Zur zeitlich-dynamischen Erfassung von Krankheitsverläufen
Stefan Paulus
Psychotherapie-Wissenschaft 13 (2) 2023 39–45
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-2-39
Zusammenfassung: Grundlage für die folgenden Ausführungen bilden die zentralen Bezugspunkte und Ergebnisse des durch den Schweizer Nationalfond (SNF) geförderten Grundlagenforschungsprojekts zu «Psychosozialen Risiken in der Arbeitswelt» (Projekt 10001A_178934) sowie des Innosuisse Projekts «SELBA» (Selbst Arbeitsbelastungen und Arbeitsbeanspruchungen erkennen, verstehen, verändern und monitoren) (Projekt 53268.1 IP-LS) in Zusammenarbeit mit der Psychosomatischen Rehaklinik Gais. Ziel war die Entwicklung einer Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Risiken in der Erwerbs- und Sorgearbeit mit einem besonderen Fokus auf dynamische Interdependenzen zwischen strukturellen Arbeitsbelastungen und subjektiv empfundenen Arbeitsbeanspruchungen. Ein Ergebnis dieses Projektes ist – neben der Entwickelung einer formativen Gefährdungsbeurteilung – die systemdynamische Erfassung und Darstellung psychosozialer Gefährdungen und Krankheitsverläufe von Erschöpfungsdepressionen.
Schlüsselwörter: Gefährdungsbeurteilung, Subjektwissenschaft, Transaktionales Stressmodell, Psychosoziale Risiken, Systemdynamik, Selbstmonitoring
Aktuelle Erkenntnisinteressen in der Arbeitsforschung und der daran beteiligten Disziplinen als auch im psychotherapeutischen Setting liegen darin begründet, zu verstehen, wie Dynamiken von strukturellen Arbeitsbelastungen mit lebenslagenspezifischen Belastungen und subjektiven Bewältigungsstrategien korrespondieren. Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass es für die Früherkennung psychosozialer Risiken sowie Beurteilung von Gefährdungskonstellationen multivariater Sichtweisen und Erkenntnismodelle bedarf (Paulus, 2018, 2022). Aus dieser Ausgangslage leiten sich Forschungsfragen ab, die gleichzeitig auch für diesen Artikel relevant sind:
Mit dieser Fragestellung wurde im Projekt die Wechselwirkungen von erwerbsarbeits-, sorgearbeits- und lebenslagenspezifischen Faktoren mit individuellen Dynamiken sowie risikoreichen Verhaltensentscheidungen untersucht, um ein theoretisches Regelwerk resp. Verhaltensmodelle abzuleiten, die als Grundlage für Gefährdungsbeurteilungen in der Praxis dienen. Auf die partizipative Entwicklung, den Prozess als auch die Anwendung der formativen Gefährdungsbeurteilung wird hier nicht weiter eingegangen (für eine ausführliche Darstellung vgl. Paulus et al., 2023). Im Zentrum dieses Artikels stehen die methodologischen und methodischen Zugänge sowie die Darstellung der archetypischen resp. generischen systemdynamischen Modelle als auch ihre Nutzungspotenziale für die Psychotherapie.
