Wie sehen persönliche und berufliche Entwicklungswege erfahrener Therapeut*innen aus?

Exploration ihrer Erfahrungen

Hubert de Condé, Jochem Willemsen & Emmanuelle Zech

Psychotherapie-Wissenschaft 13 (2) 2023 49–50

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-2-49

Schlüsselwörter: Qualitative Forschung, Therapeut*in, persönliche und berufliche Entwicklung, wichtige Ereignisse

Der Therapeut*innen-Beruf ist ein Beruf, der mit Schwierigkeiten und Hindernissen verbunden ist. Diese Schwierigkeiten beziehen sich auf die Themen, mit denen sich Klient*innen befassen, auf die Bereitschaft, anderen zu helfen, effektiv zu sein und anderen nicht zu schaden. Dieser Beruf erfordert geistige, emotionale und körperliche Energie (Emery et al., 2009; Larsen & Stamm, 2012; Rønnestad et al., 2019; Rønnestad & Skovholt, 2003; Skovholt & Rønnestad, 2003). Das mit COVID-19 verbundene Klima der Pandemie hat auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen geschwächt, indem es insbesondere das Risiko von Depressionen, Angstzuständen und Erschöpfung erhöht hat (El-Hage et al., 2020).

Es stellt sich die Frage, was Menschen dazu befähigt, einen so komplexen Beruf auszuüben, sich weiterhin aktiv darin zu engagieren, ihn im Laufe ihres Lebens fortzusetzen und sich dabei kontinuierlich weiterzubilden (Schwartz & Bryan, 1998). Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, besteht darin, zu untersuchen, was die Entwicklung der beruflichen Kompetenzen im Bereich der psychischen Gesundheit fördert, d. h. die Ausbildung in psychologischen Wissenschaften, Medizin, Beratung oder Psychotherapie (Jennings et al., 2003; Rønnestad et al., 2019). Dieser Artikel untersucht die Rolle der Psychotherapieausbildung bei der Entwicklung der beruflichen Kompetenzen von Psychotherapeut*innen.

Nach nationalen und internationalen Vorschriften und Berufsverbänden ist eine qualitativ hochwertige Ausbildung mit einem Bachelor-Abschluss ergänzt durch mindestens drei bis vier Jahre Zusatzausbildung an Privatschulen, Hochschulen oder Universitäten erforderlich, um einen Abschluss in Psychotherapie zu erhalten (Deurzen, 2001; EPA, 2017). Obwohl es Regeln für die Ausbildung in Psychotherapie gibt, sind der Titel Psychotherapeut*in und die Ausübung der Psychotherapie nicht in allen Ländern geschützt (Van Broeck & Lietaer, 2008). In der Literatur kommen zwei Perspektiven hinsichtlich der Ausbildung von Therapeut*innen vor: eine, die den Schwerpunkt auf die Entwicklung beruflicher Kompetenzen legt, die wir die Perspektive des «kompartimentierten» Selbst nennen (Rief, 2021), und eine andere, die den Schwerpunkt auf die persönliche Entwicklung legt, die wir die Perspektive des integrierten Selbst nennen (Zech et al., 2021). Während viele Forschungsarbeiten den Beitrag von Schulungen zum Lernen und zur Zufriedenheit von Therapeut*innen untersuchen, gibt es nur wenige Forschungen, die sich auf die Person des*der Therapeuten*Therapeutin konzentrieren (Regas et al., 2017; Salter & Rhodes, 2018).

In diesem Artikel beleuchten wir zunächst, was die Literatur über die Integration von persönlichen und beruflichen Aspekten sagt, und untersuchen anschliessend anhand von Interviews mit erfahrenen Therapeut*innen ihre persönliche und berufliche Entwicklung (PPD).

