Forschungspraktische Umsetzung
Paolo Raile
Psychotherapie-Wissenschaft 13 (1) 2023 87–84
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-1-87
Zusammenfassung: Die Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (HEP) stellt einen eigenen psychotherapiewissenschaftlichen Ansatz dar. Aufbauend auf einem erweiterten wissenschaftstheoretischen Konzept, das auf Ernst von Glasersfelds Radikalem Konstruktivismus basiert, wird eine Praxeologie formuliert. In der forschungspraktischen Umsetzung werden zunächst ein Phänomen möglichst allgemein, aber dennoch exakt definiert, mehrere psychotherapeutische Ansätze ausgewählt und schliesslich das Phänomen aus der jeweiligen Perspektive betrachtet und die Handlungsmöglichkeiten erarbeitet. Und nicht zuletzt werden die Ergebnisse zusammengefasst und hinsichtlich der persönlich eingeschätzten Viabilität reflektiert.
Schlüsselwörter: Psychotherapiewissenschaft, Praxeologie, Radikaler Konstruktivismus, Schemata, Handlungsmöglichkeiten, Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (HEP)
Im ersten Teil des Fachartikels (erschienen in Psychotherapie-Wissenschaft Heft 2-2022) wurden die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Handlungsmöglichkeiten-erweiternden Psychotherapiewissenschaft (HEP) erläutert. Das Fazit lautet, dass Psychotherapeut*innen in der Praxis versuchen, viabel bzw. zweckmässig zu handeln, also mit ihren Handlungen den Patient*innen zu helfen. Im Zuge ihrer Ausbildung haben sie in der Regel ein psychotherapeutisches Konzept erlernt, das sie auf der Basis ihrer lebensweltlichen Erfahrungen sowie bereits existierenden Schemata assimilierten und darüber hinaus mittels Akkommodation bereits bestehende Schemata adaptierten bzw. neue Schemata entstanden, wo die vorhandenen nicht adäquat waren. So erwarben sie Handlungsmöglichkeiten, die sie in der Praxis umsetzen. Im Zuge des Anwendens und Ausprobierens ebenjener Handlungen machen sie eigene Erfahrungen, wodurch sie manche Handlungen möglicherweise als viabler und andere als weniger viabel betrachten, was sich wiederum auf die dahinterliegenden Konstrukte auswirkt. In Fortbildungen lernen sie zudem neue Schemata und Handlungsmöglichkeiten kennen, integrieren diese in ihr eigenes Konzept und wenden sie an, was wiederum dazu führt, dass sie weitere Erfahrungen erwerben, die wiederum zur Anpassung der Schemata und damit ihres psychotherapeutischen Konzepts führen. Dies passiert nicht immer auf einer bewussten Ebene. Selbst bei beständiger Reflexion und Bewusstmachung des eigenen Verfahrens passen sich Schemata automatisch an verschiedene Erfahrungen an.
Hinzu kommt, dass keine psychotherapeutische Situation wie eine andere ist, wenngleich natürlich bestimmte Elemente einander ähneln, was bspw. etwaige Diagnosen viabel macht, die sich auf ebensolche Elemente beziehen. Menschen haben unterschiedlichste Schemata, die ihre Apperzeptionen, also das, was sie bewusst wahrnehmen, Gedanken, Gefühle, Einstellungen, Werte und natürlich Handlungen prägen. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Patient*innen, sondern auch für Psychotherapeut*innen, bei denen noch ein weiterer Faktor hinzukommt, nämlich die fachlichen Konzepte, die sich, wie erwähnt, ebenfalls von Professionist*in zu Professionist*in unterscheiden. Ausserdem verändert sich jeder Mensch im Laufe des Lebens mit den Erfahrungen, die er*sie macht, es werden also neue Schemata ausgebildet oder manche als viabler bzw. weniger viabel betrachtet. Somit ist jede Psychotherapiekonstellation in ihrer Gesamtheit einzigartig1 – oder mit Heraklits Worten: Es ist nicht möglich, zweimal in dieselbe Psychotherapie einzusteigen.