Mittels 18 leitfadengestützter Interviews mit Patient*innen der Rehaklinik Gais sowie fünf Workshops mit Patient*innen, dem gesamten Psychosomatikteam und dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Leitungsteam der Klinik Gais wurden Daten zu subjektiven Sinnkonstruktionen von Wirkungszusammenhängen, gesundheitsgefährdende sowie gesundheitserhaltende Bewältigungsmuster von psychosozialen Risiken gesammelt und ausgewertet.1
Die Entwicklung der Interviewleitfäden stützt sich auf das Konzept der theoretischen Sensibilität (Strauss & Corbin, 1996) und baut auf eine theoretische Fundierung aus der subjektwissenschaftlichen Arbeitsforschung (Paulus et al., 2020) auf. Im Wesentlichen berühren die Interviewleitfragen und Workshops folgende Themenkomplexe: 1. Bedingungen des täglichen Lebens mit Fokus auf Erwerbs- und Sorgearbeitsbelastungen, 2. Bewältigungsstrategien Handlungsmuster und Handlungsbegründung und 3. zeitliche Dimension psychosozialer Belastungssituationen. Ziel ist dabei, die Repräsentativität der risikoreichen Konstellationen und Bewältigungsmuster resp. «Prozessmuster» (Schiepek, 2020) in ihren variierenden Formen zu erfassen. Als zusätzliches Erhebungsinstrument wurden in den Interviews mit Patient*innen als auch in den Workshops zeitliche Verläufe grafisch erfasst. Mittels vorgefertigter 2-Achsen-Diagramme (x-Achse: Zeit; Y-Achse: Erschöpfung) konnten die Teilnehmenden die Entwicklungen spezifischer Merkmale/Variablen nachzeichnen. Diese Zeit-Diagramme dienen 1. dem Erkenntnisinteresse hinsichtlich des Sammelns von Daten zu zeitlichen Krankheitsverläufen und 2. dem Erfassen von Kipppunkten resp. Dekompensationsmomenten im zeitlichen Verlauf einer Erkrankung.
Die Auswertung orientiert sich an den Vorgaben der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2010). Kernstück der Analyse ist die Definition von Kategorien und die Festlegung inhaltsanalytischer Regeln. Ziel dieser Herangehensweise ist es, das Material durch Abstraktion zu reduzieren, sodass wesentliche Inhalte erhalten bleiben. In einem weiteren Schritt wurden für die wichtigsten erkannten Gefährdungsmuster systemdynamische Modelle auf der Basis von Systemarchetypen nach Senge (2006) entwickelt.
Die folgenden Modelle zeigen die wichtigsten Faktoren, Bedingungen, Wechselwirkungen und dynamischen Verhaltensweisen von Krankheitsverläufen bei Erschöpfungsdepressionen. Die zeitliche Dimension der Krankheitsverläufe wurden entlang der in den Interviews geschilderten Ereignisse von Arbeitsbelastungen und den daraus resultierenden Arbeitsbeanspruchungen als auch in einem X-Y-Schema erfasst. Beispielhaft sind in Abb. 1 einige individuelle Darstellungen von Faktoren bei Krankheitsverläufen von Erschöpfungsdepressionen dargestellt.
Abb. 1: Darstellungen von individuellen Krankheitsverläufen
Die Skalierung des zeitlichen Verlaufs wurde dabei von den Teilnehmenden vorgenommen, d. h. es finden sich keine Vorgaben zur Dauer des Krankheitsverlaufs. Die Wahl des Start- bzw. Endpunkts der Krankheitsgeschichte wurde jeweils in den Interviews den Teilnehmenden überlassen. Ein besonderes Augenmerk lag auf ihrer Sicht bezüglich markanter Dekompensationsmomente im zeitlichen Verlauf einer Erkrankung.
In Kombination mit individuell ausgefüllten Verlaufsschemas und in den Interviews und Workshops gemachten Erzählungen werden folgend die wichtigsten Systemarchetypen nach Senge (2006) abgeleitet. Diese systemdynamische Modellbildung veranschaulicht jegliche dynamischen Verbindungen, die durch innere und gegenseitige Abhängigkeiten, Interaktionen, Informationsrückkoppelungen und zirkuläre Kausalitäten geprägt sind (Richardson, 2003). Anhand von logischen Regeln, die in unserem Fall gesundheitsgefährdende strukturelle, symbolische wie individuelle Verhaltensbedingungen und -weisen beinhalten, werden sachintentionale Kausalbeziehungen bzw. (Aktivitäts-)Ursache-Wirkungsrelationen schematisch wie folgt dargestellt:
Als Ergebnis können so Regeln identifiziert werden, die nicht nur in einem Einzelfall, sondern bei einem wesentlichen Teil der Burnout-Betroffenen wichtig sind, um Kipppunkte im Zeitverlauf einer Erschöpfungsdepression zu verstehen. Ob diese Regeln im nomothetischen Sinne richtig oder falsch sind, steht hierbei nicht im Vordergrund, sondern ob die subjektiven Narrationen verallgemeinerte (generische) Aussagen und Erkenntnisse darüber liefern können, wie sich die alltägliche Lebensführung der Individuen in je historisch-konkreten Konstellationen als Möglichkeitsverallgemeinerung von objektiv handlungseinschränkenden oder handlungsermöglichenden Strukturen beschreiben lassen (Holzkamp, 1983).
