Daniel Hell
Psychotherapie-Wissenschaft 13 (2) 2023 63–70
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-2-63
Zusammenfassung: Psychiatrie und Psychotherapie sind besonders stark von der herrschenden Kultur abhängig. Im letzten halben Jahrhundert, in der der Autor als Universitätsprofessor, Klinikchef und Therapeut in eigener Praxis tätig war, haben sich Psychiatrie und Psychotherapie vielfältig verändert. Unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wandels und der damit zusammenhängenden Veränderungen des menschlichen Selbstverständnisses wird auf den Wandel der psychischen Krankheitsformen eingegangen. Schon heute lässt sich eine Tendenz zur Verdinglichung der Gefühle und eine verstärkte Beschäftigung mit dem Selbstwert feststellen. So sind Schuldgefühle bei schwer depressiv erkrankten Menschen heute seltener geworden. Gleichzeitig ringen depressive Menschen häufiger mit Kränkungen und verletztem Selbstwert. Auch das «Selbst» wird hauptsächlich reflexiv wie ein Objekt verstanden. Präreflexive, gleichsam leib-seelische Anteile erhalten auch in Psychotherapien wenig Aufmerksamkeit. Diese Tendenz könnte durch die Digitalisierung mit Big Data noch verstärkt werden. Umso wichtiger ist eine Auseinandersetzung mit der Zukunft von Psychiatrie und Psychotherapie auch in Kenntnis ihrer Geschichte.
Schlüsselwörter: Psychiatrie, Psychotherapie, Kultur, Gesellschaft, Psychiatriereform, Individualisierung, Entfremdung, Depression
Das Verständnis psychischer Probleme und Erkrankungen ist weitgehend von den kulturellen Vorstellungen geprägt, die eine Gesellschaft dominieren. Dazu tragen heute wissenschaftliche Erkenntnisse bei. Insbesondere die Neurowissenschaften beeinflussen aktuell, was wir über psychische Krankheiten denken. Sehr viele Menschen verstehen psychische Krankheiten als Hirnstörungen. Allerdings bleiben bisher die häufigsten psychischen Störungen wie insbesondere die meisten Depressionsformen neurobiologisch weitgehend ungeklärt. Zwar haben wir heute dank methodischer Fortschritte, vor allem der Digitalisierung und der Bildgebung, eine viel detailliertere Kenntnis des Gehirns. Doch sind psychische Störungen oft nicht allein auf Hirnveränderungen zurückzuführen. Sie werden denn auch entsprechend meist als multifaktoriell begründet, ohne dass allerdings der komplizierte Zusammenhang mannigfaltiger Einflussfaktoren wie Genetik, Biografie, soziale oder zwischenmenschliche Belastungen im Einzelfall genau bekannt wäre. Das scheint die Akzeptanz neurobiologischer Konzepte zum Beispiel im Fall der Depressionsbehandlung aber nicht zu schmälern. Zu hoch ist der Stellenwert der Neurowissenschaft in der heutigen Gesellschaft, als dass nicht vielfach davon ausgegangen würde, die Neurobiologie könne es richten.
So ist zum Beispiel die Serotoninhypothese der Depression aufgrund empirischer Befunde ungesichert und sehr wahrscheinlich unzureichend, wenn nicht falsch. Damit entfällt die Begründung, worauf sich die Vermarktung der Antidepressiva 20 Jahre lang gestützt hat – nämlich, dass depressive Menschen im Gehirn und insbesondere in den Synapsen einen Mangel an Serotonin aufweisen. Gleichzeitig ist in den letzten Jahrzehnten auch die Differenz zwischen Antidepressiva- und Placebowirkung immer geringer geworden. Gemäss einer neuen Studie der Daten der FDA (Stone et al., 2022) ist davon auszugehen, dass 85 % der Antidepressivawirkung auch mit Placebos erreicht werden können. Viele Firmen haben sich denn auch von der Forschung zu Psychopharmaka vom Typ Antidepressiva zurückgezogen. Das ändert aber nichts daran, dass Antidepressiva immer häufiger gebraucht werden. Das Vertrauen in sie scheint ungebrochen.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass Antidepressiva eine Wirkung haben, allerdings wahrscheinlich keine spezifisch antidepressive, sondern eher eine beruhigende und emotional distanzierende. So wirken sie bei Angststörungen im Vergleich zu Placebos sogar eher besser als bei Depressionen. Sie können aber auch das Leiden depressiver Menschen verringern, indem sie es nicht so spüren lassen. Aber es gibt immer weniger Hinweise, dass sie die Ursache der Depressionen zu beseitigen vermögen. So wurden sie aber im Decade of the Brain proklamiert und davon gehen immer noch die meisten Menschen aus, die sie einnehmen. Es gibt also einen positiven Erwartungseffekt, den man therapeutisch den depressiven Menschen, die sie einnehmen, nicht nehmen möchte. Diese positive Erwartung hat, so nehme ich an, mehr mit dem Vertrauen in die moderne Wissenschaft und Technik zu tun als mit empirischen Befunden dieser Wissenschaft.
Wie ist aber damit umzugehen? Ethisch ist es schwer zu verantworten, auf der einen Seite die Autonomie des Patienten und damit die Aufklärungspflicht hochzuhalten und auf der anderen Seite die antidepressive Wirkung eines Medikaments zu empfehlen. Ein Ausweg kann die offen deklarierte Abgabe eines Placebos sein. Damit haben wir aber noch wenig Erfahrung, auch wenn erste Studien positive Resultate ergaben. Ich helfe mir damit, dass ich nicht die antidepressive, sondern die unspezifische Verminderung des Leidens durch ein Antidepressivum betone. So vertrete ich bei einem depressiven Menschen, der stark leidet und eine medikamentöse Hilfe wünscht, nach weiteren Abklärungen die Abgabe eines Antidepressivums. Es erhöht einerseits die Chance, dass depressive Symptome abnehmen, sei dies durch das Medikament direkt oder indirekt durch die Placebowirkung bedingt. Andererseits können antidepressiv genannte Medikamente wie dargelegt auch unempfindlicher machen und damit vom Leiden distanzieren. Aber es gilt in der Depressionsbehandlung auch unbedingt diejenigen Zusammenhänge des krankhaften Geschehens, die das Leiden überhaupt erst hervorgerufen haben, zu beachten und adäquat zu behandeln. Dazu zählen hauptsächlich innere und äussere Konflikte sowie belastende Lebenssituationen.
