen gehört auch eine zunehmende Kluft zwischen der universitären Wissenschaft, den sog. Eliten, und Lai*innen. Nicht nur bei der Coronapandemie, sondern bspw. auch bei den Auseinandersetzungen um Elektrosmog, Gentechnik oder Nanopartikeln wird zwischen Expert*innen und Lai*innen über die Zuverlässigkeit von Studien sowie Glaubwürdigkeit von daraus gezogenen Schlussfolgerungen gestritten. Und wenn Begriffe wie Seele oder Identität aus der Forschung verbannt werden, dann vergrössert sich der «Graben» zum «einfachen» Menschen auf der Strasse, weil er sich nicht mehr ernst genommen fühlt.

Unterschiedliche Einstellungen zur Natur

Vor knapp 50 Jahren, als die Situation hinsichtlich Klima, Umweltverschmutzung oder sozialer Gerechtigkeit weit weniger dramatisch war als heute, hat von Franz bereits erläutert, dass wir nach mehr als 200 Jahren Aufklärung die Erdoberfläche praktisch zerstört, dabei einen Grossteil ihres Tier- und Pflanzenlebens ausgelöscht haben und auf dem besten Weg sind, uns selbst auszulöschen. Indigene Völker haben dieses Plünderungsverhalten der Europäer früh begriffen und erkannt, wie wenig sie diesem Verhalten entgegensetzen können. Vor diesem Hintergrund hat Te Heuheu, der oberste Häuptling der Maori, 1887 die höchsten Berggipfel auf der Nordinsel Neuseelands dem neuseeländischen Volk «geschenkt» mit der Auflage, einen Nationalpark zu gründen, weil ihm das als die beste Möglichkeit erschien, den heiligen Status der Berge zu erhalten. Heilig war die Erde auch für viele indigene Völker in den USA. Selbst wenn Datum, Ort und tatsächlicher Wortlaut der Rede 1855 von Chief Seattle,8 Häuptling der Suquamish und Duwamish, zum Präsidenten der USA sehr umstritten sind, so hilft das Dokument, zwei diametral unterschiedliche Einstellungen zur Erde zu reflektieren. Einerseits gibt es die Idee, dass die Erde nicht dem Menschen gehört, sondern der Mensch der Erde, und man deshalb alles, was man der Erde antut, sich selbst antut. Weltzerstörung wäre demnach Menschenzerstörung. Solche Gedanken waren der weissen Bevölkerung zumindest über lange Zeiten eher fremd, wurde die Natur doch als Objekt gesehen, dass man nutzen kann zum eigenen Vorteil, wie es bereits in der Bibel beschrieben wird mit «Macht euch die Erde untertan» (Gen 1,28). Doch bedeutsam wurde diese Haltung v. a. seit dem Zeitalter der Aufklärung (von Franz 2019, S. 83). Die seither gewonnenen Wissenszuwächse führten zu einem rasanten technischen Fortschritt, allerdings haben wir uns dabei in den letzten Jahrzehnten zunehmend von den Instinkten und der Natur entfremdet. Das zeigt sich u. a. darin, dass wir heutzutage immer häufiger Expert*innen fragen, Ratgeber lesen, sei es zu Ernährung, Kindererziehung, Gesundheit, Technik usw. Wir können dabei tatsächlich einiges lernen und besser machen, wir scheinen aber den Kontakt zu verlieren zu dem in uns vorhandenen archetypischen Wissen. Wir sind häufig überfordert, wohl auch deshalb, weil wir durch die vielen Errungenschaften Entscheidungen fällen können und müssen, die früher das Schicksal getroffen hat. Die neu gewonnene, wertvolle Freiheit impliziert Verantwortung, die nicht immer leicht zu tragen ist.