Beispielhaft wird folgend ein Interview (Abb. 2, Nr. 5) in der schematischen Auswertungsmatrix dargestellt, um einerseits Ursache-Wirkungs-Verkettungen psychosozialer Risiken darzustellen und um anschliessend die wichtigsten Regeln inhaltanalytisch den systemdynamischen Archetypen zuzuordnen. Diese beispielhafte Verkettung wurde als 1. Regel wie folgt beschrieben:
Abb. 2: Auswertung mit Regelinduktionsmatrix
Regel 1: Scheiternde Korrekturen. Wenn man eine hohe Intensität der Führsorge- und Erwerbsarbeit hat und seinen eigenen Bedürfnissen nicht genügend Beachtung schenkt à Dann kann dies körperliche Probleme zur Folge haben à Weil man sich Anforderungen anderer unterordnet und versucht es allen recht zu machen à Aufgrund dessen hat man auch keine Zeit mehr für Pausen oder Freizeit resp. sich selbst.
Diese Regel beinhaltet eine sich selbst verstärkende Dynamik eines sinkenden Energieniveaus. Wir haben die Regel dem Systemarchetypen Scheiternde Korrekturen zugeordnet: Bei diesem Handlungsmuster kommt es zur Anwendung einer Scheinlösung. Statt sich dem Problem der hohen Arbeitsintensität zu widmen, wird ein anderes Problem erzeugt (Unterordnen), das zum Ausbleiben einer effektiven Problemlösung und zusätzlich zeitverzögert zu einer unerwarteten Verschlimmerung des bestehenden Problems führt. Eine Lösung des Scheinproblems kann durch eine Fehlersuche behoben werden. Unveränderte Probleme nach wiederholten Veränderungen deuten auf weitere Scheinlösungen hin.
Im Folgenden werden nun weitere Regeln nach diesem Schema auf der Basis der Auswertung mit der Regelinduktionsmatrix dargestellt:
Regel 2: Grenzen des Wachstums. Wenn man den eigenen Erwartungen an die Arbeit nicht gerecht zu wird, Arbeitsinhalte und Aufgaben nicht genug interessant sind oder man überqualifiziert ist à Dann kann eine berufliche Perspektivlosigkeit eintreten, die weiter zu einem Antriebsmangel führt à Deshalb können Probleme mit Arbeitgebenden auftreten und Arbeitsplatzunsicherheit entstehen.
Dieser Systemarchetyp Grenzen des Wachstums beschreibt einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, der solange sukzessive genährt wird, bis die Nutzungsgrenze erreicht ist. Die Lösung liegt nicht im Haushalten mit limitierten Ressourcen, sondern im Umsteigen auf erneuerbare Ressourcen (Weiterbildung) mit einer Langzeitstrategie (neue Aufgaben oder Jobwechsel), um die Zufriedenheitsrate zu erhalten oder zu steigern.
Regel 3: Ungewollte Gegnerschaft. Wenn sich die Zusammenarbeit von Vorgesetzten und Arbeitnehmeden oder zwischen Paaren schwierig gestaltet à Dann hat das Auswirkungen auf die Beziehung à Weil persönliche Ideale sich erschöpfen oder eine Kluft von Wunsch und Realität entsteht, wenn mehrere Personen keine gemeinsame Vorstellung entwickeln, wie Arbeit organisiert werden kann à Aufgrund dessen verschlechtert sich der eigene Zustand und die Situation in der Familie und/oder Arbeitsstelle.
Dieser Systemarchetyp Ungewollte Gegnerschaft beschreibt eine scheinbar paradoxe Problematik bei einer gegenseitigen Hemmung bei zu enger Kooperation durch die Abhängigkeit von gemeinsamen Ressourcen. Eine Lösung liegt in einer kooperativen Strategie. Diese ist möglich, indem Beziehungen räumlich/sozial getrennt werden, Ziele mit unterschiedlichen Ressourcen erreicht werden können oder Idealvorstellungen angepasst werden.