Um dennoch hilfreich arbeiten zu können, müssen Psychotherapeut*innen sich auf jede einmalige therapeutische Gesamtsituation adäquat einstellen, was eine gewisse Flexibilität erfordert, aber auch Intuition, womit hier spontanes und nicht bewusstes Handeln auf der Basis von einschlägigen erfahrungsbasierten Schemata gemeint ist, die in der Regel auf anderen therapeutischen Situationen aufbauen, in denen einzelne relevante Elemente der jeweils aktuellen Situation ähneln. Darüber hinaus ist es hilfreich, ein möglichst grosses Repertoire verfügbarer (viabler) Handlungsalternativen zur Verfügung zu haben, aus der intuitionsbasiert situationsadäquat gewählt werden kann. Die HEP setzt an jenem Punkt an und bietet hierfür eine Methode an, die aus einer konkreten Situation aussteigt und eine (erweitert radikalkonstruktivistische) externe Position und Perspektive einnimmt, um die vielfältigen psychotherapeutischen Handlungsansätze für jene Situation zu erheben und erforschen. Für die Praktizierenden bedeutet dies: Durch das Kennenlernen verschiedener psychotherapeutischer Verfahren und deren (Be-)Handlungsmöglichkeiten können diese in die eigene Arbeit integriert sowie die Kreativität angeregt werden, selbst neue Vorgehensweisen zu entwickeln und einzusetzen.
Die HEP richtet sich daher primär an Psychotherapeut*innen, die ihren Handlungsspielraum im Sinne der optimalen Patient*innenversorgung erweitern wollen, aber auch an alle Forschende, die psychotherapeutische Konzepte ausserhalb des klinischen Kontextes anwenden. Sei es nun im Rahmen von alternativen Umsetzungsformen wie der Beratung, der Supervision, der Mediation u. a., oder als interpretative Grundlagen wie die Betrachtung und Analyse von Märchen, Filmen oder anderen Texten. Im Grunde sind alle Anwendungen denkbar, in denen ein menschlicher Ausdruck jedweder Art aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Perspektiven betrachtet werden kann und soll. In allen Fällen zeigt sich die Wirkung der HEP im Erweitern der Handlungsmöglichkeiten, wobei Handlung hier nicht ausschliesslich auf die therapeutische Aktion beschränkt ist, sondern auf alle Formen des Tuns, was eben auch das Interpretieren von Texten, das Analysieren von Filmen oder das Beraten von Menschen mit Theorien und Methoden psychotherapeutischer Schulen einschliesst. Selbst das Umlegen der Methode auf Handlungsmöglichkeiten in anderen Kontexten, kultur-, sozial-, aber auch naturwissenschaftliche, wäre grundsätzlich denkbar. Die junge HEP beschränkt sich allerdings zum derzeitigen Zeitpunkt auf die Psychotherapiewissenschaft (PTW).
In den folgenden Kapiteln wird eine konkrete Vorgehensweise vorgestellt, die allerdings nicht als absolutes Skript zu verstehen ist, nach dem die HEP-Forschungspraxis zu erfolgen hat, sondern vielmehr als Vorschlag, der an das jeweilige Vorhaben angepasst werden kann und soll.
Wie in nahezu jeder Forschungsmethode steht die Themenfindung am Anfang der praktischen Umsetzung der HEP. HEP möchte eben Handlungsmöglichkeiten erweitern, was bedeutet, dass am Ende mehrere Vorschläge für alternative Vorgehensweisen hinsichtlich eines spezifischen Phänomens herauskommen sollten. Ein Phänomen entspricht hier einem Element, das in verschiedenen einzigartigen Therapiesituationen in ähnlicher Weise vorkommt.