Auf der Suche nach Lösungen braucht es die Seele

Kann die Jung’sche Psychologie etwas beitragen angesichts der aktuellen Krisen? Der erste, durchaus bittere Schritt wäre, anzuerkennen, dass wir uns verrannt haben und nicht weiterwissen. Eine solche Orientierungs- und Hilflosigkeit zuzulassen, uns zu besinnen, anstatt sofort innerhalb der bisherigen Überzeugungen oder Denkmuster «kluge Pläne» auszuhecken, wäre laut Jung (GW10, § 314) notwendig. Denn wenn etwas an die Wand gefahren wird, kommt man in der Regel mit dem Althergebrachten nicht weiter. Es braucht das Andere, das Fremdartige, das gemäss dem Philosophen Kai Marchal (2019, S. 274) einer Kultur die Kraft gibt, um auch in Zukunft schwierigen Herausforderungen geistvoll und konstruktiv zu begegnen. Was wirklich die Kraft zur Erneuerung bereitstellt, kann nicht lediglich «alter Wein in neuen Schläuchen sein». Und es «scheint ein Naturgesetz zu sein, dass die neuen, rettenden Impulse aus einer Ecke kommen, wo niemand sie vermutet» (von Franz 2019, S. 45). Was das konkret heissen kann, hat der Regisseur Volker Schlöndorff in seinem Dokumentarfilm Der Waldmacher (2003) gezeigt:9 Der australische Agrarwissenschaftler Tony Rinaudo versuchte in Afrika jahrelang mit der Anpflanzung von Bäumen eine Wiederaufforstungsbewegung in Gang zu setzen. Doch er scheiterte, denn fast alle Bäume vertrockneten. Obwohl es plausibel erscheint, was viele Organisationen bis heute praktizieren, nämlich Bäume anpflanzen, funktionierte das in den trockenen Gegenden Afrikas nicht. Rinaudo war verzweifelt, als er zufällig mit einer Reifenpanne am Rande einiger ziemlich vertrockneter Bäume liegenblieb. Es kam unerwartet zu einem Aha-Erlebnis, als er beim genauen Hinsehen plötzlich das im Boden versteckte gesunde Wurzelwerk dieser vertrockneten Bäume wahrnahm. Wenn man dieses beschneidet und pflegt, davon war Rinaudo überzeugt, kann daraus wieder ein richtiger Wald werden. Doch für diese Idee wurde er zunächst belächelt und nicht ernst genommen. Es war deshalb sehr mühsam, freiwillige Helfer*innen für sein Projekt zu gewinnen. «Sie galten als Witzfiguren», erinnert Rinaudo. Aus archetypischer Sicht ist das nicht verwunderlich, denn historisch betrachtet scheint «der Keim des Neuen sehr häufig klein und lächerlich» (Jung GW10, § 301). Wohl deshalb, weil das wirklich Neue bisherige Vorstellungsräume überschreitet und auf der Basis des vorhandenen Wissens wenig plausibel scheint. So dauerte es einige Zeit bis Rinaudo erste Erfolge vorweisen konnte. Als die Menschen dann aber sahen, wie die Bäume wachsen, dass sie Schatten werfen, mit ihren Blättern den Boden düngen, ihr Wurzelwerk die Feuchtigkeit im Boden hält und dadurch die Ernteerträge deutlich steigen, machten immer mehr bei dieser regenerativen Wiederaufforstung mit. Zudem begannen die Menschen ihr Wissen mit anderen zu teilen und motivierten andere zum Mitmachen. Rinaudo und sein Team konnten mit dieser Methode über 200 Millionen neue Bäume in der Sahelzone heranziehen und andere Teams zogen weitere 600 Millionen mit seiner Technik heran. 2019 waren 20 Millionen Hektar wieder aufgeforstet.

Rinaudos Projekt streift das Thema Tod, denn vertrocknetes Baumleben wurde quasi wiederbelebt. Allerdings brauchte es dazu eine Änderung der inneren Einstellung und Offenheit für ganz neue Wege: Rinaudo beschreibt, wie er früher nur an sein Budget dachte und die richtigen Baumarten für die Wiederaufforstung finden wollte. Damals war er überzeugt, auf diese Weise der Wüste Terrain abtrotzen zu können. Es war eine Haltung des Kampfes gegen die Natur. Mit dem neuen Projekt arbeitet er jetzt mit der Natur, hütet und pflegt das Vorgegebene. Und seither denkt er bezogen, weil er sich fragt, wie er die Köpfe und Herzen der Menschen gewinnen kann. Indem er sie emotional erreicht, sind sie bereit, etwas zu verändern und sich zu verändern. Genau das bräuchte es angesichts der Klimaveränderung, Umweltverschmutzung, Migration oder Kriege, aber gemäss dem Journalisten Jens Jessen (2022) «wissen die Alten, was sie in den letzten Jahrzehnten angerichtet haben, ändern aber ihr Verhalten nicht». Instinktiv wusste Greta Thunberg, dass es Emotionen braucht für eine Transformation, als sie 2020 auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum rief: «Wir sagen euch immer noch, dass ihr in Panik geraten und so handeln sollt, als ob ihr eure Kinder über alles liebt.» Doch das scheint bisher nicht zu gelingen. Die deutsche Regierung und somit die «Alten» wurden deshalb 2021 vom deutschen Bundesverfassungsgericht im sog. Klimaurteil gerügt.10 Es kritisierte die unverhältnismässig hohe Belastung künftiger Generationen, weil die aktuellen Massnahmen zur Treibhausgasreduktion nicht ausreichend seien. Der Schutz der Lebensgrundlagen der Kinder werde zu wenig berücksichtigt.