Regel 4: Zeitverzögerte Balance. Wenn man aufgrund von belastenden finanziellen Verhältnissen oder aus Anerkennungsgründen möglichst schnell oder viele Aufträge annimmt à Dann kann das dazu führen, dass diese zu wenig anspruchsvoll sind oder es zeitverzögert zu einer hohen Arbeitsintensität kommt à Deshalb versucht man durch Vermeidung und oder Überbelastung die Situation zu meistern à Aufgrund dessen verstärkt sich die Frustration bei Kund*innen/Arbeitgebenden und im familiären Umfeld.
Dieser Systemarchetyp Zeitverzögerte Balance beschreibt eine zeitliche Verzögerung aufgrund eines ausgebliebenen angestrebten Zustands, was dazu führen kann, dass über das Ziel hinausgeschossen wird und dadurch eine ungewollte verstärkende Rückkopplung entsteht. Statt eine strukturelle Verbesserung zu entwickeln, wird auf verhaltensmässige Problemlösungsstrategien zurückgegriffen. Durch andauernde symptomatische Problemlösungsstrategien kumulieren sich Nebenwirkungen und neue Probleme entstehen durch die symptomatischen Problemlösungsstrategien. Die Lösung des problematischen Verhaltes liegt im Verständnis der beeinflussenden Faktoren und dem vorsichtigeren Dosieren eigener Handlungen und im regelmässigen Selbstmonitoring, um kurzfristige und symptomatische Bewältigungsstrategien als Scheinlösungen zu entlarven.
Regel 5: Abrutschende Ziele. Wenn man mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat und die Situation anders deutet und kontraproduktiv handelt à Weil man sich keine Hilfe holt oder sich selbst mit Alkohol/Drogen medikamentiert à Dann können sich gesundheitliche Probleme verstärken, soziale Kontakte reduzieren, Freude abnehmen à Weil man Aufgrund von fehlender Erfahrung und Wissen über psychische Erkrankungen Lösungsansätze verfehlt.
Dieser Systemarchetyp Abrutschende Ziele beschreibt über einen Soll-Ist-Vergleich einen handlungsgeregelten und einen erwartungsgeregelten Zusammenhang, der über die Handlungsergebnisse und Zielsetzungen nicht balanciert werden kann. Führen Handlungen nicht in angemessener Zeit zum Erfolg, erhöht sich die Problematik und das Ziel rutscht ab. Die Lösung kann im Absenken von Zielen liegen, aber wenn Ziele erreichbar wären, müssten die Strukturen verändert werden, die den Druck erzeugen.
Regel 6: Eskalation. Wenn bei der Arbeit ein ungünstiges Führungsverhalten herrscht und man Ausbeutung und/oder Gewalt erlebt à Dann kann dies zu Integritätsverletzungen führen à Wenn man der Situation nicht entkommen kann, da man auf Lohn angewiesen ist à Dann versucht man mit Gegengewalt zu antworten oder mithilfe von Schlafmitteln, Alkohol oder Selbsttötung der Situation zu entfliehen.
Dieser Systemarchetyp Eskalation beschreibt eine verstärkende Rückkopplung zweier unheilvoller Verhaltensweisen. Die Eskalation liegt darin, dass ein Verhalten das andere Verhalten dominieren möchte. Die Eskalation kann nur dann vorzeitig beendet werden, wenn beide Seiten sich auf eine gemeinsame Strategie einigen oder eine Seite die Situation sozialräumlich verlässt.
Regel 7: Misserfolg den Erfolglosen. Wenn Kolleg*innen in Konkurrenz um die gleichen begrenzten Ressourcen stehen à Dann wird langfristig die erfolgreiche Strategie noch erfolgreicher à Weil die weniger erfolgreiche Strategie langfristig weniger von den begrenzten Ressourcen zur Verfügung steht à Deshalb kann es bei weniger erfolgreichen Kolleg*in zu einer höheren Arbeitsbelastung und -beanspruchung führen.
