Humanistische Psychotherapie in Deutschland

Report einer Blockade

Jürgen Kriz

Psychotherapie-Wissenschaft 13 (2) 2023 73–81

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-2-73

Zusammenfassung: Vor fünf Jahren hat der deutsche «Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie» (WBP) in einem Gutachten nicht nur die Humanistische Psychotherapie als «wissenschaftlich anerkanntes Verfahren» abgelehnt, sondern sogar der 2002 vom WBP bereits anerkannten Gesprächspsychotherapie die «Empfehlung zur vertieften Ausbildung» entzogen. Nach anfänglichen Protesten vieler Wissenschaftler:innen und Institutionen gegen diese Bewertung ist ein Stillstand zu verzeichnen, zumal sich der WBP Diskursen über diese Kritik und die beanstandeten Bewertungen entzieht. Dieser Beitrag nimmt das 5-Jahres-Datum zum Anlass, einen Report der Kontexte und Umstände dieser Blockierung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland zu erstellen. Denn dieses deutsche administrative Regelwerk ist vielen nicht vertraut. Der Report fokussiert dabei auf Veröffentlichungen nach 2018. Zunehmend wird deutlich, dass die deutsche Ideologie von gegeneinander abgeschotteten Psychotherapieverfahren, deren «Wissenschaftlichkeit» ausschliesslich durch experimentelle RCT-Studien in Bezug auf spezifische Wirkfaktoren nachgewiesen werden muss, Befunden der internationalen Psychotherapieforschung nicht standhält. Immer mehr spricht für die vor allem von Wampold seit 2001 vorgetragene Sicht, dass kontextuelle Faktoren wesentlich zum Therapieerfolgt beitragen – also Aspekte, die in der Humanistischen Psychotherapie eine zentrale Rolle spielen. Der Beitrag schliesst mit der Hoffnung, dass der WBP den Diskurs aufnimmt und zu einer veränderten Bewertung der Humanistischen Psychotherapie kommt.

Schlüsselwörter: Humanistische Psychotherapie, Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, WBP-Gutachten, Psychotherapieforschung, Kontextuelles Modell, Evaluation, Beweisbarkeit, Wissenschaftlichkeit, RCT-Design

Vorbemerkungen

2023 hat die Humanistische Psychotherapie in Deutschland etliche «Jubiläen» zu verzeichnen (wobei die Anführungsstriche darauf verweisen, dass nur wenige dieser Ereignisse Grund zum Jubilieren geben). Sie können als Markierungen auf dem Wege von grosser Solidarität im Interesse der Patient:innen und der Psychotherapie insgesamt hin zu einer ruinösen Verdrängung der Humanistischen Psychotherapie zur Wahrung berufspolitischer Pfründe gesehen werden. Dabei steht zunächst die «Gesprächspsychotherapie» im Zentrum, die von den Ansätzen der Humanistischen Psychotherapie bis zum Psychotherapeutengesetz 1999 besonders stark an den Universitäten vertreten war. Frohburg (2007, S. 77) berichtet, dass 1995 an drei Viertel der deutschen psychologischen Institute Lehr- und Ausbildungsprogramme und an zwei Drittel Forschungsprogramme in Gesprächspsychotherapie durchgeführt wurden. Im letzten Jahrzehnt wurde dann die ganze Humanistische Psychotherapie in Deutschland bekämpft, die sich formell zur «Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie» (AGHPT) zusammengeschlossenen hatte. Trotzdem lassen sich in jüngster Zeit auch positive Zeichen dafür finden, dass sich zumindest grössere Teile der Psychotherapeut:innenschaft wieder ihrer Gesamtverantwortung für die Patient:innen und die Psychotherapie bewusst werden. Denn international ist die Humanistische Psychotherapie nicht nur wissenschaftlich anerkannt, sondern wird – wie auch in Deutschland bis 1999 – von Patient:innen stark nachgefragt.

Markante Daten für die Humanistische Psychotherapie in Deutschland

Vor 45 Jahren, 1978, wurden im «Entwurf eines Psychotherapeutengesetzes» (der auf der Psychiatrie-Enquete von 1975 basierte) in § 5 Abs. 2 «die Gesprächspsychotherapie, die Verhaltenstherapie, die Individual-psychologische Psychotherapie und die Psychoanalytische Psychotherapie» als die «anerkannten psychotherapeutischen Richtungen» genannt.

Vor 25 Jahren, am 14.09.1998, beschlossen die deutschen Länderbehörden, dass für das (1999 verabschiedete) Psychotherapeutengesetz die bisherigen Richtlinienverfahren und die Gesprächspsychotherapie bundeseinheitlich als «wissenschaftlich anerkannt» gelten. Darüber setzte sich der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hinweg und beschloss stattdessen – «wegen des Zeitdrucks vorläufig» –, nur die bisherigen sog. «Richtlinienverfahren» Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und Tiefenpsychologie in seine neuen Richtlinien zu übernehmen. Kaum auszudenken, wie die Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland verlaufen wäre, wenn der Bundesausschuss hier nicht in letzter Minute blockiert hätte.

Ebenfalls vor 25 Jahren heisst es in einer «Erklärung Deutscher Universitätsprofessorinnen und -professoren im Bereich Psychotherapie/Klinische Psychologie/medizinische Psychologie»:

«Der ‹Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen› hat es Ende 1997 abgelehnt, die Gesprächspsychotherapie als Verfahren gemäß den Psychotherapierichtlinien anzuerkennen. Wir nehmen diese Entscheidung als Anlass für folgende Feststellung:

Die Gesprächspsychotherapie gehört sowohl international als auch in Deutschland seit Jahrzehnten zu den praktizierten und bewährten Verfahren. Tausende von Patienten wurden mit Gesprächspsychotherapie erfolgreich ambulant bzw. stationär behandelt. In zahlreichen Lehrbüchern der Psychotherapie/Klinischen Psychologie wird dieses Verfahren als wissenschaftlich ausgewiesen und als effektiv dokumentiert. An vielen deutschen Universitäten gehört die Gesprächspsychotherapie sowohl zur Forschung als auch zur Lehre und somit zum Prüfungsstoff u. a. im Hauptdiplom in Psychologie.