Die psychotherapeutische oder sozialpsychiatrische Behandlung dieser Störungen hängt aber von der Einsicht und vom Willen der Patienten ab. Hier stelle ich nun Veränderungen fest, die auch kulturbedingt sind. Sie verringern zwar nicht die Bereitschaft zu einer Therapie, verändern aber die Erwartungen an sie. Es geht weniger, einmal sehr plakativ gesagt, um ein Ringen mit sich selbst als um Techniken, wie mit auftretenden Problemen umzugehen ist. Dieser Wandel scheint mir mit veränderten Ansprüchen an die eigene Person, die Umwelt und das Leben zu tun haben, aber auch mit einem veränderten Selbstverständnis. Wenn heute das Selbst als Begriff in Psychologie und Philosophie vermehrt ins Zentrum gerückt wird, so kann dies auch ein Zeichen für den Verlust einer Selbstverständlichkeit dieses «Selbst» sein (Hell, 2022).
Ich möchte im Folgenden von meinen persönlichen Erfahrungen aus einem halben Jahrhundert psychiatrischer und psychotherapeutischer Tätigkeit berichten. Nicht nur ich habe mich verändert, auch meine Patienten. Auch unsere gemeinsame Umwelt, die Arbeits- und Anstellungsbedingungen, die Kommunikationsweisen, die sozialen Medien, die Mobilität und vieles mehr.
Als ich im Sommer 1971 meine erste Arbeitsstelle als psychiatrischer Assistenzarzt am Burghölzli begann, traf ich auf räumliche und therapeutische Verhältnisse, die heute kaum mehr vorstellbar sind. Die Klinik war zwar seit Kurzem nicht mehr von einer Mauer umgeben. Doch waren die meisten Krankenabteilungen nicht nur geschlossen, sondern so karg eingerichtet, dass die Patienten über keine Privatsphäre verfügten. Die meisten Kranken waren in Mehrbettzimmern oder in engen Wachsälen mit einem Dutzend Betten untergebracht. Die meisten Langzeitpatienten schliefen auf den hinteren Abteilungen über viele Jahre in gefängnisartigen Zellen, die nur mit einem Eisenbett, einer Matratze und einer Wolldecke sowie einer stählernen Toilettenschüssel ausgerüstet waren. Die Behandlung bestand neben Psychopharmaka hauptsächlich in Arbeitstherapie, vor allem in einfachen industriellen Arbeiten. Die pflegerische und ärztliche Betreuung war sehr beschränkt, weil nur wenig Fachpersonal zur Verfügung stand. Diese Verhältnisse führten dazu, dass die Patienten tendenziell mehr als Fälle nach fixen Schemata denn als Individuen mit eigenen Bedürfnissen behandelt wurden. Doch fehlte es nicht an Engagement von Pflegern und Ärzten, den Patienten mehr Gespräche und Gruppentherapien anzubieten. Diese Einzelinitiativen konnten die Bedingungen der damaligen Psychiatrie aber nicht verändern. Sie war eine «Psychiatrie der Armut und Isolation», die vielfach mit Verwahrungen und Hospitalismus einherging. Aber diese psychiatrischen Verhältnisse waren nicht nur institutionell bedingt, sondern auch eine Folge der damaligen Gesellschaftspolitik, die der Betreuung psychisch Kranker keine grosse Bedeutung beimass.
Für dieses Abdrängen der Psychiatrie in eine gesellschaftliche Randstellung habe ich mich als junger Arzt geschämt. Es war mir sehr bewusst, dass meine Berufswahl mir nicht das gleiche Prestige einbrachte, wie wenn ich Innere Medizin oder Chirurgie als Fachgebiet gewählt hätte. Doch war ich nun einmal an psychologischen Fragen interessiert und hatte eine Zuneigung zu Menschen, die psychische Besonderheiten haben und aussergewöhnliche Leben führen. Wie oft trugen auch eigene Schwierigkeiten zu meiner Berufswahl bei. Ich habe sie nie bedauert. Ich hatte allerdings auch das Glück, eine der interessantesten Epochen der Psychiatrie- und Psychotherapiegeschichte mitzuerleben. Denn die Psychiatrie, zu der ich auch Psychotherapie zähle, hat seit meinem Berufseinstieg eine tiefgreifende Reform erfahren, die man durchaus auch als revolutionär bezeichnen kann. So konnte ich zunächst als Assistenzarzt, dann als Oberarzt und schliesslich als ärztlicher Direktor miterleben, dass noch eine ganz andere Psychiatrie möglich ist, als ich sie zuerst kennengelernt habe. Ich verdanke dieser Aufbauzeit erfüllende Berufsjahre.
Oft wird die Humanisierung der Klinikverhältnisse auf die Einführung moderner Psychopharmaka zurückgeführt. Ich habe dies etwas anders erfahren. Die anfangs beschriebenen Verhältnisse im Burghölzli – damals eine Vorzeigeklinik – wurden nicht unmittelbar durch Einführung moderner Psychopharmaka verändert. Es ist im Gegenteil so, dass die Neuroleptika schon 20 Jahre vorher (nämlich 1952) entdeckt und zwei Jahrzehnte lang breit angewendet wurden. Ähnliches gilt von den Antidepressiva, die seit 1958 Anwendung fanden. Psychopharmaka trugen zwar zum Fortschritt bei und ermöglichten insbesondere, erregte und psychotische Patienten zu beruhigen. Aber sie konnten die stationäre Psychiatrie nicht grundlegend verändern. Sie haben insbesondere aus Krankheitsfällen keine therapeutisch einzubeziehenden Personen gemacht.