Ein solcher Generationenkonflikt zu Lasten der Jugend wird bereits in der griechischen Mythologie beschreiben: Die Herrscher Uranos und Kronos fressen zum Zweck ihres Machterhalts jeweils ihre Kinder. Ohne die List der Mutter Erde wären die Kinder, zuletzt Zeus, nicht befreit und die Väter entmachtet worden. Auch in der Coronapandemie wurden in einigen Ländern die Bedürfnisse der Kinder viel zu wenig berücksichtigt, weil die vulnerablen alten Menschen und ihr Schutz wichtiger waren. Vielleicht können wir vor dem Hintergrund dieser archetypischen Phänomene die Aktionen der sog. «Letzten Generation», einem Bündnis von Klimaaktivist*innen, zumindest teilweise verstehen. Indem sie sich auf den Strassen festkleben und den Verkehrsfluss stören, provozieren sie Affekte, genau das, was Thunberg als Voraussetzung einer Verhaltensänderung proklamierte. Grosse mediale Aufmerksamkeit haben die Aktivist*innen auch mit ihren Attacken auf berühmte Kunstwerke in Musen gewonnen, die sie nicht ernsthaft beschädigten. Immens teure kulturelle Werte wurden zur Zielscheibe ihres Protests, vielleicht nach dem Motto: Sie kosten sehr viel, sind euch kostbar, weshalb ihr sie aufwändig schützt. Für Klimamassnahmen ist dagegen wenig Geld da, was eine Karikatur in einer süddeutschen Lokalzeitung aufgreift, indem sie die Erde sagen lässt: «Wäre ich eine Bank, wäre ich schon längst gerettet.» Unvorstellbar hohe Summen wurden für sog. systemrelevante Banken mobilisiert, was für das Klima bisher nicht möglich war. Ist das Klima also nicht systemrelevant?

Für die junge Generation schon, sie sieht ihre Zukunft existenziell bedroht. In einer derart lebensgefährdenden Situation, etwa weil die Ernte sehr schlecht war, haben die Fidschi-Insulaner*innen ihren Schöpfungsmythos feierlich wiedererzählt (von Franz 1972, S. 23), der beschreibt, wie Leben neu entsteht, nachdem der Kosmos in einem Äon erschaffen und an dessen Ende wieder zerstört wird. Durch das Nacherzählen haben sich die Menschen mit ihren Ahnen und deren Glauben verbunden. Man ging von einem steten Rhythmus aufeinanderfolgender Schöpfung und Zerstörung aus, ähnlich dem biblischen Traum des Pharaos mit dem Bild von sieben fruchtbaren und darauffolgenden sieben Hungerjahren. Für ein solches zyklisches Geschehen hat Heraklit um 500 v. Chr. den Begriff der Enantiodromie geprägt als das beständige Gegeneinanderwirken der Kräfte, bei dem alles einmal in sein Gegenteil hineinläuft. Die Postmoderne hat dieses archetypische Prinzip kaum noch im Blick, sondern glaubte bisher eher an lineare Prozesse – an die schon erwähnte Steigerungslogik.

Zahlreichen Schöpfungsmythen kann man entnehmen, dass es in einer existenziellen Krise nicht um eine Reparatur geht, um ein «Weiter so», sondern dass man zurückgehen muss, quasi zur Quelle des Lebens, zur Seele, noch vor die Spaltung in die Gegensätze. Es geht darum, über das hinauszugehen, was wir durch unser Ich bisher wissen, aber auch darum, das Gemeinschaftsgefühl und kooperative Kräfte zu stärken. Dem Religionspädagogen Ingo Reuter (2020) ist aufgefallen, dass seit den 1950ern Geschichten vom Weltuntergang boomen. Die Thematik von Tod und Zerstörung liegt somit schon seit einigen Jahrzehnten «in der Luft». Interessanterweise sind die meisten dieser modernen Weltuntergangserzählungen nicht fatalistisch, sondern versprechen eine anschliessende Rettung mit Neubeginn. Ähnlich den Schöpfungsmythen bezeugen sie zyklische Prozesse der Zerstörung und eines Neuanfangs, der aber nie ohne schmerzhafte Einschnitte und Verluste möglich wird. Reuter nutzt die biblische Geschichte von Jona (2 Kön 14), um auf etwas Wesentliches hinzuweisen. Der Untergang der Stadt Ninive wird verhindert, nachdem Jona ihn als gewiss angekündigt hatte. Aufgrund der Vorhersage halten die Menschen inne und ändern ihre Einstellung radikal. Dadurch haben sie überraschenderweise überlebt. Jona hielt als keine Beruhigungsrede, sondern konfrontierte die Bürger*innen mit der brutalen Bedrohung. Es scheint, dass er die Menschen emotional tief berührt hat, eine Resonanz erzielen konnte, die ihr Verhalten grundlegend veränderte. So weit sind wir angesichts unserer Krisen noch nicht.