Dieser Systemarchetyp Misserfolg den Erfolglosen führt zu einem stetigen Ungleichgewicht von Startbedingungen. Eine Auflösung dieses Musters kann durch eine ausgleichende strukturelle Gerechtigkeit, eine faire Regelung der limitierenden Faktoren oder durch Mobilisierung eigener Ressourcen ermöglicht werden.
Regel 8: Problemverschiebung. Wenn Stress nicht durch die Veränderung eines strukturellen Stressors abgebaut werden kann à Dann können verhaltensmässige Handlungen, wie Arbeitsintensität erhöhen, Vermeidung etc., kurzfristig Entspannung verschaffen à Auf Dauer erhöht sich aber der Stress à Weil die Belastungsgrenze früher erreicht wird.
Dieser Systemarchetyp Problemverschiebung zeigt, dass die eigentliche Ursache eines Problems nicht erkannt oder ausgeblendet wird. Statt eine strukturelle Verbesserung zu entwickeln, wird auf verhaltensmässige resp. symptomatische Problemlösungsstrategien zurückgegriffen. Durch andauernde symptomatische Problemlösungsstrategien kumulieren sich Nebenwirkungen und neue Probleme entstehen durch die symptomatischen Problemlösungsstrategien. Die Lösung liegt im regelmässigen Selbstmonitoring, um kurzfristige und symptomatische Bewältigungsstrategien als Scheinlösungen zu entlarven und darin Verhältnisse, statt das Verhalten zu ändern.
Abschliessend lässt sich festhalten, dass sich auf der Basis dieser Regeln einfache (Aktivitäts-)Ursache-Wirkungs-Modelle entwickeln lassen. Sie erklären Auswirkungen von Arbeitsorganisationsmodellen auf soziale Beziehungen, persönliche Zufriedenheit oder Gesundheitszustand oder sie beschreiben den Umgang mit Problematiken wie Zeitdruck oder Vereinbarkeitskonflikte. Durch die kausale Verknüpfung von system- und psychodynamischen Wechselwirkungen sowie dem Zeitverlauf kann verstanden werden, wie sich erfolgreiche Bewältigungsstrategien (solche, die nicht zu Gesundheitsschäden führen) von Bewältigungsstrategien unterscheiden, die die Situation verschlimmern. D. h., diese Regeln beschreiben bestimmte empirisch ableitbare Regelmässigkeiten und gemeinsame Merkmale von Erkrankungsdynamiken. Hierbei können zusammenfassend die folgenden Typen von Regeln beschrieben werden:
Sobald eine exemplarische Regel inklusive Bewältigungsstrategie abgeleitet wird, kann auch eine spezifische Lösungsstrategie für eine Problematik entwickelt werden. Darüber hinaus schafft die Kenntnis dieser Grundstrukturen die Grundlage zur Darstellung der Wirkungszusammenhänge in Causal Loop Diagrams (CLD). Dies sind digital-interaktive, grafische Versionen der Darstellung von Ursachen-Wirkungszusammenhängen. Im Projekt konnten so Grundstrukturen von Wechselwirkungen im .mdl-Format modelliert werden (Abb. 3).
Abb. 3: Grundstruktur einer Erschöpfungsdepression
Solche Grundstrukturen dienen z. B. dazu, dass Nutzende spielerisch, durch ausprobieren verschiedener Optionen, in vereinfachten Versionen der CLD sich ihr Lebensführungssystem und unterschiedliche Handlungsoptionen erschliessen können. Exemplarisch wird hier das einfache und interaktive CLD-Modell «Risiko Burnout» aufgezeigt (Abb. 4; Stämpfli & Paulus, 2018).
Abb. 4: CLD «Risiko Burnout»
Dieses Modell und weitere interaktive Modelle «Risiko Entgrenzung durch flexible Arbeitszeiten», «Risiko Gleichberechtigung», «Rollenkonflikte» und «Problemverschiebung» sind hier zu erreichen: https://www.ost.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/soziale-arbeit/ifsar-institut-fuer-soziale-arbeit-und-raeume/integration-und-arbeit/work-life-balance-40/wirkungszusammenhaenge.