Dies machte erst später eine Reformbewegung möglich, die das Persönliche der psychisch Kranken betonte. Sie übte auch Kritik an der Ausgrenzung hospitalisierter Menschen und zeigte kritisch ihre ungenügende und zum Teil verheerende Behandlung auf. Dadurch rückte die Psychiatrie aus dem Abseits ins mediale und gesellschaftliche Interesse. Von Bedeutung war, dass die vermehrte Beachtung der psychisch Kranken und der Versuch, sie zu rehabilitieren, mithalf, ihre psychiatrische Behandlung zu verbessern. Nach meiner Wahrnehmung spielte für die Psychiatriereform die vermehrte Beschäftigung mit psychodynamischen Vorstellungen eine wichtige Rolle. Auch soziodynamische Überlegungen förderten das Verständnis für die Lage der psychisch Kranken. Dadurch bekam die Psychotherapie und die Sozialpsychiatrie Aufschub. Sie wurden zu Pfeilern der psychiatrischen Reform. Sie trugen dazu bei, dass der Patient vermehrt als je eigene Person und nicht nur als Kranker wahrgenommen wurde – bis hin zu den späteren Selbsthilfe- und Empowerment-Bewegungen, in denen der Patient als Person ganz im Zentrum steht.
Andererseits trug zur Verbesserung der stationären Behandlung bei, dass im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts endlich die notwendigen finanziellen Mittel gesprochen wurden, um die psychiatrischen Kliniken (und alternative Behandlungsinstitutionen) räumlich und personell adäquat und gut einzurichten. Wichtig war auch, dass die erst 1960 in der Schweiz eingeführte Invalidenversicherung für die Unterbringung psychisch beeinträchtigter Menschen in Heimen und für ihre Beschäftigung in Werkstätten aufkam. Ohne diese Finanzierung durch die IV war vorher eine Entlassung vieler Kranker aus den Kliniken unmöglich gewesen.
Das bleibend Gute in Psychiatrie und Psychotherapie ist nach meiner persönlichen Erfahrung vor allem: die Entwicklung der Sozialpsychiatrie, die Stärkung der Psychotherapie, die therapeutische Ergänzung mit kreativen und körperorientierten Behandlungen, der Einbezug der Angehörigen, der medikamentöse Fortschritt und auch die enorme Verbesserung der baulichen Verhältnisse. All dies wäre nicht möglich gewesen, wenn sich nicht auch die gesellschaftliche Einstellung zur Psychiatrie und Psychotherapie wesentlich verändert hätte. Dazu trugen einerseits eine gewisse Öffnung und Liberalisierung der Gesellschaft bei, andererseits aber auch das wachsende Bewusstsein, wie vielen psychisch kranken Menschen therapeutisch geholfen werden kann. Nur so konnte die Psychiatrie aus einer lange bestehenden gesellschaftlichen Isolation heraustreten und mithelfen, psychisch kranke Menschen individueller, vielfältiger und integrativer zu behandeln.
Die heutige sozioökonomische und kulturelle Situation fordert Psychiatrie und Psychotherapie heraus. Sie muss sich mit neuen Problemen auseinandersetzen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass die Errungenschaften der Psychiatriereform wieder geschwächt werden. Dazu tragen auch technische Entwicklungen bei.
Die Fortschritte der Digitalisierung ermöglichen heute, sehr viele Daten miteinander zu verarbeiten. Dadurch werden sowohl ökonomische wie empirische wissenschaftliche Analysen ermöglicht, die mehr und mehr den psychiatrischen Alltag bestimmen. Bei allem Gewinn solcher Erhebungen rückt der einzelne Patient mehr und mehr in den Hintergrund. Dabei hat die Psychiatriereform versucht, dem einzelnen Patienten näherzukommen und ihn besser zu verstehen, auch indem sie kleinere familiäre Einheiten auf den Krankenstationen schuf, ambulante und teilstationäre Einrichtungen förderte und die psychiatrische Versorgung generell näher zum Wohnort der Patienten und ihren Angehörigen gebracht hat. Diese Dezentralisierung (unter dem Stichwort gemeindenahe sowie regionalisierte und sektorisierte Psychiatrie) ist heute einer Zentralisierung der Versorgung mit Grosskliniken oder Klinikverbünden gewichen. Damit ist eine gewisse Patientenferne der medizinischen Leitung verbunden.
Dass grosse Zahlen die Vertrautheit mit den Patienten nicht fördert, gilt auch für die empirische Forschung. Sie stützt sich mehr auf validierte Fragebögen als auf persönliche Gespräche. Kasuistische Forschungen haben Seltenheitswert. Die Tendenz, grosse Untersuchungszahlen und gute Methodik als Gütekriterien der modernen Forschung zu werten, macht die statistische Forschung aussagefähiger für eine Population von Menschen als für eine einzelne Person. Bei so komplexen Fragestellungen, wie sie sich in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung ergeben, ist aber nicht nur das statistische Wissen, sondern vor allem die Beziehung zum jeweiligen Patienten wichtig. Nur ein Wissen um die persönlichen Probleme eines Patienten und um seine biografisch und kulturell geprägte Einstellung dazu ermöglichen es einzuschätzen, wie einzelne Einflussfaktoren im individuellen Fall zusammenspielen und wie allenfalls die statistischen Befunde, die für die meisten Behandlungsverfahren breit streuen, zu interpretieren sind.
Die Gefahr der Psychotherapie und insbesondere der Psychiatrie bestand schon immer darin, entweder eine bestimmte biologische, psychologische oder soziologische Sichtweise zu präferieren und sich auf die ausgewählte Perspektive zu fokussieren. Heute dominiert die Neurowissenschaft, mitbedingt durch faszinierende neue Untersuchungsmethoden. So sind aktuell praktisch alle Lehrstühle an psychiatrischen Universitätskliniken mit Vertretern der neurobiologischen Richtung besetzt. Das hat zur Folge, dass Mediziner im Studium hauptsächlich von neurobiologischen Hypothesen und Studien hören und oft Psychiatrie als angewandte Neurowissenschaft zu verstehen lernen. Oder wie ich zu sagen pflege: Die Psychiatrie, die entsprechend der Wortbedeutung einmal eine «Heilkunde der Seele» war, wird heute zur «Encephaliatrie», zur Heilkunde des Gehirns.