Ein Beispiel ist das Phänomen Soziale Phobie. Nehmen wir eine Logotherapeutin an, die kurz nach dem Abschluss ihrer Ausbildung in Logotherapie und Existenzanalyse an der österreichischen ABILE, in der sie das Verfahren nach Viktor Frankl erlernte und zudem viele Bücher von Elisabeth Lukas gelesen hat, ein Behandlungskonzept internalisiert hat, das primär Behandlungsmöglichkeiten der beiden genannten Autor*innen aufweist. Nehmen wir weiter an, eine Person, die ihre Praxis betritt, leidet unter dem genannten Phänomen, das wir der einfachen Nachvollziehbarkeit wegen als Soziale Phobie bezeichnen. Auf Basis ihrer Intuition, die auf der geringen bisherigen Erfahrung und den beschränkten Handlungsmöglichkeiten basiert, wird sie nun die Technik der Paradoxen Intention anwenden, unabhängig davon, ob sie die Intervention in der konkreten Situation für geeignet hält. Nehmen wir weiter an, sie wird, Frankl und Lukas folgend, humorvoll agieren, wenngleich dies eigentlich nicht ihrer Art entspricht, da sie zumeist recht künstlich wirkt, wenn sie versucht, humorvoll zu sein. Die hilfesuchende Person wird sich vielleicht nicht ernstgenommen fühlen oder das Gefühl haben, die Therapeutin lacht sie aus. Vielleicht passt die so getätigte Intervention auch zur Situation und ist viabel, führt also zu einem gewissen Behandlungsziel wie die Besserung der Angst. In allen Fällen wird die Psychotherapeutin eine Erfahrung gemacht haben, die sich auf ihr Konzept auswirkt. Wie stark jener Effekt ist, hängt von unzähligen Faktoren ab. Der Punkt des Beispiels ist, dass wenn sie mehrere Handlungsmöglichkeiten kennt und Erfahrungen erworben hat, auch flexibler auf die konkrete Situation reagieren und bspw. anders handeln kann. Sie hätte eine Systematische Desensibilisierung vorschlagen können, die Disidentifikation anwenden, provokativ Arbeiten, Komplexe hinter der Angst analysieren oder auch den bioenergetischen Körperausdruck in ihrer Interpretation und Vorgehensweise berücksichtigen.
Wollen wir also dieses Ziel erreichen, so müssen wir wissen, wie andere psychotherapeutische Konzepte mit dem Phänomen Soziale Phobie umgehen. Hierzu ist es zunächst notwendig, das Phänomen möglichst exakt zu definieren, aber gleichzeitig auch so allgemein, dass keine Fachtermini einzelner psychotherapeutischer Konzepte einen bedeutenden Platz in der Definition einnehmen. So wäre bspw. eine ausführliche Definition abzulehnen, in der sinngemäss ausgesagt wird, dass die Soziale Phobie mit einem Defizit des Selbst und dessen Tendenz zu kompensatorischen Reaktionsbildungen einhergeht. Damit würden nämlich Aspekte der Selbstpsychologie im Verständnis Heinz Kohuts eingebracht werden, womit die Betrachtung der Sozialen Phobie aus der Sicht vieler anderer psychotherapeutischer Verfahren, in der das Selbst nicht existiert oder anders verstanden wird, deutlich erschwert wird. Sollte dies in einzelnen Ausnahmefällen nicht anders möglich sein, so müsste eine gewisse Übersetzungsarbeit geleistet, also bspw. das Selbstkonzept Kohuts in Begrifflichkeiten der anderen im nächsten Schritt auszuwählenden Verfahren ausgedrückt werden. Wenn hingegen die Soziale Phobie als starke Angst vor Kritik, Auslachen, Abwertung oder Ablehnung definiert wird, in der die Betroffenen schliesslich soziale Situationen aus ebenjener Angst meiden, dann könnte diese Definition zwar etwas ausführlicher sein, ist aber allgemein genug, um von allen psychotherapeutischen Perspektiven aus betrachtet zu werden.
Wurde das Phänomen ausreichend exakt und allgemein genug formuliert, geht es im nächsten Schritt an die Auswahl der psychotherapeutischen Konzepte, aus denen es betrachtet wird. Natürlich ist es weder möglich noch sinnvoll, einen Forschungsgegenstand wie die Soziale Phobie aus der Sicht aller verfügbaren psychotherapeutischen Konzepte zu betrachten, zumal bereits im Grundlagentext verdeutlicht wurde, dass jede Person ihr eigenes hat und sich dieses mit der Zeit und den erworbenen Erfahrungen verändert. Wir können hier aber die Begriffe der psychotherapeutischen Schule und des psychotherapeutischen Ansatzes nach Person X einbringen. Ersterer Terminus meint Überschneidungen der einzelnen Konzepte relevanter Vertreter*innen einer Schule in bestimmten Aspekten, wobei die Machtstrukturen innerhalb der Gemeinschaft bestimmen, wer relevant ist und wer nicht. Der zweite Begriff meint ein konkretes Konzept einer Person, das in der Lehre oder mittels Publikationen explizit formuliert wurde.