Wir halten es für nicht akzeptabel, wenn ein Ausschuß der Ärzte und Krankenkassen sich durch Auslegung von Richtlinien über geltende Lehrmeinungen der Scientific Community hinwegsetzt.»

Diese Erklärung wurde von 80 Universitätsprofessor:innen – das waren fast alle – unterzeichnet.

Vor 20 Jahren (2002/03) forderten sämtliche zwölf Landespsychotherapeutenkammern jeweils in Resolutionen die «unverzügliche sozialrechtliche Anerkennung der GPT». Doch vor 15 Jahren, am 24.04. 2008, fällte der «Gemeinsame Bundesausschuss» (G-BA) – ein für die sozialrechtliche Zulassung von medizinisch/therapeutischen Krankenkassenleistungen zuständiges Selbstverwaltungsgremium aus Kassenärzten und Krankenkassen – den Beschluss, die Gesprächspsychotherapie nicht als «Richtlinienverfahren» zuzulassen. In einer Reanalyse kam die von der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) berufene Expertengruppe – Strauß (Uni Jena), Hautzinger (Uni Tübingen), Freyberger (Uni Greifswald), Eckert (Uni Hamburg) und Richter (Uniklinikum Hamburg) – zu dem Schluss, es

«stellt sich heraus, dass der G-BA seine Beurteilung nicht auf der Grundlage des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgenommen hat und so zu einem Ergebnis kommt, das weder von der Wissenschaft noch vom Berufsstand geteilt wird. Es erhebt sich der Verdacht, dass ein Interessenkonflikt vorliegt» (Strauß et al. 2010, S. 160).

Und insgesamt resümierte die Expertengruppe «Somit erfüllt die Gesprächspsychotherapie alle Voraussetzungen gemäß Psychotherapie-Richtlinien, um als neues Psychotherapieverfahren zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen zu werden» (ebd.).

Doch das Gesundheitsministerium schritt nicht ein und die Bundesgerichte zogen sich hinter die Feststellung zurück, dass das Entscheidungsprozedere des G-BA formaljuristisch nicht zu beanstanden sei.

Vor fünf Jahren, veröffentlicht der «Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie» (WBP) sein Gutachten über die «wissenschaftliche Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie» (WBP, 2018). Er sprach darin nicht nur der Humanistischen Psychotherapie die Kategorisierung als «Verfahren» ab. Sondern er revidierte die Empfehlung zur Zulassung zur Approbationsausbildung in Gesprächspsychotherapie, die er bereits 2002 mit der von ihm festgestellten «wissenschaftlichen Anerkennung» ausgesprochen hatte (zu diesen deutschen Regeln für die Zulassung und den berufspolitischen Auswirkungen siehe nachfolgend).

Zwischen diesen hervorgehobenen Wegmarkierungen liegen viele weitere Schritte, die den Zuschnitt der deutschen Psychotherapie kennzeichnen und die an zahlreichen anderen Stellen kontrovers diskutiert wurden (Zusammenfassungen u. a. in Kriz 2018; Kriz & Hentze, 2010). Im Folgenden soll es um die letzten fünf Jahre gehen, nämlich um die Diskursverweigerung seitens des WBP über die Grundlagen und Folgen seines Gutachtens zur Humanistischen Psychotherapie von 2018. Dieses war nach seiner Veröffentlichung ausgiebig und sehr kontrovers diskutiert worden (allein im Psychotherapeutenjournal 3/2018, S. 251–265; 4/2018, S. 353–367; 2/2019 S. 171–173). Die Argumente können und sollen hier ebenso wenig referiert werden wie der Antrag der AGHPT selbst oder die vielen Dokumente im Zusammenhang mit dem Gutachten. Sie sind auf den Seiten der AGHPT zu finden (AGHPT, 2023). Da aber viele Menschen – selbst in Deutschland, noch mehr im Ausland – die Entwicklungen der deutschen Psychotherapienormen nicht einordnen können und sich über die zunehmende Isolierung der deutschen Psychotherapie von den internationalen Diskursen wundern, soll der Kontext zumindest kurz etwas erhellt werden.

Zum Kontext der Bewertung der Humanistischen Psychotherapie

Ein Gutachten, für das die AGHPT beim WBP 2012 den Antrag gestellt hat, ist in Deutschland seit dem Psychotherapeutengesetz von 1999 faktisch notwendig: Nur dann erhält ein Ausbildungsinstitut für Psychotherapie von den zuständigen Länderbehörden die Genehmigung zur Approbationsausbildung in diesem Verfahren.

Das Denken in Psychotherapieverfahren – und vor allem deren strikte administrative Umsetzung – ist eine deutsche Besonderheit. Überall sonst auf der Welt, wo es professionelle Psychotherapie gibt, ist die Psychotherapie durch eine Vielzahl von Ansätzen (früher oft auch «Schulen» genannt) bestimmt, die sich grob vier Grundorientierungen zuordnen lassen: dem psychodynamischen, dem verhaltenstherapeutischen, dem humanistischen und dem systemischen Cluster. Schon früher passten keineswegs alle Ansätze eindeutig in nur eines dieser Cluster – wie z. B. die «Körperpsychotherapie», die sowohl humanistische wie auch psychodynamische Konzepte und Vorgehensweisen umfasst (die mehr oder minder auch von verhaltenstherapeutischen und systemischen Ansätzen aufgegriffen werden). In jüngerer Zeit setzen viele psychotherapeutische Ansätze Vorgehensweisen und Konzepte aus unterschiedlichen Clustern um – wie bspw. die sog. «Dritte Welle der Verhaltenstherapie» oder die intersubjektive und die relationale Psychoanalyse. Noch mehr gilt dies für die konkrete Arbeit der Psychotherapeut:innen, die oft dem Prinzip «learning from many masters» folgen, selbst wenn sie die integrierenden Konzepte dafür zumindest nicht explizit benennen können. International ist diese nicht mehr klare Zurechenbarkeit therapeutischen Vorgehens zu einem der vier Grundorientierungen kein Problem: Die Anerkennung von Psychotherapeut:innen und deren Ausbildungsinstitutionen richtet sich nach der Qualität der Ausbildung, die von staatlichen Stellen überprüft wird. Ob diese genau in eines der vier Cluster fällt, ist da bestenfalls eine akademische Diskussionsfrage: nicht uninteressant, aber praktisch recht irrelevant. Denn die grosse Komplexität der damit verbundenen Aspekte würde bei seriöserer Erörterung ohnedies – je nach genauer Fragestellung – zu unterschiedlichen Antworten führen.

