Editorial

Psychotherapie-Wissenschaft 13 (2) 2023 5–6

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-2-5

In dieser Ausgabe finden sich mehrere Beiträge, die für die Psychotherapie und die Forschung eine dringend nötige Perspektivenerweiterung vornehmen. Während die Perspektive der individuellen Psychotherapie vornehmlich introvertiert ist, gründen die beiden ersten Beiträge zugleich auch in der Extraversion, d. h. an jeweiligen äusseren Umständen der Patient*innen und Therapeut*innen. Damit rückt der ganze Kontext in den Blickwinkel der Psychotherapie. Das Heft enthält empirische und qualitative Forschungsarbeiten sowie zwei spannende Diskussionsbeiträge zur Forschungspolitik.

Im ersten Beitrag bringt die Psychotherapeutin Christa Futscher Zitate C. G. Jungs aus den 1930er-Jahren mit Zitaten des Psychotherapieforschers Bruce Wampold (2011 und 2017) in Beziehung und bezieht ihren jeweiligen persönlichen und kulturellen Kontext mit ein. Die Frage ist, wie und ob sich altes mit neuem Wissen verbinden lässt, und sie wird abgehandelt an der Variablen des Wirkfaktors «Persönlichkeit der Therapeut*innen». Damit rückt die therapeutische Beziehung in den Vordergrund basierend auf einem kontextuellen Modell der Psychotherapie, wie es von Wampold vertreten wird. Spannend ist, dass die Autorin nicht, wie man es erwarten würde, von der therapeutischen Sichtweise ausgeht, sondern qualitativ soziologisch vorgeht und sich dabei auf den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Verfremdung abstützt, wie er an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien verwendet wird, und über den in dieser Zeitschrift (bzw. ihrer Vorgängerin) auch Arbeiten erschienen sind, wie z. B. Kurt Greiner (2007). Ein praktischer Wert dieser Arbeit besteht einerseits darin, dass ihre Erkenntnisse für die Aus- und Fortbildung der Psychotherapeut*innen anwendbar sind, und anderseits für den wissenschaftlichen Schulenvergleich, für den dieses methodische Vorgehen auch produktiv wäre.

Der zweite Beitrag, «Erschöpfungsdepressionen. Zur zeitlich-dynamischen Erfassung von Krankheitsverläufen» stammt vom soziologischen Forscher Stefan Paulus. Während Futscher eine Brücke zur Soziologie schlägt, schlägt Paulus eine Brücke von der Soziologie zur Psychotherapie, indem er sich mit seiner empirischen Arbeit auf Günter Schiepek bezieht, dessen Ansatz auch in dieser Zeitschrift publiziert wurde (2020, 2022). Um gleich mit ihrem praktischen Wert zu beginnen, führt Paulus’ Arbeit die Wichtigkeit der sozialen Situation unserer Patient*innen vor Augen. Dem Einbezug der sozialen Situation der Patient*innen sollte in der Psychotherapie dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt werden wie der introvertierten Sicht auf deren Innenwelt. Wir leben in einem Netzwerk von Innen und Aussen. Zum praktischen Wert dieser Arbeit gehört auch die Darstellung der archetypischen, resp. generischen systemdynamischen Modelle, als auch ihre Nutzungspotenziale für die Psychotherapie. Ihre Begrifflichkeit lässt sich in die Behandlung einbringen, um sozialen Problemen einen griffigen Namen zu geben. Bekanntlich müssen Probleme benannt werden können, um mit ihnen produktiv umgehen zu können.

Jos Dirkx und Jolien Zevalkink präsentieren eine Pilotstudie aus den Niederlanden, wo sie mit mehreren empirischen Messinstrumenten in Interviewform die Veränderungen der Qualität von Objektrepräsentationen im Verlauf von psychoanalytischen Therapien erforschten. Nebst dem Fokus auf Strukturveränderungen interessierte sie auch die Veränderung der psychopathologischen Belastung innerhalb derselben Periode. Sie zeigen auf, dass solche Veränderungen in der Tat erfolgen, und empfehlen zum Monitoring solcher Veränderungen den Einsatz dieser Skalen auch in der therapeutischen Praxis mittels halbstrukturierten Interviews. Der Beitrag wird auf Englisch und Deutsch publiziert.

Erstmals haben wir einen französischsprachigen Beitrag erhalten, den wir in der Originalsprache publizieren. Für die deutschsprachige Leserschaft gibt es eine längere Zusammenfassung. Hubert de Condé, Jochem Willemsen und Emmanuelle Zech, Forschende an der katholischen Universität Louvain in Belgien, gehen der Frage nach, wie persönliche und berufliche Entwicklungswege erfahrener Psychotherapeut*innen aussehen. Sie untersuchen die Bedeutung der Psychotherapieausbildung bei der Entwicklung beruflicher Kompetenzen. Die Autor*innen führten anhand einer gut begründeten Stichprobenbildung in zwei belgischen Berufsverbänden mit sieben erfahrenen Therapeut*innen aus verschiedenen Therapierichtungen halbstrukturierte Interviews durch. Die Ergebnisse zeigen, dass persönliche und berufliche Entwicklung nicht voneinander zu trennen sind und die Person des Therapeuten, der Therapeutin im Mittelpunkt des Integrationsprozesses steht. Dieses Ergebnis steht auch im engen Zusammenhang mit den Erkenntnissen Jungs und Wampolds.