Zweifellos ist der Einbezug verschiedener Zugangsweisen zu psychiatrischen Erkrankungen schwieriger als das biopsychosoziale Konzept vorzugeben scheint. Denn es bedarf eines Perspektiven- oder Kategorienwechsels. Der Neurobiologe nimmt den Menschen gleichsam von aussen (aus der Perspektive der dritten Person) als ein zu analysierendes Objekt wahr. Der phänomenologisch orientierte Kliniker nimmt ihn als Subjekt oder Person wahr, indem er (aus der Perspektive der ersten Person) am inneren Erleben des Kranken Anteil nimmt. Trotz solcher methodischen Schwierigkeiten kommt die Psychiatrie meines Erachtens aber nicht darum herum, sich der Mehrdimensionalität psychischer Störungen in der Forschung zu stellen. Nur so kann zum Beispiel überhaupt eine sinnvolle Korrelation zwischen einem vielschichtigen, differenziert zu erfassenden Erleben von Patienten und der meist ebenso komplexen Hirnaktivität erarbeitet werden. Allgemeine Krankheitskonzepte allein können diese komplexe und durch Feedback-Mechanismen komplizierte Aufgabe kaum lösen. Wohl deshalb dürften bisher auch die meisten Bemühungen um spezifische Biomarker von psychischen Erkrankungen gescheitert sein. Um das Krankheitsgeschehen zu studieren, reicht es eben nicht aus, grosse Daten biologischer, psychologischer und sozialer Art miteinander zu kombinieren und zu verrechnen. Zu berücksichtigen wären auch die Wechselwirkungen zwischen leidvollen Erlebensweisen, auslösenden Belastungen, genetischen Bedingungen, biografischen Prägungen, Umwelteinflüssen und Einstellungen einer Person zur aufgetretenen Problematik etc. Selbst bei Einzelfallanalysen ist die Komplexität der statistischen Zusammenhänge solcher Faktoren so gross, dass das Verständnis für den einzelnen Mensch darin unterzugehen droht.
Die fortschreitende Digitalisierung der modernen Gesellschaft macht auch vor der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis nicht Halt. Wie der Gebrauch von Smartphone, GPS, sozialen Medien und anderen Computerleistungen heute das Alltagsleben prägt, so beginnt die Digitalisierung auch die psychotherapeutische und psychiatrische Praxis zu verändern. So haben zum Beispiel die Telepsychiatrie und -psychotherapie insbesondere in der COVID-19-Pandemie mit der Anwendung von Zoom, Skype und anderen Plattformen Aufschwung erhalten. Diese Techniken ermöglichen Notfallkontakte, das Fortführen einer Therapie bei lokalen Abwesenheiten, das Vermeiden von zeitraubenden Fahrten usw., wie es früher unvorstellbar war.
Neben manchen Vorteilen sind allerdings auch Nachteile zu bedenken. So fehlt in solchen Therapieverfahren der direkte, sinnlich spürbare Kontakt. Das heisst zwar nicht, dass in einer Online-Psychotherapie keine stabile und positive Beziehung zu einem Therapeuten aufgebaut werden kann. Doch erschwert sie einen gefühls- und leiborientierten Kontakt, der die therapeutische Beziehung nicht nur bei dynamischen und humanistischen Therapieformen vertieft. Sie ist somit bestimmt nicht die richtige Therapieform für alle Hilfesuchenden und alle Therapeuten.
Eingreifender dürfte die Digitalisierung in Zukunft die anwendbaren Therapiemethoden beeinflussen. So ermöglichen schon heute neue Technologien der Smartphones, die mit Sensoren ausgerüstet sind, einen Menschen örtlich zu lokalisieren und damit kontinuierlich den lebensweltlichen Kontext grob zu erfassen. Auch Puls, Blutdruck, Schrittlänge und vieles mehr lassen sich messen und damit Korrelate des Empfindens erschliessen. In naher Zukunft wird es immer mehr technische Anwendungen geben, um bestimmte soziale und biologische Einflüsse auf das psychische Befinden zu erfassen.
Natürlich können diese Sensoren nicht das Erleben aus erster Hand wiedergeben, aber sie können körperliche Äquivalente davon erfassen. So korreliert beispielsweise die Geschwindigkeit und die Kraft des Tippens oder Scrollens auf einem Smartphone mit der Depressionsschwere. Auch die körperliche Aktivität kann gemessen und mit dem Wohlbefinden korreliert werden. Daraus können Rückschlüsse auf erwünschte Massnahmen gezogen werden. Dieser neue Trend des digital phenotyping oder des internet of things wird mit enormen Forschungsgeldern gefördert. In aktuellen Studien wird das digital phenotyping mit künstlicher Intelligenz und mit der Messung der Hirnaktivität kombiniert. So interessant viele Studienergebnisse auch sind: Der Mensch wird immer mehr zum Datenobjekt, also zum Gegenteil dessen, was Phänomenologie, wovon phenotyping abgeleitet ist, beinhaltete. Man misst den Schatten, den der Mensch wirft, aber nicht den Menschen selbst. Dabei besteht die Gefahr, dass das Schattenbild des Menschen mit dem Menschen gleichgesetzt wird und sich auch betroffene Menschen – und das sind wir alle – mehr mit dem Schatten oder dem Abbild von uns Menschen als mit den Menschen selbst beschäftigen.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist naheliegend. Wird in der Psychiatrie und Psychotherapie der Zukunft die menschliche Person mit ihrem Leib, Empfinden, Fühlen, Denken, Handeln und ihrer Mitwelt im Zentrum stehen oder wird es vermehrt darum gehen, den sichtbaren Körper und das objektivierbare Verhalten in der bestimmbaren Umwelt zu erfassen und zu beeinflussen? Die Frage ist nicht neu. Sie hat sich schon früher gestellt – allerdings unter anderen Umständen und bei geringeren technischen Möglichkeiten. Die Psychiatrie und die Psychotherapie haben sich meist zu beidem bekannt, allerdings je nach Epoche und je nach Schulrichtung dann doch eher das eine oder das andere bevorzugt und praktiziert.
Man könnte nun davon ausgehen, dass der Selbstbezug des modernen Menschen, mithin das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, wie es im psychologischen Begriff des «Selbst» zum Ausdruck kommt, vor einer Verdinglichung des Menschen schützt. Da bin ich mir aber nicht sicher. In Überforderungssituationen sind Hilfestellungen vielfach erwünscht, die mich erleichtern und nicht noch weiter herausfordern. Viele Menschen, die mit einer Lebenssituation nicht zurechtkommen und in Angst geraten oder bedrückt reagieren, sind froh, wenn sie wie ein Objekt behandelt werden, sei es mit einem Medikament, das auf den Gehirnstoffwechsel einwirkt oder mit einem psychotechnischen Tool, das ihr Verhalten verändert.