Ganz anders sind die Verhältnisse in Deutschland: Mit dem Psychotherapeutengesetz von 1999 wurden drei sog. «Richtlinienverfahren» (ohne jede Prüfung) übernommen: Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (auch eine exklusiv deutsche Sonderkonstruktion) und Verhaltenstherapie. Da das Gesetz – in guter Absicht – die Ausübung von Psychotherapie und die Approbation «wissenschaftlich anerkannten Verfahren» vorbehielt, wurde ein WBP eingerichtet, der «in Zweifelsfällen» die Länderbehörden gutachterlich hinsichtlich dieser «wissenschaftlichen Anerkennung» beraten sollte. Innerhalb weniger Jahre ist der WBP dann allerdings von einem Gutachtergremium, das in «Zweifelsfällen» beraten soll, zu einer Art Wissenschaftsgericht mutiert: Nicht die Frage, was in der Scientific Community als anerkannt gilt, ist mehr relevant, sondern er entwickelte eigene Regeln dafür, was er für ein «wissenschaftlich anerkanntes» Verfahren als Kriterien ansieht. Dieser «Usurpierung der …» wurde von etlichen Verwaltungsrechtlern kritisiert. So schrieb Wolfgang Spellbrink (2001, S. 114f.), Richter am Bundessozialgericht Kassel:

«Diesen gesetzlichen Vorgaben kommt der wissenschaftliche Beirat offensichtlich (und bewusst) nicht nach. […] Eine so definierte (und letztlich usurpierte) Aufgabenstellung hat der wissenschaftlich Beirat nach § 11 PsychThG aber gerade nicht. […] Die vom wissenschaftlichen Beirat selbst geschöpften Kriterien sind im Rahmen dieser letztlich ordnungsrechtlichen Fragestellung ungeeignet und damit verfassungsrechtlich auch unzulässig.»

Letztlich vermochte dem aber niemand Einhalt zu gebieten.

Durch diese Fokussierung auf «Verfahren», deren «wissenschaftliche Anerkennung» ein «WBP» nach seinen Regeln vornimmt (und der zudem fast ausschliesslich mit Vertretern besetzt ist, die zu den zu beurteilenden Ansätzen in Konkurrenz stehen), wurde eine in der Welt einmalige administrative Struktur der deutschen Psychotherapie etabliert. Dazu gehört auch eine Doppelhürde, die alle Ansätze – ausser die beiden Richtlinienverfahren, die 1999 im Gesetzgebungsverfahren ohne jede weitere Prüfung übernommenen wurden – nehmen müssen: Denn zu der berufsrechtlichen Anerkennung für die Approbationsausbildung, für die der WBP entscheidend ist, kommt noch die sozialrechtliche für die Kassenzulassung, für die der G-BA zuständig ist. Diese Hürden wurden inzwischen so hochgeschraubt, dass sie kein einziges Verfahren nach dem Psychotherapeutengesetz von 1999 überspringen konnte: Die Systemische Therapie wurde zwar nach rund 15 Jahren der Prüfung 2020 zugelassen – aber nur für Erwachsene. Für Kinder und Jugendliche, für die dieser Ansatz besonders wichtig wäre und wo die Anzahl hochwertiger Wirksamkeitsstudien besonders umfangreich ist, wird vom G-BA weiter geprüft.

Die eigentlich rein akademische Frage, welchem «Verfahren» ein psychotherapeutischer Ansatz zuzuordnen ist, entscheidet somit in Deutschland darüber, ob dieser Ansatz national weitgehend eliminiert wird oder aber an dem sehr lukrativen Therapie- und Ausbildungsmarkt partizipieren kann. So wurde kürzlich berechnet (Kriz, 2023), dass die 9.391 abgeschlossen Approbationsausbildungen allein zwischen 2018–2020 bei nur jeweils 20.000 € Ausbildungskosten insgesamt einen Betrag von 188 Mio. € erbringen. Davon entfallen auf verhaltenstherapeutisch und psychodynamisch ausgerichtete Ausbildungsinstitute rund 187 Mio. €. Auf die Systemische Therapie, die erst 2019 ins deutsche Kassensystem kam, entfallen nur rund 1 Mio. € – die Humanistische Psychotherapie bzw. die Gesprächspsychotherapie gehen leer aus.

Hätte man in Deutschland eine Verteilung der Psychotherapeut:innen in Praxis bzw. in Ausbildung wie in Österreich, wo rund 45,7 % auf die Ansätze der Humanistischen Psychotherapie entfallen, wird deutlich, welch erhebliche Einbussen die etablierten Ausbildungsinstitute der VT und Psychodynamik zu verzeichnen hätten (bei gedeckeltem Markt), wenn WBP und G-BA zu einer positiven Entscheidung über die Humanistische Psychotherapie kämen. Dabei geht es hier nur um die Kosten der Approbationsausbildungen – die jeweiligen Summen für Psychotherapien sind ein Vielfaches davon, noch weit mehr die Ressourcen durch die Stellen für Forschung und Lehre an den Hochschulen. Noch bedeutsamer sind allerdings die damit verbundenen Machtpositionen im Gesundheitsbereich und dessen wissenschaftlichen Institutionen.

Es sei nur am Rande vermerkt, dass auch in der Schweiz u. a. Personzentrierte Psychotherapie, Gestalttherapie, Existenzanalyse, Körperpsychotherapie und weitere humanistische Ansätze staatlich anerkannt sind. Hätte man dort die Bewertung und Zulassung der Humanistischen Psychotherapie ebenfalls nahezu ausschliesslich in die Hände der Konkurrenz gelegt, sähe die Situation vermutlich ähnlich wie in Deutschland aus.