In einer wissenschaftlichen Arbeit werden v. a. zitierbare Publikationen zu bevorzugen sein. Ziel sollte es daher sein, das verschriftlichte psychotherapeutische Konzept einer bestimmten Person heranzuziehen, das einer spezifischen Schule zugeordnet wird. Ein Beispiel für eine Schule ist die Provokative Therapie, die ursprünglich von Frank Farrelly gelehrt und verschriftlicht wurde. Sie wäre also ein solcher Ansatz. Natürlich ist es keinesfalls notwendig, stets bei den Schulengründer*innen zu verweilen. Ganz im Gegenteil kann es durchaus sinnvoll sein, modernere Ansätze auszuwählen, die derselben Schule zugeordnet werden. Ein Beispiel innerhalb der Provokativen Therapie wären die Werke von Noni Höfner und ihrer Tochter, Charlotte Cordes. Ihr Provokativer Ansatz ist von Farrelly direkt inspiriert – Höfner hat ihn schliesslich mehrere Male getroffen und live erlebt –, ist aber auch nicht mit diesem deckungsgleich, sondern eben durch Veränderungen gekennzeichnet, die ihren individuellen Behandlungsstil widerspiegeln.
Überdies gilt, dass selbst wenn Vertreter*innen streng nach dem Konzept einer anderen Person arbeiten, dies nicht unbedingt tatsächlich so ist. Vielmehr arbeiten sie nach ihrer Interpretation desselben. Liest man Kasts Buch über die Analytische Psychologie nach C. G. Jung, so findet man darin unterschiedliche Schwerpunkte und manch andere Interpretation seiner Theorien als in anderen ähnlichen Büchern über dasselbe Thema. Gerade deshalb kann es sinnvoll sein, mehrere mögliche Verfahren derselben Schule zu betrachten, bevor eine Entscheidung über die Auswahl der Ansätze getroffen wird, die in weiterer Folge in der HEP zum Einsatz kommen sollen.
Zur Auswahl selbst: Es empfiehlt sich, die Zahl der ausgewählten Konstrukte am geplanten Umfang des Textes auszurichten. In einer Bachelorarbeit mit 40 bis 60 Seiten werden kaum mehr als drei ausreichend ausführlich behandelte Ansätze Platz finden – weniger sollten es allerdings auch nicht sein. In einer 250-Seiten-Dissertation können indes zehn bis zwölf angewendet werden – bei entsprechend knapper Darstellung der Theorien auch durchaus mehr. Grundsätzlich sollten die Ansätze nach den Prinzipien der minimalen und maximalen Unterschiede ausgewählt werden, bei deutlicher Tendenz zu Letzteren. Das Ziel ist es schliesslich, möglichst verschiedene neue Handlungsmöglichkeiten kennenzulernen. Bei drei Ansätzen sollten diese also grundverschieden sein, bspw. die Psychosynthese nach Assagioli, die Objektbeziehungstheorie nach Donald Winnicott und die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) nach Eni Becker; bei zwölf ist es dagegen durchaus möglich, auch zwei Vertreter*innen derselben Schule in Hinblick auf die Unterschiede im Vorgehen zu betrachten, also die Individualpsychologie nach Erwin Wexberg anhand seiner Werke aus den 1920er Jahren und die Individualpsychologie nach Bernd Rieken anhand dessen Schriften aus den 2010er Jahren. Vorsicht ist bei Schulen wie der Systemischen Therapie oder der KVT geboten, die Konglomerate zahlreicher einzelner Ansätze sind, die gesammelt und erweitert wurden. Sofern möglich, sollte der Fokus auf ein einzelnes Verfahren im grossen Gebilde gelegt werden. Die Auswahl sollte übrigens nicht nur aufgelistet, sondern auch begründet werden, also warum gerade dieser Ansatz nach jener Person ausgewählt wurde. Dies ist auch für die spätere Reflexion hilfreich.