Die Verunsicherung vieler Menschen hat aber in der individualistisch und multikulturell geprägten Spätmoderne nicht abgenommen. Vielmehr scheinen Autonomie und Wahlfreiheit den Schwindel der Angst angesichts möglicher Abgründe noch verstärkt zu haben. Das könnte erklären, dass in Psychiatrie und Psychotherapie vermehrt medikamentöse und Verhaltenstherapien und weniger psychoanalytische Therapien gewünscht werden und zur Anwendung kommen. Jedenfalls stelle ich wie viele andere Therapeuten fest, dass mehr Menschen als früher ein organisches Verständnis ihrer psychischen Erkrankung haben und entsprechend oft auch nach Medikamenten und Tipps für den Umgang mit ihrer hirnorganisch eingeschätzten Problematik fragen.
Neu ist für mich auch, dass mir Patienten biometrische Daten mitteilen, die sie mithilfe ihrer mit Sensoren bestückten Smartphones oder Uhren gewonnen haben. Sie zeigen mir manchmal auch, wie sie ihre Befindlichkeit und Aktivität an ihren Smartphones oder Uhren ablesen können. Dabei handelt es sich um verrechnete Big Data von eingebauten Mikrocomputern. Gewiss sind es noch wenige Patienten, die sich auf diese Verrechnungen stützen. Es könnte aber auch eine Avantgarde sein, die einen Trend vorausnimmt. Dann würden sich immer mehr Personen an hochgerechneten Zahlen und Daten orientieren als daran, was sie direkt empfinden und fühlen.
Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass solche Messungen und Big Data einmal auch auf unterschwellige Gefühle und Stimmungen aufmerksam machen können. Aber wird diese aufgezeichnete Affektivität auch wirklich als Gefühl und Stimmung wahrgenommen oder bleibt es beim Daten vermittelten kognitiven Hinweis auf eine Befindlichkeit, die nur mehr virtuell vorhanden ist? Was heisst das für die zukünftige Lebensgestaltung? Können datenvermittelte Kognitionen je die leibliche und affektive Wahrnehmung ersetzen, ohne den Menschen von sich selbst zu entfremden?
Hier zeigen sich Probleme eines modernen Selbstverständnisses, das meines Erachtens auch mit dem modernen psychologischen Selbstbegriff zu tun hat. Darauf möchte ich zum Schluss näher eingehen.
Wir reden zwar umgangssprachlich immer noch von der Seele und in der Fachsprache von der Psyche, haben aber gleichzeitig Abschied genommen von einer Seele, die dem Menschen gegeben ist. Stattdessen denken und reden wir häufiger von dem, wie wir uns zu uns selbst verhalten – und meinen damit ein Selbst, das wir weniger sind, als dass wir es ständig neu zu bilden haben. Dieser Wechsel von der Seele zum Selbst ist kategorialer Art. Wir sind uns nicht mehr gegeben, sondern haben uns selbst zu erschaffen oder zu verwirklichen. Wir schätzen uns auch vermehrt als autonom bzw. von uns selbst abhängig ein. Das kann uns nicht nur selbstbewusster, sondern bei Schwierigkeiten auch verletzlicher machen.
Diese kulturbedingte Entwicklung des Selbstverständnisses verändert auch unsere psychischen Probleme (vgl. Ehrenberg, 2010). Waren früher Schuldgefühle bei Depressionen vorherrschend, so sind es heute Selbstwertprobleme. Selbstregulation, Selbstakzeptanz, Selbstermächtigung und Selbstmitgefühl sind denn auch zu psychotherapeutischen Schlagworten geworden. Wird das «Selbst» als Einstellung zu sich selbst – genauer als Summe aller Vorstellungen von sich selbst (Mummendey, 2006) – verstanden, wird mithin von einer Selbstbespiegelung oder einer Selbstreflexion (einem wahrnehmenden Ich und einem wahrgenommenen Mich) ausgegangen, dann bleiben wir einem Dualismus von Subjekt und Objekt verhaftet. Der Geist, mithin das Subjekt oder das Ich, erkennt den Körper und das Seelische als Objekt. Dieser Dualismus entspricht einem Geist – Körper oder einem Mind – Brain Dualismus, wenn auch nach innen gewendet. Weil der Mind oder der Geist, so verstanden, Körperliches und Seelisches erkennen kann, vermag er auch Entscheidungen zu treffen. Darauf basiert weitgehend die verbreitete Vorstellung einer menschlichen Autonomie. Denn wäre der Mensch nur materiell, gäbe es auch keinen freien Willen.
Nun ist aber das menschliche Selbstbewusstsein, das das Selbst voraussetzt, nicht nur reflexiver Art, mithin nicht nur geistiger Natur. Es hat auch präreflexive Anteile. Das zeigt sich besonders eindrücklich bei psychischen Krankheiten (worauf ich detaillierter in meinem Buch Krise des Selbst [2022] eingehe). Als Psychiater und Psychotherapeut hat sich mir die Rückführung des «Selbst» auf präreflexive und reflexive Anteile aufgedrängt, weil psychisch kranke Menschen nicht nur in Bedrängnis durch überfordernde oder unrealistische Selbstbilder (reflexiver Art) kommen, sondern manche Krankheiten auch mit einer Beeinträchtigung des leiblichen und affektiven (präreflexiven) Selbstgefühls einhergehen. Präreflexiv beeinträchtigte Menschen empfinden sich körperlich verändert. Sie spüren sich meist weniger und empfinden oft eine innere Leere, manchmal gleichzeitig mit quälender Unruhe. Auch ihr Gefühlsleben ist abgeschwächt, wie erkaltet oder dumpf. Das kann dazu führen, dass sie sich wie entfremdet empfinden.