Was ist seit dem WBP-Gutachten von 2018 geschehen?

Wie gesagt wurde das WBP-Gutachten heftig kritisiert. So bemängelten 40 Professor:innen in einem offenen Brief, dass «das WBP-Gutachten durch tendenziöses und mangelhaftes Vorgehen zentrale Regeln wissenschaftlichen Arbeitens missachtet und verletzt.» Die Mängelliste, die die Kritiker an vielen Bewertungen von Studien durch den WBP vorlegten, ist lang. Eine angemessene Auseinandersetzung mit den Einwänden erfolgte – zumindest aus Sicht der AGHPT – nicht. Ohne eine solche Diskussion ist aber schwer nachzuvollziehen, warum bspw. eine Studie verworfen wurde, die z. B. der Habilitation an einer deutschen medizinischen Fakultät zugrunde lag, oder eine andere, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, in der renommierten Zeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics veröffentlicht und von den Juroren der Society of Psychotherapy Research mit dem internationalen Forschungspreis der SPR ausgezeichnet worden war. Während gleichzeitig aus Sicht des WBP eine Studie, in der die Überlegenheit der VT «nachgewiesen» wurde, als «methodisch adäquat» eingestuft wurde, obwohl die VT-Dosis in 12 Wochen 18 Stunden und die Dosis der «Supportive Therapie» im gleichen Zeitraum nur 3 Stunden (also ein Sechstel davon) betrug (Cottraux et al., 2000). Hier wurden elementare Qualitätsstandards der Forschung zugunsten der VT schlicht über Bord geworfen, während Studien zugunsten der Humanistischen Psychotherapie akribisch zerlegt und nach möglichen Schwächen abgesucht wurden.

Ungeklärt und damit offen blieben auch noch grundlegendere Fragen – etwa, ob es sachliche bzw. wissenschaftliche Gründe gibt, weshalb der WBP gegen explizit formulierte Regeln in seinem eignen «Methodenpapier» zum Prüfungsprozedere verstossen hat (nur so konnte die Gesprächspsychotherapie aus dem Antrag herausgelöst und einer erneuten Bewertung unterzogen werden). Oder warum fast alle Studien, die der WBP bei seiner positiven Bewertung der Gesprächspsychotherapie 2002 zugrundgelegt hatte, nun abgelehnt wurden – sodass letztlich, wegen vieler neuer Studien nach 2002, die negative Bewertung der Gesprächspsychotherapie mit dem Fehler einer einzigen (!) Studie begründet wurde.

Bei dieser exemplarischen Benennung von Mängeln des WBP-Gutachtens soll es hier verbleiben – wieder muss auf die Dokumentation auf den Seiten der AGHPT verwiesen werden (AGHPT, 2023), sowie für zentrale Punkte auf Eckert (2013, 2019a, b) oder Kriz (2018a, b). Es liegt aber auf der Hand, dass ein solches Urteil faktisch die Eliminierung dieses Ansatzes bedeutet. Dies lässt sich exemplarisch an drei Belegen festmachen: 1. Wurde nur wenige Tage nach dem Gutachten eine Patientenbroschüre der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) neu aufgelegt. Im Gegensatz zur Broschüre vorher war nun jeglicher Hinweis auf die Gesprächspsychotherapie entfernt worden. 2. Einem kurz vor Abschluss stehenden Rechtsverfahren der Gesprächspsychotherapeut:innen gegen den G-BA wurde – so der Vorsitzende Richter am Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – mit dem neuen Gutachten des WBP «der Boden unter den Füßen weggezogen». Die seit Langem anhängige Klage musste daraufhin wegen Aussichtslosigkeit zurückgezogen werden. 3. In den 2018 beginnenden Verhandlungen der Umsetzung des neuen Psychotherapeutengesetzes (von 2020) wurde nun aufgrund des WBP-Gutachtens die Gesprächspsychotherapie nicht mehr unter den «wissenschaftlich anerkannten Verfahren» aufgeführt.

Das WBP-Gutachten hatte und hat somit vor allem gravierende berufspolitische Auswirkungen. Allerdings beteuert der WBP, dass allein wissenschaftliche und keine berufspolitischen Gründe die umstrittenen Entscheidungen beeinflusst hätten. Dies steht aber in starkem Kontrast zu den zuvor berichteten Fakten, dass 1998 fast alle Universitätsprofessor:innen des Faches, 2002/03 alle 15 Länderkammern und 2010 nochmals eine von der BPtK berufene Expertenkommission die sofortige Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als deutsches Richtlinienverfahren gefordert hatten.

Bemerkenswert ist, dass von Jochen Schweitzer, der all die Jahre während der Prüfung Mitglied im WBP war – allerdings nur als Vertreter ohne Stimmrecht – «[e]Ein anderer Blick auf die Entscheidung zur Humanistischen Psychotherapie des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie» veröffentlicht wurde (Schweitzer, 2018). Er zeigt darin – als Insider – einige Weichenstellungen bei der Ablehnung des WBP auf. Bereits in der Mitte des Beitrags schreibt er: «Andere Entscheidungen nur an diesen drei Stellen […] hätten auf Basis des derzeitigen Methodenpapiers zu einer Anerkennung des Verfahrens einschließlich der Studienlage führen können, also zu einem ganz anderen Ausgang.» Es ist nicht zu erkennen, dass Schweitzers Resümee am Ende in Form von Vorschlägen zum Prozedere und zur Zusammensetzung des WBP umgesetzt oder auch nur (öffentlich) diskutiert wurden.