Am Ende des Auswahlverfahrens sollte noch die konkrete Forschungsfrage formuliert werden, also die Frage danach, wie das Phänomen (in der zuvor erarbeiteten Definition) aus den Perspektiven der konkreten Ansätze betrachtet wird und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben.
Nach dem Finden und Definieren des zu untersuchenden Phänomens, der Auswahl und Begründung der Auswahl der psychotherapeutischen Ansätze und zuletzt dem Formulieren einer Forschungsfrage, gilt es im nächsten Schritt, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Aus rein pragmatischen Gründen wird empfohlen, die verschiedenen Ansätze nacheinander zu bearbeiten, nicht gleichzeitig, da es sehr herausfordernd sein kann, sich in eine einzelne psychotherapeutische Konstruktion zu begeben und die Welt aus ihren Augen zu betrachten, wobei dies sicherlich von Person zu Person und je nach bisherigen Ausbildungen und Erfahrungen unterschiedlich ist. Das gleichzeitige Bearbeiten würde jedenfalls eine deutlich grössere Herausforderung darstellen.
Ist das erste Verfahren ausgewählt, nehmen wir z. B. die Analytische Psychologie nach Verena Kast, kann es losgehen. Zunächst ist es sinnvoll, sich mit den grundlegenden Theorien und Konzepten der Schule vertraut zu machen. Hierzu kann bspw. Primärliteratur etwaiger Schulengründer*innen oder auch von Entwickler*innen einzelner Konzepte innerhalb grosser Schulen wie die Systemische Therapie oder die KVT herangezogen werden, in unserem Beispiel wären das die Werke C. G. Jungs, aber auch ergänzend Sekundärliteratur für ein fundierteres Verständnis der Methode, bspw. diverse Einführungen in die Analytische Psychologie oder entsprechende Lexika und Wörterbücher. Neben den theoretischen Konzepten sollte das Augenmerk hierbei auch auf die praktische Umsetzung der Methode liegen, um die grundlegenden Handlungsmöglichkeiten der Schule kennenzulernen und ein erstes Gefühl für die therapeutische Praxis nach der Schule zu entwickeln. Sinnvoll kann es übrigens bereits an der Stelle sein, einige Seiten der Forschungsarbeit zu verfassen, die bspw. eine kurze Biografie etwaiger Schulengründer*innen bzw. eine kurze Entstehungsgeschichte der Schule enthalten, sowie die Grundideen, Konzepte, Theorien und Techniken bzw. Interventionen auf wenigen Seiten verdichtet. Es kommt nicht darauf an, die Schule möglichst vollständig und umfangreich zusammenzufassen, sondern vielmehr darauf, die zentralen Begrifflichkeiten zu kennen, v. a. mit Blick auf das spätere Umlegen der Theorie auf das Phänomen. Im vorherigen Beispiel kann es also sinnvoll sein, Jungs Biografie, die zentralen Konzepte des Unbewussten, des kollektiven Unbewussten, der Archetypen, der Komplexe und weiterer zu erläutern und eventuell kurz darauf einzugehen, wie Analytische Psycholog*innen in der Praxis arbeiten, bspw. anhand der Techniken der Imagination oder der Traumdeutung. Ein Fokus kann hierbei bereits auf der Behandlung von Ängsten liegen, muss es aber noch nicht. Dies folgt ohnehin im nächsten und v. a. im übernächsten Schritt.