Wenn wir es schaffen, die Wissenschaft ernst zu nehmen, den Zuwachs an Wissen und Kompetenz klug zu nutzen, und gleichzeitig bezogen sind auf unbekannte seelische Phänomene jenseits des Bewusstseins, wenn wir uns also auf Logos und Mythos einlassen, könnte sich vielleicht etwas Hilfreiches konstellieren. Dazu braucht es aber jeden einzelnen Menschen, wenn man Jungs (GW10, § 536) Aussage zustimmen mag: «Die Rettung der Welt besteht in der Rettung der eigenen Seele.»

Literatur

Aristoteles (2011). Über die Seele/De Anima. Reclam.

Gabriel, M. (2013). Warum es die Welt nicht gibt. Ullstein.

Gerhardt, V. (2018). Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang. Reclam.

Guggenbühl-Craig, A. (1993). Die närrischen Alten. Schweizer Spiegel.

Haberer, J. (2021). Die Seele. Versuch einer Reanimation. Claudius.

Han, B.-C. (2018). Müdigkeitsgesellschaft. Burnoutgesellschaft. Hoch-Zeit. Mathes & Seitz.

Hell, D. (2003). Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaft vom Leben. Huber.

Jaffé, A. (1983). Der Mythus vom Sinn im Werk von C. G. Jung. Daimon.

Jessen, J. (2022). Warum so ernst? Die Zeit, 35.

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A plea for the soul

A contribution from Jungian depth psychology to current individual and collective challenges

Abstract: In this article, the question of how the concept of the soul can be grasped in postmodernity is explored. In doing so, proposed definitions of analytical psychology will be presented and placed in the contemporary historical context of postmodernism. Since the concept of soul is no longer en vogue in today’s world, a disenchantment of the world is increasingly taking place, which is paid with a great inner-psychic price, which can also be seen in the social reaction to the Corona pandemic, the climate crisis and wars. Proposed solutions are shown as to how, with the help of the use of concepts of analytical psychology, these crises can be faced, and at the same time the soul can be given a place again in postmodern society.

Keywords: soul, postmodernism, climate, crisis, solution

Appello all’anima

Un contributo della psicologia junghiana del profondo alle attuali sfide individuali e collettive

Riassunto: Il presente articolo esplora la questione di come il concetto di anima possa essere concepito nel postmodernismo. Le definizioni proposte dalla psicologia analitica vengono presentate e collocate nel contesto storico del postmodernismo. Poiché il concetto di anima non è più in voga al giorno d’oggi, si assiste a una crescente demistificazione del mondo, che viene pagata con un grande prezzo psicologico interiore, evidente anche nella reazione della società alla pandemia, alla crisi climatica e alle guerre. Vengono proposte soluzioni per contrastare queste crisi utilizzando concetti della psicologia analitica e al contempo concedendo nuovamente all’anima un posto nella società postmoderna.

Parole chiave: anima, postmodernismo, clima, crisi, soluzioni

Biografische Notiz

Dr. med. Renate Daniel ist Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse und Jung’sche Analytikerin. Sie ist Mitglied des Curatoriums und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Zürich und seit mehreren Jahrzehnten als Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig.

Kontakt

Dr. med. Renate Daniel
C.G. Jung-Ambulatorium Zürich
Arosastrasse 4 8008 Zürich
renate.daniel@cgjung-ambulatorium.ch

1 An dieser Stelle werden weder philosophische, religiöse, kulturhistorische noch ethnologische Aussagen zur Seele in der Breite diskutiert, sondern ich habe mich subjektiv auf den Aspekt konzentriert, der in mir eine starke Resonanz ausgelöst hat.

3 Mythologisch betrachtet, ist hier der griechische Gott Hermes am Werk: Er war überall unterwegs, auf der Erde, unter der Erde, auf dem Olymp, er hat wohl alles gesehen und erlebt, Schönstes und Schrecklichstes.

4 An dieser Stelle kann ich nicht auf den buddhistischen Begriff der Leerheit eingehen, der mir im besprochenen Kontext wesentlich erscheint.

5 Der ursprünglich aus der Architektur stammende Begriff Postmoderne ist unscharf, gemeint ist hier etwa die Zeit ab 1990.