Konsequenterweise möchten sie vor allem in ihrem veränderten Erleben verstanden werden. Auch wenn keineswegs ausgeschlossen ist, dass eine psychosoziale Problematik diese Leidensform ausgelöst hat oder weiter unterhält, kann therapeutisch über diese wesentliche präreflexive Veränderung nicht hinweggesehen werden. Sie hat sogar im Vordergrund zu stehen. Ist das körperliche und seelische Selbsterlebens, mithin das präreflexive Selbstbewusstsein wesentlich beeinträchtigt, sind die psychischen Folgen nicht nur anders, sondern oft auch weitreichender als diejenigen eines belastenden oder konflikthaften Selbstbildes. Deshalb sind auch die therapeutischen Ansätze an die vorherrschende präreflexive Problematik anzupassen.
Tatsächlich ist das Selbsterleben bei schwer depressiven Menschen so geschwächt, dass sie sich nicht mehr richtig spüren können. Der Schriftsteller Adrian Naef (2003), der eine lange dauernde und tiefe Depression durchgemacht hat, vergleicht diesen Verlust der Lebendigkeit mit dem Ausrollen eines Autos, nachdem das Benzin ausgegangen ist oder mit einem Untoten im Reich der Lebenden. Die affektive Leere und der Verlust der Sinnlichkeit führen dazu, dass sich ein schwer depressiver Mensch manchmal wie eine seelenlose Maschine, wie ein Schatten seiner selbst oder sogar wie eine lebende Leiche erfährt, eben wie tot mitten im Leben. Dabei bleibt es aber nicht. Das Hirn arbeitet weiter und stellt tausend Fragen, die alle nicht lösbar sind. Hoffnungslosigkeit stellt sich ein. Dabei muss das Denken nicht verwirrt sein, sondern kann vielmehr mit logischer Stringenz auf den erfahrenen Abgrund und die düstere Zukunft ausgerichtet sein. Auch wenn Störungen des Denkens und Erinnerns auftreten, sind sie in der Regel nicht Ursache, sondern hauptsächlich Folge und Ausdruck der depressiven Devitalisierung.
Denn der schwer depressiv erkrankte Mensch nimmt bewusst wahr, was er verloren hat. Er stellt seinen Gefühls- und Antriebsverlust auf vernichtende Art fest. Diese bewusst erfahrene Ohnmacht verändert auch seine reflexive Selbsteinschätzung. Um angesichts einer abgründigen Leere überhaupt noch jemand zu sein, kann ein ins Extreme gesteigertes negatives Bild seiner selbst entstehen (zum Beispiel die wahnhafte Vorstellung, ein Simulant, Lügner oder Verbrecher zu sein). Aber das präreflexive Selbstbewusstsein geht auch in tiefer Depression nicht ganz verloren. Sonst könnte der depressive Mensch keine Bedrücktheit und Verzweiflung bewusst wahrnehmen. Doch der Charakter seines Erlebens verändert sich. Das Leben verliert an Farbe, wird grau und dunkel. Gefühle können kaum mehr empfunden werden. Auch schwer zu ertragende Gefühle wie tiefe Traurigkeit fehlen, sodass Tränen nicht mehr fliessen können. Wenn Traurigkeit vereinzelt dennoch auftritt, so ist sie nicht depressionsbedingt, sondern ein Zeichen von Vitalität, gleichsam eine Insel im sonst landlosen Meer.
Nur von affektiver Leere zu sprechen, wird dem depressiven Leiden allerdings nicht ganz gerecht. Depression ist auch eine Last, die als schwer und niederdrückend erfahren wird. Dazu kann das Bewusstsein des Verlusts an bisheriger Lebenskraft beitragen. Schwer depressive Menschen schildern uns aber noch eine andere Belastung. Sie erfahren sich ins Leben geworfen, ohne es gestalten zu können. Sie möchten sich im Leben verwirklichen oder fühlen sich verpflichtet, bestimmten Aufgaben nachzukommen, stellen aber fest, dass sie keine Möglichkeit haben. Ebenso schlimm ist die Erfahrung, zwar grundsätzlich frei entscheiden zu können, aber zu einer Entscheidung überhaupt nicht fähig zu sein.
Die vitale Willenshemmung wird von vielen depressiven Menschen auch deshalb als so belastend erfahren, weil sie dadurch behindert werden, autonom zu sein. Diese spezifisch moderne Problematik ist aber nur Teil eines grösseren Problems. Es wird das menschliche Grundbedürfnis frustriert, aktiv tätig zu sein, das bereits Kleinkinder haben, wenn sie Dinge ergreifen und sich auf die Umwelt ausrichten. Mit dem Gefühlsverlust und der Aktionshemmung verlieren depressive Menschen eine sinngebende Bezogenheit auf die Umwelt. «Ich lebe nicht, ich werde gelebt», sagt ein Kranker. Viele anderen würden ihm wohl beipflichten, weil sie den Eindruck haben, nicht mit Leib und Seele tun zu können, was sie sich eigentlich wünschen. Man kann in altertümlichem Deutsch auch treffend sagen: Sie «wesen» nur. Es fehlt ihnen, was das Leben erfüllend macht. Manche leiden auch daran, dass sie überhaupt am Leben sind. Diese existenzielle Tiefe des Leidens geht über das Leiden an einem Verlust hinaus. Es zeigt, dass bloss zu sein, dem Leben keinen Sinn gibt.
Aus der Begleitung vieler depressiver Menschen schliesse ich, dass die Schwierigkeit, sie zu verstehen, oft weniger in ihrem negativen Denken als im Verlust ihrer Affektivität und ihrer Vitalität liegt. Dieser Verlust macht das emotionale Mitschwingen für andere sehr schwierig, umso mehr, als durch die generelle Verlangsamung depressiv erkrankter Personen auch die leib-seelische Resonanz beeinträchtigt wird. So ist in Untersuchungen an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wiederholt nachgewiesen worden, dass die Muskelkraft, die Mimik und die Stimme desto mehr geschwächt sind, je schwerer eine Depression ist (Hell, 2013). Meines Erachtens weist nun diese bittere Erfahrung schwer gehemmt depressiver Menschen daraufhin, dass es gerade in Psychiatrie und Psychotherapie wichtig ist, das «Selbst» nicht nur kognitiv und damit reflexiv zu verstehen, sondern auch leib-seelisch bzw. präreflexiv zu bedenken.