Derart entwickelte generische Muster haben neben der Veranschaulichung der Folgen bestimmter Handlungen auch einen Wirkungs- und Lerneffekt für Nutzende: Vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) in Bern wurden diese Wirkmodelle evaluiert (Stettler & Gerber, 2021). Hierzu wurden u. a. 323 Personen zu ihrer persönlichen Situation bezüglich Arbeitsbelastungen und zu diesen Wirkmodellen befragt. Einige konnten einen Monat später erneut befragt werden, um zu erfahren, ob sich ihre Wahrnehmung dieses Themas geändert hatte. Grundsätzlich, so Stettler und Gerber (ebd., S. 12ff.), hat die Auseinandersetzung mit den Wirkzusammenhängen bei den Teilnehmenden tatsächlich Effekte ausgelöst. Gemäss 86 % der Teilnehmenden sind die entwickelten Wirkmodelle eine geeignete Form, um Herausforderungen und mögliche Lösungsstrategien aufzuzeigen. In der Nachbefragung gab eine grosse Mehrheit der Befragten an, sich im Zeitraum seit der Hauptbefragung (ca. 1 Monat) Gedanken über die eigene Situation (81 %) sowie über das Thema Work-Life-Balance (56 %) gemacht zu haben. 42 % haben sich mit Personen aus ihrem Umfeld dazu ausgetauscht. Jede*r viert*e Befragte gab an, seit der Nutzung der CLDs die eigene Lebenssituation verändert zu haben (24 %) oder mit dem eigenen Umfeld über konkrete Veränderungen gesprochen zu haben (26 %). Jede*r fünfte Befragte (19 %) sprach mit Vorgesetzten über konkrete Veränderungen der Arbeitsbedingungen.
Die Kenntnis solcher Grundstrukturen resp. -modelle ermöglicht das Erkennen von Gefährdungskonstellationen verschiedenster Arbeits- und Verhaltenssysteme und schafft dadurch eine Grundlage für eine effektive Steuerung des Lebensführungssystems. Die Modellierungen können Hinweise liefern, wie sich einerseits die praktischen Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen als «Möglichkeitsverallgemeinerung» (Holzkamp, 1983, S. 545) beschreiben lassen. Anderseits lässt sich mit diesen Modellen auch beschreiben, welche Lebensbedingungen zum jeweiligen Verhalten von Subjekten objektiv möglichkeits- und handlungseinschränkend sind. Die am Ende resultierenden systemdynamischen Modelle psychosozialer Risiken können als Grundlage für die Einschätzung von Gefährdungen eingesetzt werden, wenn die Beurteilung in einem Prozess einer partizipativen Gefährdungsbeurteilung resp. im psychotherapeutischen Setting stattfindet, um mit Personen an der Rekonstruktion ihrer stressverursachenden Lebenslage zu arbeiten. Eine partizipative resp. durch Subjekte vorgenommene formative Gefährdungsbeurteilung ist allerdings notwendig, da Menschen nicht im Durchschnitt existieren (Markard, 1993) und Stress unterschiedlich verarbeiten (Lazarus, 1999; Paulus et al., 2023). Das Erkennen solcher Wenn-dann-Verbindungen (s. a. Laing, 1989) haben für den psychotherapeutischen Einsatz einen hohen Stellenwert, da sie es ermöglichen, dass Patient*innen selbst Wechselwirkungen von Lebensbedingungen und Reaktionen darauf resp. Handlungsbegründungen erkennen, verstehen und verändern können.