Seit über einem Jahrhundert werden Psychotherapieausbildungen mit unterschiedlichen theoretischen Hintergründen angeboten (Norcross et al., 2011). Diese Ausbildungen werden zunehmend reguliert und sogar obligatorisch, denn man möchte die Praxis der Psychotherapie schützen (Rohr, 2021; Schulthess, 2021). Es ist allgemein anerkannt, dass die Weiterbildung von Therapeut*innen für die Aufrechterhaltung und Erneuerung der beruflichen Kompetenzen von entscheidender Bedeutung ist (Barkham et al., 2021). In der Literatur ist ein aktueller Trend aller Weiterbildungen hin zur integrierten Perspektive zu beobachten (Elliott et al., 2013; Stedmon & Dallos, 2009). Die kompartimentierte Perspektive legt den Schwerpunkt auf die berufliche Entwicklung, während die integrierte Perspektive den Schwerpunkt stärker auf die persönliche Entwicklung legt und die Entwicklung beruflicher Kompetenzen in die persönliche Entwicklung integriert. Was die integrierte und die kompartimentierte Perspektive unterscheidet, ist auf der ersten Seite der Stellenwert der persönlichen Entwicklung der Person des*der Therapeuten*Therapeutin im Vergleich zur beruflichen Entwicklung und auf der anderen Seite der Entwicklungspfad, den der*die Therapeut*in einschlägt. Die kompartimentierte Perspektive markiert eine Tendenz zu linearem, aber auch zirkulärem Lernen im reflexiven Prozess der Therapeut*innen (Bennett-Levy et al., 2009). Die integrierte Perspektive begreift den Weg von Therapeut*innen von Anfang an zirkulär, d. h., das Lernen entwickelt sich zwischen Theorie und Erfahrung über den reflexiven Prozess (Stedmon & Dallos, 2009). Angesichts dieser beiden Arten der Ausbildung von Therapeut*innen stellt sich die Frage, wie sich die berufliche und persönliche Identität von Therapeut*innen im Laufe des Lebens entwickeln.

Die Rekrutierung der Teilnehmenden fand bei belgischen Psychotherapieverbänden statt. Alle Therapeut*innen, die an dieser Studie interessiert waren, nahmen daran teil. Sieben erfahrene Therapeut*innen wurden rekrutiert und anhand einer begründeten Stichprobe befragt (Etikan et al., 2016). Das Ziel war, Teilnehmende mit mindestens zehn Jahren Praxiserfahrung zu rekrutieren, die aus verschiedenen theoretischen Richtungen stammten. Mit dieser Stichprobe wurden halbstrukturierte Interviews von etwa 60 bis 90 Minuten Dauer geführt. Die gesammelten Daten wurden mithilfe einer thematischen Analyse analysiert (Braun & Clarke, 2006; Clarke & Braun, 2017). Diese Forschungsmethode ermöglicht eine Flexibilität, die für die Erforschung und das Verständnis der persönlichen und beruflichen Entwicklung von Therapeut*innen relevant ist, wobei die Integrität des*der Forschende auch bei der Wiedergabe der Ergebnisse gewahrt bleibt (Levitt, 2018).

Bei der Analyse der Interviews wurden Ähnlichkeiten in Bezug auf identische Themen identifiziert. Bspw. sprachen alle Therapeut*innen Aspekte des therapeutischen Settings und des Rahmens an, wodurch das Unterthema «Reflexionen über den Rahmen» geschaffen werden konnte. Anhand der Ergebnisse konnten drei allgemeine Themenbereiche herausgearbeitet werden.

Erstens wurde herausgestellt, dass Therapeut*innen sich auf die Theorie berufen, um ihnen bei der klinischen Argumentation und der Schaffung des therapeutischen Rahmens, sei es intern oder extern, zu helfen. Bedeutende Begegnungen mit Kolleg*innen, Therapeut*innen oder Klient*innen haben Veränderungen in ihrer theoretischen Orientierung begünstigt. Diese Unterthemen machen deutlich, dass Therapeut*innen zwar in einer klinischen Theorie verankert sind, sich aber mehr oder weniger frei zu deren Vorgaben positionieren.

Zweitens wurde das Thema Weiterbildung angesprochen, wobei insbesondere auf die Notwendigkeit von persönlicher Therapie und Supervision verwiesen wurde. Die Stichprobe berichtete über eine gewisse Unzufriedenheit mit der Weiterbildung und kritisierte die Art und Weise, wie an der Universität gelehrt wird, als zu theoretisch und zu wenig erfahrungsorientiert.