Es ist ja nicht so, dass in der Selbstentwicklung des Menschen das reflexive das präreflexive Selbstbewusstsein ablösen würde. Das präreflexive Selbstbewusstsein geht zwar in der Entwicklung dem reflexiven voraus. Das neugeborene und einjährige Kleinkind kann sich reflexiv noch nicht erkennen, ist aber offensichtlich seiner gewiss. Aber das präreflexive Selbstbewusstsein ist deshalb nicht auf die Kindheit beschränkt. Es bleibt im ganzen Leben die unabdingbare Grundlage für die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Das Nachdenken über sich selbst, die Entwicklung eines Selbstkonzepts oder eines Selbstbilds wie auch die Selbstbeurteilung benötigen das präreflexive Selbstbewusstsein als ihre Basis, nämlich als ein Bewusstsein von sich. Der Mensch könnte sich keine Gedanken über sich machen, wenn er sich nicht schon vorbegrifflich seiner selbst bewusst wäre. Trotzdem ist die Selbstreflexion von grösster Bedeutung. Wie ein Mensch im sozialen Spiegel von Mitmenschen anerkannt wird und wie er sich darin wiedererkennt, hat Einfluss auf seine Selbsteinschätzung. Auch wie er ein eigenes Gefühl, etwa seine Traurigkeit oder sein Sichschämen, beurteilt, hat Einfluss auf sein weiteres Fühlen. Die Reflexion kann einen Menschen bestärken, aber auch hemmen.
Dabei zeigt sich eine zweite Gefahr des modernen reflexiven Selbstverständnisses. Es erhöht die Fallhöhe des Scheiterns. Was man von sich denkt und von anderen erwartet, kann enttäuscht werden. Viele epidemiologische Hinweise sprechen dafür, dass die Ansprüche an sich selbst, die eigenen Ansprüche an andere sowie die Erwartungen von Eltern an ihre Kinder in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen sind. Damit ist aber auch das Enttäuschungspotenzial grösser geworden. Die moderne Soziokultur legt Wert auf Selbstverantwortung. Dazu trägt insbesondere die Individualisierung bei, die vom Menschen grössere Unabhängigkeit fordert, als es in der früheren Wir-Gesellschaft der Fall war. Je unabhängiger jedoch ein Mensch zu sein hat, desto grössere Bedeutung bekommt der reflexive Selbstbezug.
Der Mensch ist aber infolge der hochgradigen Individualisierung nicht nur stärker auf sich bezogen. Er ist auch vermehrt darauf angewiesen, zu sich Sorge zu tragen und sich zu achten. Dies wiederum ist keine Aufgabe, die er losgelöst von der Mitwelt bewältigen kann. Selbstachtung hängt stark von der Achtung ab, die man von anderen Menschen bekommt. Auch Selbstvertrauen ist weitgehend davon abhängig, wie weit andere Menschen ihm vertrauen und etwas zutrauen. Damit bleibt eine Abhängigkeit bestehen, die der moderne Mensch nicht einfach abschütteln kann. Er vermag diese Zusammenhänge zwar reflexiv zu erkennen, kann aber damit seine präreflexive Abhängigkeit nicht durchbrechen. Der Selbstbezug ist durch die Individualisierung nicht nur wichtiger, sondern auch komplexer und in vielem undurchsichtiger geworden. Das erhöht seine Verletzlichkeit. Spricht doch vieles dafür, dass die Frage der Selbstachtung heute nicht nur wichtiger geworden ist, als sie schon immer war, sondern dass auch die Gefahr des Scheiterns an idealisierten Selbstbildern zugenommen hat.
Ein weiterer Grund für die vermehrte Beachtung des reflexiven Selbstbewusstseins dürfte darin liegen, dass Menschen heute immer weniger mit den Händen arbeiten und immer stärker mental und kommunikativ gefordert sind. Während bis vor 50 Jahren (in der Industriegesellschaft) die körperliche Arbeit ganz im Vordergrund stand – was hauptsächlich zu körperlichen Berufskrankheiten führte –, ist heute (in der Dienstleistungsgesellschaft) wichtiger geworden, wie sich Menschen selbst verstehen und repräsentieren. Eine Folge davon ist die enorme Zunahme von Burnout und Depression als Berufskrankheiten. Diese Verlagerung von körperlichen Arbeiten zu mentalen Tätigkeiten hat das Schwergewicht von präreflexiven körperlichen Fähigkeiten zu kognitiven Herausforderungen verschoben. Damit hat aber indirekt auch die reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst an Bedeutung gewonnen.
Mit der Konzentrierung auf das «Selbst» wächst allerdings auch die Gefahr, dass sich Menschen überfordern. Wenn die präreflexive, wie selbstverständliche Einbettung in eine Gemeinschaft brüchiger ist und das «Wir» tendenziell weniger trägt, ist das «Ich» vermehrt herausgefordert. Damit wächst aber die Gefahr, dass – psychologisch ausgedrückt – die Diskrepanz zwischen Selbstideal und Realität grösser wird. Dann kann sich das frühere neurotische Unglück einer patriarchalischen Gesellschaft des «Du sollst» in ein neoliberales Unglück der Selbstüberforderung des «Ich kann» verwandeln.
Ich denke, dass hier das Grundproblem des modernen Selbstkonzepts als Verhältnis zu sich selbst liegt. Es berücksichtigt nicht oder zu wenig, dass unsere Affektivität, aber auch unsere Sprache und damit unser Denken einen zwischenmenschlichen Bedeutungszusammenhang hat. Es gibt keine verständliche Privatsprache. Die kleinste Artikulation eines Gefühls oder Gedankens macht von kulturellen und damit überindividuellen Bedeutungen Gebrauch. Das Selbst ist deshalb nicht nur mit individuell erfassten Daten zu entschlüsseln, auch nicht mit Big Data. Wenn ein Leiden nur als faktischer, objektivierbarer Zustand erfasst wird, wird das Wesentliche übersehen. Leiden ist ein Aufschrei. Auch stummes Leiden zeigt sich mimisch, stimmlich und gestisch dem Mitmenschen – in einer Weise, die evolutionär und kulturell abgestimmt ist.