Dabei gibt es klare Belege dafür, dass der WBP die Humanistische Psychotherapie letztlich aufgrund von Kriterien scheitern liess, die die im WBP ganz überwiegend vertretenen Ansätze (Psychodynamische Psychotherapie und Verhaltenstherapie) selbst nicht erfüllen: Am 19.12. 2019 verkündete der G-BA in einer Pressemitteilung, er habe «das im Jahr 2008 aufgrund einer Selbstverpflichtung aufgenommene Beratungsverfahren zu den anerkannten Psychotherapieverfahren der Psychotherapie-Richtlinie eingestellt». Damit ist nach elfjähriger Prüfung die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit in der deutschen Psychotherapie Bewertung zerplatzt. Immerhin führt die Pressemitteilung aus, wieso es überhaupt zu diesem Verfahren des G-BA kam:

«Im November 2006 hatte der G-BA festgestellt, dass Wirksamkeit und Nutzen der Gesprächspsychotherapie für die Behandlung der wichtigsten psychischen Erkrankungen nicht in der ausreichenden Breite wissenschaftlich belegt sind. Für die Prüfung der Gesprächspsychotherapie waren zum ersten Mal die Kriterien der evidenzbasierten Medizin gemäß der Verfahrensordnung des G-BA zur Anwendung gekommen. Um dem Einwand zu begegnen, dass die bereits in der GKV befindlichen Verfahren bisher nicht nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin geprüft wurden, hatte der G-BA sich selbst verpflichtet, auch diese zu überprüfen.»

Bemerkenswert sind die vom G-BA an gleicher Stelle veröffentlichten «Tragenden Gründe» für den Abbruch des Prüfungsverfahrens: So wird zunächst ausgeführt, dass das Bundessozialgericht 2010 entschieden habe, «dass die Richtlinienverfahren, da sie ‹Kraft Gesetzes seit 1999 als Gegenstand der psychotherapeutischen Versorgung anerkannt› seien, in Bezug auf ihre ‹Qualität und Wirksamkeit […] nicht (erneut) rechtsfertigungsbedürftig› seien». Schon damals wurde dieses Urteil von vielen als Freifahrtschein gesehen, dass Vertreter:innen der Richtlinienverfahren nun für Abwehr von Konkurrenz Kriterien entwickeln können, die sie selbst nicht erfüllen müssen.

Dass der G-BA 2008 beschlossen hatte, die Richtlinienverfahren trotzdem prüfen zu wollen, sorgte dafür, dass der Aufruhr über diese willkürliche Ungleichheit nicht allzu gross wurde. Was ergab nun diese elf Jahre lange Prüfung? Dazu steht in den «Tragenden Gründen»:

«Für die Recherchen und die nachfolgende Evidenzbewertung wurde auf […] systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten kontrollierten Studien abgestellt. Jedoch wurde im Laufe des Bewertungsprozesses sukzessive deutlich, dass das mit der Weiterführung der Prüfung der Richtlinienverfahren verfolgte Ziel mit diesem Vorgehen nicht erreicht werden kann. Dies liegt zum einen daran, dass die in den herangezogenen Dokumenten untersuchten Fragestellungen oftmals nicht zu den konkreten Fragestellungen des G-BA passen und die Dokumente zu einem erheblichen Teil von nur eingeschränkter methodischer Qualität sind. […] Ebenso fehlen Erkenntnisse in Bezug auf einige Indikationen, zu denen auf der Ebene aggregierter Evidenz keine ausreichenden Aussagen zum Nutzen identifiziert werden konnten.»

Das sind weitgehend die gleichen «Tragenden Gründe», die der G-BA 2006 und der WBP 2017 gegen die Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie – bzw. der GPT – ins Feld geführt haben. Offenkundig erfüllen die Richtlinienverfahren selbst nicht die Kriterien, die ihre Vertreter:innen in den Entscheidungsgremien als Vorwand für die Ablehnung der Humanistische Psychotherapie ins Feld führen. Gleichwohl sind aus dem WBP sind keine Überlegungen laut geworden, wie mit dieser doppelten Moral in der Bewertung von Psychotherapieverfahren umzugehen ist. Auch seitens der Politik, Wissenschaft oder Presse war kein Aufschrei wegen dieser extremen Ungleichbehandlung zu hören.

Es sei hier aber betont, dass der Autor dieses Beitrags damit nicht die beiden Richtlinienverfahren Psychodynamische Psychotherapie und Verhaltenstherapie für unwissenschaftlich oder unwirksam hält. Vielmehr wird mit der auch vom G-BA verlautbarten Bewertung die Fragwürdigkeit der Kriterien der Therapie-»Anerkennung» in Deutschland gezeigt.

2021 hat Bruce E. Wampold, einer der international führenden Psychotherapieforscher, ein umfangreiches Gutachten über das Methodenpapier des WBP verfasst. Die fünf Hauptpunkte seiner Kritik sind: 1. die Unterstellung des Methodenpapiers, dass die unterschiedlichen Erfolge von psychotherapeutischen Vorgehensweisen auf so grobe Kategorien wie «Verfahren» (besser: Cluster) zurückzuführen wären. Diese Unterstellung sei, nach allem was wir aus der Forschung wissen, falsch. Bemängelt wird 2. der hohe Stellenwert der RCT-Methodik im Methodenpapier. Kritisiert wird 3. die Annahme über den Anteil spezifischer therapeutischer Vorgehensweisen am Behandlungserfolg. Diese würden zwar im Methodenpapier vornehmlich geprüft, doch entspreche dies nicht dem Stand der Forschung. Sodann wird 4. die Logik infrage gestellt, nach der bestimmte Methoden und deren vermeintliche Wirksamkeit klar bestimmten «Verfahren» zuordenbar wären. Letztlich 5. wird kritisiert, dass das Methodenpapier die Beziehungsfaktoren, die für eine wirksame Psychotherapie unerlässlich sind, grösstenteils ignoriere und nicht erkenne, dass diese Faktoren allen Psychotherapieverfahren und -methoden gemein sind.