Im Projektverlauf wurden die Erkenntnisse zu den Ursache-Wirkungsrelationen in eine webbasierte formative Gefährdungsbeurteilung übertragen (Paulus et al., 2023) und stehen im Rahmen einer psychotherapeutischen Blendet Therapie als Anwendung zur Verfügung. In diesem Prozess der Gefährdungsbeurteilung können Patient*innen und Therapeut*innen ein individuelles Gefährdungsszenario erfassen. Die App bildet die besprochenen Gefährdungskonstellationen personalisiert ab. Dabei erkunden Patient*innen auf der Basis ihrer Ursache-Wirkungsnarrativen und selbst erfassten Zeitreihendaten zu Arbeitsbelastungen, -beanspruchungen, Bewältigungsstrategien, Ressourcen, individuellen Lebenszielen personalisierte Gefährdungsszenarien, Frühwarnindikatoren und gesundheitserhaltende/-fördernde Szenarien. Sie können sich in der App Ziele setzen und Ressourcen festlegen, die sie braucht, um ein salutogenes Szenario zu erreichen. In einem individuell festgelegten Intervall nehmen sie dann Soll-Ist-Vergleiche vor und wiederholen das Selbstmonitoring (Adhärenz). Die prospektive resp. dynamische bzw. zeitsensible Ausrichtung des individuellen Gefährdungsszenarios erlaubt es ihnen, über die unmittelbare Bewältigung des Alltags hinauszublicken und sich im Hinblick auf einen längeren Zeithorizont (mehrere Wochen, Monate bis Jahre) selbst in ihrem Alltag zu beobachten und Gefährdungen frühzeitig durch Musterkennung resp. durch Frühwarnindikatoren vorwegzunehmen und entsprechend verhaltens- oder verhältnispräventiv vorzugehen.
Holzkamp, K. (1983). Grundlegung der Psychologie. Campus.
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Fatigue depression
On the temporal-dynamic recording of disease progression
Abstract: The following explanations are based on the central reference points and results of the basic research project on «Psychosocial risks in the world of work» (project 10001A_178934) funded by the Swiss National Science Foundation (SNSF) and the Innosuisse project «SELBA» (recognise, understand, change and monitor self-work stresses and work stresses) (project 53268.1 IP-LS) in cooperation with the Psychosomatic Rehabilitation Clinic Gais. The purpose was to develop a risk assessment of psychosocial risks in gainful employment and care work with a special focus on dynamic interdependencies between structural work stresses and subjectively perceived work stresses. One result of this project – in addition to the development of a formative risk assessment – is the system-dynamic recording and presentation of psychosocial hazards and disease processes of fatigue depression.
Keywords: risk assessment, subject science, transactional stress model, psychosocial risks, system dynamics, self-monitoring
Forme di depressione da esaurimento
Registrazione dinamico-temporale del decorso della malattia
Riassunto: Quanto di seguito esposto si basa sui punti di riferimento centrali e sui risultati del progetto di ricerca «Rischi psicosociali nel mondo del lavoro» (progetto 10001A_178934) finanziato dal Fondo Nazionale Svizzero per la Ricerca Scientifica (FNS) e dal progetto Innosuisse «SELBA» (Auto riconoscimento, comprensione, cambiamento e monitoraggio dello stress-lavoro correlato) (progetto 53268.1 IP-LS) in collaborazione con la Clinica di Riabilitazione Psicosomatica Gais. L’obiettivo è stato sviluppare una valutazione dei rischi psicosociali nel lavoro retribuito e nel lavoro assistenziale, con particolare attenzione alle interdipendenze dinamiche tra stress lavorativi strutturali e stress lavorativi percepiti soggettivamente. Un risultato di questo progetto, oltre allo sviluppo di una valutazione formativa dei rischi, è la registrazione basata sulla dinamica dei sistemi e la rappresentazione dei rischi psicosociali e del decorso di forme di depressione da esaurimento.
Parole chiave: valutazione dei rischi, scienza del soggetto, modello transazionale dello stress, rischi psicosociali, dinamica dei sistemi, automonitoraggio
Der Autor
Prof. Dr. rer.pol.habil. Stefan Paulus ist Co-Leiter des Schwerpunkts «Integration und Arbeit» am Institut für Soziale Arbeit und Räume an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen.
Kontakt
Prof. Dr. Stefan Paulus
IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume OST – Ostschweizer Fachhochschule
Rosenbergstr. 59 CH-9001 St. Gallen
stefan.paulus@ost.ch
1 Besten Dank hierzu an Marisa Arn, Jasmin Rabensteiner, Thomas Schmid, Elke Weber, Adrian Stämpfli und Alexander Scheidegger sowie Frank Zimmerhackl und Thomas Egger.