Es stellt sich mir deshalb die drängende Grundfrage: Wird die Psychiatrie und Psychotherapie der Zukunft leidvolle Gefühle wie Angst, Bedrücktheit und Ekel nur zu beseitigen suchen? Oder wird sie im Leiden der betroffenen Menschen auch eine Botschaft hören, ihnen bei der Bewältigung der zugrunde liegenden Lebensschwierigkeiten zu helfen? Wird sie den Mut und die Geduld aufbringen, den wachsenden Komplexitätsgrad menschlicher Schwierigkeiten – angesichts zunehmend fragiler Lebenssituationen und fragmentierten Identitäten – nicht auf ein blosses Symptommuster zu reduzieren? Wird sie dafür auch kämpfen angesichts des wachsenden wirtschaftlichen Drucks?
In der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren ein spiritueller Ansatz der Achtsamkeit verbreitet. Er zeugt vom verspürten Mangel vieler Menschen an einer einerseits verdinglichten und andererseits virtualisierten Welt. Dieser seelische Mangel führt immer mehr Menschen dazu, sich mithilfe von meditativen Methoden achtsam zu fühlen. Das macht Sinn und trägt bei bestimmten Problemen nachweislich zur Erleichterung bei. Die aktuelle Verbreitung des meditativen Ansatzes in der Psychotherapie und insbesondere in der Verhaltenstherapie westlicher Länder dürfte noch dadurch gefördert worden sein, dass die hier angewandte achtsamkeitsbasierte Therapieform die Selbstzentrierung moderner Menschen berücksichtigt. Es geht dabei nicht um den Bezug zu einem Du, sondern um die Beziehung zu sich selbst. Dabei wirkt sich aus, dass das moderne Verständnis des «Selbst» ein grundsätzlich anderes ist als das «Selbst» östlicher Religionen und des Buddhismus, aus dem diese Meditationspraktiken ursprünglich stammen. Werden diese Praktiken allerdings vor allem gebraucht, um den Alltagsstress besser zu bewältigen und um effektiver arbeiten zu können, so geht der spirituelle Moment verloren. Dann kann sich ein Mensch noch mehr im Kokon der Selbstzentrierung und des Selbstbewusstseins verlieren.
Das präreflexive Selbstbewusstsein kann deshalb nicht die letzte Antwort sein, um – losgelöst von Reflexionen und der Begegnung mit einem Du – den heutigen Herausforderungen gerecht zu werden. Gerade in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung steht die zwischenmenschliche Beziehung im Mittelpunkt. Sie kann durch keine Methode ersetzt werden.
Ehrenberg, A. (2010). Das erschöpfte Selbst. 4. Aufl. Berlin.
Hell, D. (2013). Depression als Störung des Gleichgewichts. 2. Aufl. Stuttgart.
Hell, D. (2022). Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst. Basel.
Mummendey, H. D. (2006). Psychologie des «Selbst». Göttingen.
Naef, A. (2011). Ein schamloser Blick auf die Dame in Schwarz. Zürich.
Stone, M. B., Yaseen, Z. S., Miller, B. J., Richardville, K., Kalaria, S. N. & Kirsch, I. (2022). Response to acute monotherapy for major depressive disorder in randomized, placebo controlled trials submitted to the US Food and Drug Administration: individual participant data analysis. BMJ, 378. https://doi.org/10.1136/bmj-2021-067606
The challenge of psychiatry and psychotherapy facing the crisis of modern self-understanding
Abstract: Psychiatry and psychotherapy are particularly dependent on the prevailing culture. In the last half century, during which the author has worked as a university professor, clinic director and therapist in private practice, psychiatry and psychotherapy have changed in many ways. Taking into account the changes in society and the related changes in the human self-image, the book deals with the changes in the forms of mental illness. Already today, a tendency towards the reification of feelings and an increased preoccupation with self-worth can be observed. For example, feelings of guilt have become rarer in severely depressed people today. At the same time, depressed people wrestle more often with slights and injured self-worth. The «self» is also mainly understood reflexively like an object. Pre-reflexive, as it were bodily-mental parts receive little attention in psychotherapies as well. This tendency could be further strengthened by digitalization with Big Data. This makes it all the more important to deal with the future of psychiatry and psychotherapy, also in knowledge of their history.
Keywords: psychiatry, psychotherapy, culture, society, psychiatric reform, individualization, alienation, depression
La sfida della psichiatria e della psicoterapia di fronte alla crisi della moderna percezione del sé
Riassunto: La psichiatria e la psicoterapia dipendono fortemente dalla cultura dominante. Nell’ultimo mezzo secolo, durante il quale l’autore ha lavorato come professore universitario, direttore di clinica e terapeuta in uno studio privato, la psichiatria e la psicoterapia sono cambiate sotto molteplici punti di vista. Tenendo conto dell’evoluzione della società e dei correlati cambiamenti nella percezione umana del sé, vengono affrontati i cambiamenti nelle forme della malattia psichica. Oggi stesso si osserva una tendenza alla materializzazione dei sentimenti e un maggiore confronto con l’autostima. Così, i sensi di colpa sono diventati più rari nelle persone gravemente depresse. Allo stesso tempo, le persone depresse lottano più spesso contro offese e autostima lesa. Anche il «sé» viene principalmente inteso in modo riflessivo, come un oggetto. Le parti pre-riflessive, per così dire fisico-mentali, ricevono poca attenzione nelle psicoterapie. Questa tendenza potrebbe essere ulteriormente rafforzata dalla digitalizzazione con i big data. Tanto più importante è, quindi, affrontare il futuro della psichiatria e della psicoterapia anche con la conoscenza della sua storia.
Parole chiave: psichiatria, psicoterapia, cultura, società, riforma psichiatrica, individualizzazione, alienazione, depressione
Der Autor
Prof. Dr. med. Daniel Hell ist emeritierter Psychiatrieprofessor der Universität Zürich. Von 1991 bis 2009 war er Direktor an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sein Spezialgebiet sind Depressionen. Seit 2009 ist er an der Privatklinik Hohenegg in Meilen tätig. Er ist Autor mehrerer Fach- und Sachbücher, die zum Teil in acht Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschien 2022: Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst (www.daniel-hell.com).
Kontakt
1 Dieser Beitrag beruht auf dem überarbeiteten und gekürzten Manuskript meines Vortrags am 5.11.2022 am C. G. Jung-Institut Zürich im Rahmen der Tagung «Psychotherapie und Gesellschaft in unruhigen Zeiten».