Dieses Gutachten wurde in deutscher Sprache vom «Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten» (bvvp) ins Internet gestellt (Wampold, 2021). Der bvvp ist mit über 5.600 Mitgliedern die grösste integrative Interessensvertretung von ärztlichen, psychologischen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen in Deutschland. Er ist ein wichtiger Partner in der Gesundheitspolitik und nimmt entscheidenden Anteil an der Versorgung psychisch kranker Menschen. Darüber hat Norbert Bowe vom bvvp eine Einschätzung zur wissenschafts- und berufspolitischen Bedeutung von Wampolds Gutachten ebenfalls ins Internet gestellt (Bowe, 2021a) und eine Kurzform im bvvp-Journal Psychotherapie in Politik und Praxis (PPP) veröffentlicht (Bowe, 2021b). Bowe kommt denn auch zu folgendem Resümee:

«Die Vorgehensweisen des WBP-Methodenpapiers gehen an der Evidenz für die Wirkungsweisen der Psychotherapie vorbei. Auf unwissenschaftliche Weise werden spezifische Therapietechniken auf Manualbasis bevorzugt und mit Forschungsgeldern gefördert, während beziehungsorientierte Behandlungsmethoden zurückgedrängt werden. Die Wahlmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten werden eingeschränkt, die Qualität der Versorgung nicht verbessert.»

Daraus ergeben sich für ihn eine Reihe gravierender Folgerungen, deren erste lautet: «Die Humanistische Psychotherapie ist vom WBP wissenschaftlich anzuerkennen.»

In der Tat sind seit vielen Jahren gegen die aufgestellten Regeln für «Wissenschaftlichkeit» durch den WBP zahlreiche Einwände erhoben worden (jenseits der Mängel in den konkreten Studienbewertungen). Besonders die Reduzierung der guten Idee der «Evidenzbasierung» (Sackett et al., 1996) auf RCT-Studien ist für eine angemessene Bewertung im Kontext der Psychotherapie fragwürdig. Denn damit wird das Anliegen, professionalisierte Hilfestellung durch wissenschaftlich gesicherte Informationen in Form von Übersichten und Bewertungshilfen zur Verfügung zu stellen, zu einem Instrument zur Selektion und Massregelung umfunktioniert – wovor Sackett explizit gewarnt hatte. Es kann gezeigt werden (Kriz, 2014, 2017, 2023; Revenstorf, 2005), dass ein solches Vorgehen für die Bewertung von Pharmaprodukten recht brauchbar, für die Beurteilung von verhaltenstherapeutischen Programmen noch hinreichend, aber für die Bewertung von Vorgehen im Rahmen der Humanistischen Psychotherapie in hohem Masse inadäquat ist. Die Logik des experimentellen Designs, nach der unabhängige Variablen (Interventionen) auf abhängige Variablen (Veränderungen des Untersuchungsgegenstandes) möglichst objektiv und reproduzierbar wirken, bricht nämlich zusammen, je mehr Menschen als Subjekte – und damit deren Deutungen – eine Rolle spielen. Die sog. unabhängigen Variablen werden damit nämlich selbst zu abhängigen (nämlich von den Interpretationen der Subjekte).

Wenn gefordert wird, dass faktisch nur Belege für Wirksamkeit gelten sollen, die mit experimentellen Designs erbracht wurden, werden alle anderen Belege aus der Praxis und umfangreicher wissenschaftlicher Psychotherapieforschung, die mit anderen Methoden erbracht wurden, unter den Teppich gekehrt. Qua Untersuchungsmethodik wird der Humanistischen Psychotherapie eine Pharma- und VT-Ideologie übergestülpt. Man muss diese Argumente nicht teilen – aber dass sie nicht einmal von einem «wissenschaftlichen Beirat» diskutiert werden, ist kein gutes Signal an die nachwachsende Generation von Forscher:innen. Nicht die wissenschaftlichen Argumente, nicht der Diskurs oder Transparenz werden als relevant hingestellt, sondern es geht allein um die Macht, eine bestimmte Sichtweise als einzige «Wahrheit» zur Wahrung einer methodische Monokultur durchzusetzen.

Um überhaupt etwas Bewegung in die betonierte Ausgrenzung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland zu bringen, haben die Verbände der Personzentrierten Psychotherapie (die Gesprächspsychotherapie, Emotionsfokussierte Therapie und Focusing als Schwerpunkte vertreten) Anfang 2023 erneut einen Antrag beim WBP zur Prüfung der «wissenschaftlichen Anerkennung» gestellt. Immerhin konnte mit einer neuen Studie von Timulak et al. (2022) zur Wirksamkeit Personzentrierter Psychotherapie bei Angststörungen die eine Studie nachgereicht werden, die nach Meinung des WBP im umfangreichen Paket von Wirkstudien für eine positive Bewertung «fehlte». Diese Studie wurde zunächst von der zuständigen Behörde des Landes Hamburg nachgereicht – eine Forderung, die aus dem WBP noch 2018 laut wurde (u. a. Fydrich, 2018). Allerdings liess der WBP nun wissen, dass eine Nachreichung von Studien nicht in seinem «Methodenpapier» geregelt sei – und daher ein neuer vollständiger Antrag gestellt werden müsse. Obwohl auch nichts Gegenteiliges im Methodenpapier vermerkt ist, und die ganze Situation ja nur dadurch entstanden ist, dass der WBP sich bei seinem Gutachten 2018 nicht an die explizit formulierten Regeln seines Methodenpapieres gehalten hatte, entschlossen sich die personzentrierten Verbände, sich dieser erneuten Änderung der Anforderungen zu beugen, und den Antrag zu stellen. Damit wurde auch zwangsläufig dem WBP-Gutachten nachgekommen, in dem antragswidrig die Humanistische Psychotherapie in Einzelansätze aufgelöst worden war. Dort wurde spitzfindig behauptet,

«dass es sich bei der Humanistischen Psychotherapie um eine übergeordnete psychotherapeutische Grundorientierung handelt […] mit eigenständiger und von anderen Verfahren hinreichend klar abgrenzbarer Störungs- und Behandlungstheorie, mit eigenen diagnostischen Verfahren und störungsspezifischen Modifikationen [, es sich aber] nicht um ein Psychotherapieverfahren entsprechend den Kriterien des Methodenpapiers des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie handelt» (WBP, 2018, S. A8).