Drittens berichteten die Teilnehmenden, dass persönliche Erfahrungen und der Wunsch, den Menschen zu verstehen, sie bei der Ausübung dieses Berufs motivieren. Aus den Interviews ging hervor, dass die Grenzen der Position des*der Therapeuten*Therapeutin akzeptiert werden. Die Therapeut*innen sprachen von Wachsamkeit in Bezug auf ihre Position, denn sie kann subjektive Verzerrungen, ein Gefühl der Übermacht und den Drang erzeugen, wirksam zu sein. Auch ethische Fragen wurden angesprochen, um Klient*innen so angemessen wie möglich zu behandeln. Diese Daten zeigen die Komplexität der täglichen Arbeit als Therapeut*in mit Aspekten der Persönlichkeitsentwicklung und CPD. Dieser Beruf bringt viele Reflexionen und Anpassungen mit sich, die man als Therapeut*in ständig vornehmen muss.

Die Ergebnisse zeigen, dass persönliche und berufliche Aspekte in diesem Beruf integriert und schwer voneinander zu trennen sind und dass die Person von Therapeut*innen im Mittelpunkt dieses Integrationsprozesses steht. Diese Ergebnisse stimmen mit der Literatur zu diesem Thema überein (Barkham et al., 2021; Orlinsky et al., 2011; Rønnestad et al., 2019; Safi et al., 2017).

Diese Studie trägt zu einem besseren Verständnis der persönlichen und beruflichen Entwicklung von Therapeut*innen bei. Ihre Ergebnisse zeigen, dass eine integrierte Perspektive in der Psychotherapieausbildung die Entwicklung der beruflichen und persönlichen Aspekte des Therapeut*innenberufs ermöglicht.

Die Autor*innen

Hubert de Condé ist klinischer Psychologe und Psychotherapeut, Lehrbeauftragter und Doktorand am Institut de recherche en sciences psychologiques (IPSY) der UCLouvain (Katholischen Universität Löwen). Er hat einen Master in klinischer Psychologie, ein Zertifikat in integrierter Psychotherapie und absolviert derzeit eine Ausbildung zum personenzentrierten Psychotherapeuten. Seit 2020 berät er auch als unabhängiger Therapeut in Brüssel und Louvain-la-Neuve.

Jochem Willemsen, Koordinator der Forschungsgruppe, ist Professor für klinische Psychologie an der UCL Leuven und psychoanalytischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Seit 2019 lehrt er an der UCLouvain Klinische Erwachsenenpsychologie und Kriminalpsychologie. Er ist Gründungsmitglied des Single Case Archive, eines umfangreichen Online-Archivs mit veröffentlichten Fallstudien zur Psychotherapie. Vor seiner Berufung an die UCLouvain war er Dozent an der Universität Essex, wo er ein Lehr- und Forschungsportfolio im Bereich der Psychoanalyse, Psychotherapie und klinischen Psychologie aufbaute. Während dieser Zeit war er am Aufbau der neuen Abteilung für psychosoziale und psychoanalytische Studien beteiligt (2017). Mehrere Jahre lang übernahm er die Rolle des Forschungsleiters in dieser Abteilung.

Emmanuelle Zech, Mitglied der Forschungsgruppe, ist ordentliche Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie und Dekanin der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der UCLouvain. 2004 wurde sie auf eine Stelle als Psychologin für Notfälle berufen. Sie war Vorsitzende des Forschungszentrums für das Studium der Gesundheit und der psychologischen Entwicklung (2008–2014) und entwickelte eine Kurs- und Ausbildungslinie für personenzentrierte und erfahrungsorientierte Beratung und Therapie (PCPE) auf Undergraduate-, Graduate- und Postgraduate-Ebene. Sie koordinierte das Labor für personenzentrierte Forschung und Ausbildung (PCLab), unterstützte die Einrichtung einer Online-Lernplattform für Handlungskompetenzen und des IPSY/PSP-Labors für Beziehungskompetenzen.

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