Während diese ersten drei Beiträge einer kontextuellen Denkweise verpflichtet sind, wirft Jürgen Kriz mit seinem Beitrag «Humanistische Psychotherapie in Deutschland. Report einer Blockade» einen Blick in den dunklen Abgrund der Unwissenschaftlichkeitspolitik, wenn die Kontexte ausgeblendet werden, wie dies in Deutschland gegenüber der Zulassung der Humanistischen Psychotherapie zum Schaden der Psychotherapie-Bedürftigen geschehen ist. Basierend auf einer veralteten, hierarchischen Denkweise wurde hier ein Gremium von Vertretern einzelner psychotherapeutischen Schulen bestimmt, das darüber entscheiden durfte, welche Schulen als wissenschaftliche Psychotherapien anerkannt werden und welche nicht. So wurde gleichsam der Bock zum Gärtner gemacht. Kriz bezieht sich, wie Wampold, auf eine kontextuelle Denkweise in der Psychotherapie und zeigt, dass das deutsche Modell eine weltweit einmalige Spezialkonstruktion darstellt, die überholt ist.

Heute kann man das glücklicherweise so sehen, die letzten 30 Jahre Berufspolitik waren aber kein Zuckerschlecken und hatten Auswirkungen bis hin auf den Namen unserer Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft. Trotz vieler Versuche deutscher Psychologieprofessoren an schweizerischen Universitäten, das deutsche Modell einzuführen, ist dies nicht gelungen. Einerseits war es die Schweizer Charta für Psychotherapie, die diese Zeitschrift ins Leben gerufen hat, und anderseits die basisdemokratische Schweizer Mentalität und in deren Sinn und Geist die Juristen, die es verhindert haben. Kriz’ Beitrag ist auch ein wichtiges Zeitdokument zur Etablierung der Psychotherapie in der staatlichen Grundversorgung der psychischen Gesundheit. Als wissenschaftlicher Exponent in diesen Auseinandersetzungen verfügt er über Kenntnisse von Zusammenhängen, die zukünftigen Generationen nur schwer erschliessbar sein werden.

Abschliessend votiert Daniel Hell für eine Neuorientierung innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie. Er blickt dabei auf 50 Jahre berufliche Erfahrung zurück, betont, wie Psychiatrie und Psychotherapie stark von der herrschenden Kultur abhängig sind, und beschreibt den kulturellen Wandel und den Wandel in der Psychiatrie im letzten halben Jahrhundert. Allein das macht den Beitrag zu einem wertvollen historischen Zeitdokument. Der Autor kritisiert die zunehmende Verdinglichung der Gefühle, die Biologisierung der Psychiatrie/Psychotherapie und die verstärkte Beschäftigung mit dem Selbstwert, wobei der Begriff des Selbst eine Wandlung erfahren hat und zumeist die Beziehung zu sich selbst meint und nicht mehr ein relationales Selbst, das auf Beziehungserfahrungen und Bedeutung beruht. Diese Tendenz könne durch die Digitalisierung mit Big Data noch verstärkt werden. Umso wichtiger sei eine Auseinandersetzung mit der Zukunft von Psychiatrie und Psychotherapie auch in Kenntnis ihrer Geschichte.

Wir denken, unserer Leserschaft ein spannendes Heft vorgelegt zu haben, und wünschen eine bereichernde Lektüre.

Mario Schlegel & Peter Schulthess

Literatur

Greiner, K. (2007). Psychoanalyse im 21. Jahrhundert: polymorphe Wissenschaft mit Vorbildqualität. Psychotherapie Forum, 15(2), 96–103. https://psychotherapie-wissenschaft.info/article/view/128

Schiepek, G. (2020). Depression – ein komplexes dynamisches System. Psychotherapie-Wissenschaft, 10(2). https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-49

Schiepek, G. (2022). Prozess- und Outcome-Evaluation mithilfe des Synergetischen Navigationssystems (SNS). Psychotherapie-Wissenschaft, 12(1). https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-1-51

Wampold, B. E. (2011). Qualities and actions of effective therapists: Research suggests that certain psychotherapist characteristics are key to successful treatment. NANOPDF. APA. https://nanopdf.com/download/qualities-and-actions-of-effective-therapists_pdf

Wampold, B. E., Imel, Z. E. & Flückiger, C. (2017). Die Psychotherapie-Debatte: Was Psychotherapie wirksam macht. Übers. v. M. Ackert, J. Held, C. Wolfer & J. Westenfelder. Hogrefe.