Daher wurden die «Methoden» isoliert bewertet. Dies ist für die AGHPT besonders deswegen ärgerlich, weil die drei Richtlinienverfahren genau die gegenteilige Entwicklung vollzogen und sich als Sammelbewegung für jeweils sehr heterogene Cluster von Ansätzen etabliert haben. Selbst die Psychoanalyse hat in diesem Zuge in Deutschland ihre Eigenständigkeit insofern aufgegeben, als sie nur noch als eine von 21 Methoden der «Psychodynamischen Psychotherapie» firmiert. Der wissenschaftliche Beirat der AGHPT hat den WBP bereits 2014 um Klärung der Frage gebeten, nach welchen wissenschaftlichen Kriterien diese 21 Methoden der Psychodynamischen Psychotherapie bzw. die rund 50 Methoden der VT als ein Verfahren gesehen werden, und was einer solche Einordnung für die Humanistische Psychotherapie aus Sicht des WBP entgegensteht. Eine Antwort steht immer noch aus. Die Psychotherapie wird in Deutschland eben immer noch von bürokratisch-administrativen Machtstrukturen beherrscht, denen sich inhaltliche, klinische und wissenschaftliche Aspekte unterzuordnen haben.

Es bleibt zu hoffen, dass der WBP nun nicht völlig neu mit einem viele Jahre dauernden Prozedere beginnt, das «neue Verfahren» von Grund auf zu untersuchen und bspw. erneut eine aufwändige und langwierige Literaturrecherche durchzuführen. Zumal deren Validität nachweislich mangelhaft ist: Statt die rund 300 von der AGHPT eingereichten Studien als Bewertungsgrundlage zu nehmen, liess der WBP eine eigene Literaturrecherche durchführen, die rund 8.000 «Studien» erbrachte. Aus diesen musste die AGHPT dann mühsam die irrelevanten Quellen eliminieren. Gleichwohl enthielten diese 8.000 Quellen nicht einmal 50 % der von der AGHPT eingereichten Studien. Eine solche «Recherche» stellt somit eine unsinnige Verschwendung von Zeit und Ressourcen dar.

Anzeichen für positive Entwicklungskräfte

Im Herbst 2021 erschien die 7. Auflage von Garfield & Bergin’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. Dieses Werk gilt seit einem halben Jahrhundert quasi als «Bibel» der Psychotherapieforschung. Wie schon in der 6. Auflage von 2013 findet sich ein Kapitel mit Metaanalysen zur Humanistischen Psychotherapie (Elliot et al., 2021). Die aktuelle Analyse beruht auf 91 Studien der HPT zwischen 2009 und 2018 zur effectiveness/efficacy der «Humanistic-Experiential Psychotherapies (HEP)» (die weitgehend gleich mit den Ansätzen der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland ist). Schon in der Analyse von 2013 aufgrund von 186 Studien (59 davon kontrollierte efficacy-Studien) mit insgesamt 14.206 Patient:innen zeigte sich die weitgehende Gleichwertigkeit in der Effektivität zu den anderen drei Grundorientierungen. Auch die neue Analyse zeigt die recht hohe Effektstärke der HEP im Vergleich zu nicht behandelten Patient:innen von .88; zu anderen Therapieformen erweist sich HEP als gleich effektiv (-.08).

Wie schon in der 6. Auflage (Elliot at al., 2013) konnte gezeigt werden, dass die scheinbare Überlegenheit der kognitiven Verhaltenstherapie (CBT) gegenüber der HEP ganz überwiegend mit Studien erbracht wurde, in denen von CBT-Forscher:innen eine Pseudo-HEP als erwünscht unwirksame Placebo-Bedingung verwendet wurde. Wird CBT mit korrekt durchgeführter HEP verglichen (und dieser Vergleich gar noch von neutralen Wissenschaftler:innen überwacht), so verschwindet die in CBT-Publikationen behauptete Überlegenheit. Diese Erkenntnis wird mit Elliot et al. (2021) nun durch zusätzliche Analysen weiter erhärtet (u. a. sog. «intent-to-treat [ITT]»-Analysen und explizite Nachweise der Studienauswahl durch sog. PRISMA-Diagramme).

Auch wenn solche Metastudien kein Umdenken beim WBP erkennen lassen, der sich weiterhin auf die Befunde aus isolierten RCT-Studien stützt, so werden doch einige in diesem Zusammenhang international beachtete Erkenntnisse aus den damit verbundenen Diskursen zumindest vereinzelt aufgenommen, insbesondere das Verständnis dafür, dass es weniger die spezifischen Therapiemethoden sind, die die Wirkung von Psychotherapie hervorrufen, sondern weit mehr die sogenannten «unspezifischen Faktoren» (Wampold, 2001; Wampold et al., 2018; Wampold & Flückinger, 2022). So griff Bernhard Strauß (2019), der zu dieser Zeit Vorsitzender des WBP war, in einem Grundsatz- und Überblicksartikel über «Innovative Psychotherapieforschung: Wo stehen wir und wo wollen wir hin?» die Sichtweise von Wampold & Imel (2015) auf und argumentierte, wie stark das Therapieergebnis von «kontextuellen» Faktoren im Psychotherapiebereich abhängt. Dazu führte er eine Tabelle der «durchschnittlichen Effektstärke für die Wirkung von Psychotherapie» an (Strauß, 2019, S. 6). Die «kontextuellen Faktoren» mit grosser Wirksamkeit sind vor allem «Empathie», «Wertschätzung» und «Kongruenz/Echtheit» – also die zentralen Aspekte des therapeutischen Beziehungsangebotes in der Humanistischen Psychotherapie.

Bisher ist allerdings nicht zu vernehmen, dass der WBP bereit zu einem Diskurs über die angemessenen Formen und Wege von Evidenzbeurteilungen ist. In einem solchen Diskurs müssten nicht nur unterschiedliche Konzeptionen der Grundorientierungen, sondern auch unterschiedliche methodische Zugänge berücksichtigt werden – wie Wirkforschung (im engeren Sinne), Prozessforschung, Einzelfallstudien (in unterschiedlicher Weise angelegt und aufbereitet), Ergebnisse aus psychotherapeutischer Grundlagenforschung sowie Studien im breiten Spektrum der Klassifikation von Evidenzbasierung nach Sackett et al. (1996).

Immerhin scheint sich eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Verantwortung gegenüber den Patient:innen und der Entwicklung der Psychotherapie abzuzeichnen: Am 18. März 2023 wurde eine Resolution des Arbeitskreises der Psychotherapieverbände (GK II) verabschiedet. Im GK II sind 36 Psychotherapieverbände und -gesellschaften vertreten, darunter auch die Verbände der Psychodynamiker:innen, der Verhaltenstherapeut:innen und der Systemiker:innen sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie, oder der Verband psychologischer Psychotherapeuten im BDP (Bund Deutscher Psychologen). Er repräsentiert über 66.000 Mitglieder. In dieser Resolution wird beklagt, dass wegen der Einseitigkeit der Psychotherapieprofessuren in Deutschland (fast ausschliesslich VT-orientiert), die notwendige Breite und Vielfalt der Psychotherapie «häufig nicht gewährleistet» ist. Es wird darauf hingewiesen, dass sich die «internationale Breite und Vielfalt vor allem in den vier Grundorientierungen ausdrückt, die die Verhaltenstherapie, die psychodynamische Psychotherapie, die Systemische Therapie und die Humanistische Psychotherapie umfassen». Entsprechend wird u. a. gefordert, «die Einbeziehung aller wissenschaftlich anerkannten Verfahren und Methoden sowie aller Grundorientierungen im Studium» (Volltext der Resolution: vpp, 2023).

Es ist daher trotz aller hier berichteten Widerstände gegen die Humanistische Psychotherapie in Deutschland zu hoffen, dass auch die Funktionsträger:innen in WBP und G-BA sich einem angemessenen Diskurs über die Widersprüche ihrer Bewertungen und der international recht einhelligen Fachexpertise nicht länger verschliessen, damit den Patient:innen in Deutschland der in anderen Ländern so erfolgreiche Behandlungsansatz endlich (wieder) zur Verfügung steht.

Literatur

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Humanistic Psychotherapy in Germany

Report of a blockade

Abstract: Five years ago, the German «Scientific Advisory Board on Psychotherapy» (WBP) not only rejected Humanistic Psychotherapy as a «scientifically recognized procedure» in an expert opinion, but even withdrew the «recommendation for advanced training» from Person-centered Psychotherapy – an approach which had already been recognized by the WBP in 2002. After initial protests by many scientists and institutions against this evaluation, a standstill must be reported. The WBP evades discourses about this critique and the evaluation complained. This paper takes the 5-year anniversary as an opportunity to provide a report of the contexts and circumstances of this blockage of Humanistic Psychotherapy in Germany. This is because many are unfamiliar with this German administrative regulatory framework. The report focuses on publications after 2018. For it is becoming increasingly clear that the German ideology of strictly separated approaches, whose «scientificity» must be proven exclusively by experimental RCT studies with regard to specific factors, does not stand up to findings from international psychotherapy research. Increasingly, research supports a view which has prevailed especially by Wampold since 2001, according to which contextual factors in particular contribute significantly to the success of therapy. These are above all aspects that play a central role in Humanistic Psychotherapy. The article concludes with the hope that the WBP will register these discourses and come to a changed evaluation of Humanistic Psychotherapy.

Keywords: Humanistic Psychotherapy, WBP, Evaluation, psychotherapy research, contextual model, proof of scientificity, rct-design

Psicoterapia umanistica in Germania

Resoconto di un blocco

Riassunto: Cinque anni fa, il comitato tedesco «Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie» (WBP) non solo ha respinto in un parere la psicoterapia umanistica come «metodo scientificamente riconosciuto», ma ha persino ritirato la «raccomandazione all’approfondimento» alla terapia centrata sul cliente, che era già stata riconosciuta dallo stesso WBP nel 2002. Dopo le proteste iniziali di molti scienziati e istituzioni contro questa valutazione, si è registrata una fase di stallo, tanto più che la WBP evita di parlare di queste critiche e delle valutazioni contestate. Il presente contributo coglie l’occasione dei 5 anni per fare un resoconto dei contesti e delle circostanze di questo blocco della psicoterapia umanistica in Germania. Infatti, molte persone non hanno familiarità con l’apparato normativo amministrativo tedesco. Il resoconto si concentra sulle pubblicazioni successive al 2018. Diviene sempre più chiaro che l’ideologia tedesca delle metodologie psicoterapeutiche, tra loro compartimentate, la cui «scientificità» deve essere dimostrata esclusivamente medianti studi sperimentali RCT in relazione a specifici fattori di efficacia, non regge di fronte ai risultati della ricerca internazionale sulla psicoterapia. Sempre più evidenze sono a favore della visione, avanzata soprattutto da Wampold a partire dal 2001, secondo cui fattori contestuali contribuiscono in modo significativo al successo terapeutico, ovvero aspetti che rivestono un ruolo centrale nella psicoterapia umanistica. Il contributo si conclude con l’auspicio che la WBP riprenda il discorso e giunga a una nuova valutazione della psicoterapia umanistica.

Parole chiave: psicoterapia umanistica, Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, parere del WBP, ricerca della psicoterapia, modello contestuale, valutazione, dimostrabilità, scientificità, modello RCT

Der Autor

Prof. Dr. Jürgen Kriz ist Emeritus für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück, hatte aber über 25 Jahre auch Professuren in Statistik und Forschungsmethoden inne. Er ist Ehrenmitglied etlicher psychotherapeutischer Fachverbände, war Gastprofessor u. a. in Wien, Zürich, Berlin, Moskau, Riga und den USA, und ist Autor von über 20 Büchern und 300 Fachbeiträgen. Von 2004 bis 2008 war er Mitglied im WBP.

Kontakt

Prof. Dr. Jürgen Kriz
Universität Osnabrück Institut für Psychologie
Seminarstr. 20, Poststelle D-49074 Osnabrück
kriz@uos.de