Denn unmittelbar daran anschliessend sollte der Fokus auf das Konzept des*der ausgewählten Vertreter*in und dessen*deren Publikationen gelegt werden, in unserem Beispiel also auf jenes von Kast, das sie in ihren Büchern explizit ausformuliert. Auch hier ist ein Überblick über die Grundlagen des gesamten Konstrukts empfehlenswert, nicht nur hinsichtlich der Unterschiede zum Ansatz etwaiger Schulengründer*innen wie Jung, sondern v. a., um ein Gefühl für die Methode zu entwickeln. Der darauffolgende Hauptteil der Arbeit besteht nämlich darin, sich in den Ansatz hineinzuversetzen und durch dessen Brille das zu untersuchende Phänomen zu betrachten. Wie würde also Kast die Soziale Phobie betrachten? Welche Theorien, welche Konzepte stehen dahinter? Wie werden die Ausdrucksformen der Sozialen Phobie interpretiert? Wie würde sie die Störung behandeln? Je nach Ansatz und Phänomen können die Fragen variieren, sollten sich aber stets nach dem Erforschen der Handlungsmöglichkeiten ausrichten.
Manche der Fragen werden in den Texten möglicherweise direkt und explizit behandelt, so könnte bspw. ein Buch oder ein anderer Fachtext über die Angst von Kast existieren, in der sie die Soziale Phobie sowie die Theorie dahinter und ihre Behandlungsmöglichkeiten direkt beschreibt. In der Mehrzahl der Fälle wird es allerdings notwendig sein, einen eigenen Weg zu finden bzw. zu entwickeln. Hierfür stehen mehrere Hilfsmittel zur Verfügung. So kann die schulenspezifische Fachliteratur anderer Autor*innen nach möglichen Herangehensweisen an das Phänomen durchsucht werden, um sie dann auf die Kompatibilität mit dem Konzept zu prüfen, durch dessen Brille man selbst gerade blickt. Findet man bspw. eine Passage über eine Behandlung einer Sozialen Phobie durch einen anderen Analytischen Psychologen, so könnte man dessen Vorgehensweise auf Kompatibilität mit Kasts Ansatz prüfen und ggf. so umsetzen, dass sie die Handlungsmöglichkeiten formuliert haben könnte. Existieren solche Alternativen nicht, dann besteht die Möglichkeit, vergleichbare Phänomene, die in Kasts Schriften tatsächlich behandelt werden, heranzuziehen, um Aussagen daraus abzuleiten, die sich auf das untersuchte anwenden lassen. Sofern sie also eine andere ähnliche Angststörung, bspw. die Erythrophobie, behandelt, könnte man das Konzept entsprechend modifizieren, wobei darauf geachtet werden muss, dass sie tatsächlich vergleichbar sind. Existiert auch kein Konzept eines ähnlichen Phänomens, deren Aussagen man ableiten könnte, besteht noch ein alternativer Weg, der eine Mischung aus Rollenübernahme und Improvisieren darstellt. Damit ist das Hineinversetzen z. B. in Kast und das Formulieren einer Konzepterweiterung, die auf ihrem Ansatz basiert und von ihr stammen könnte, gemeint. Natürlich ist es auch denkbar, gleich den zuletzt vorgeschlagenen Pfad der Kreativität zu betreten. Hier ist es besonders wichtig, sich in die andere Person, also im aktuellen Beispiel in Kast, hineinzuversetzen, wofür man den Ansatz sehr gut kennen sollte.
Ist auch der Teil gelungen, so sollte am Ende eine Beschreibung des Phänomens aus Sicht des Ansatzes resultieren, wobei natürlich auch zwei oder drei potenzielle Wege existieren können, die jeweils beschritten werden. Hier könnte bspw. im Falle der Sozialen Phobie mit Kast argumentiert werden, dass Komplexe durch konflikthafte bzw. traumatische Beziehungserfahrungen entstehen, die abgespaltet oder verdrängt werden, und sich bei einer Triggersituation konstellieren, also ausgelöst werden, wodurch die Person mit einem lebensgeschichtlichen Überhang reagiert, also heftig und unkontrollierbar. Das Auftreten starker Angstgefühle in Kombination mit einer angstbasierten Überreaktion in bestimmten sozialen Situationen könnte auf einen solchen Komplex hinweisen, auf den man in der Therapie den Fokus legen und bspw. mit der Technik der Traumdeutung entschlüsseln könnte. Ein alternativer Zugang könnte über den Archetypus der zerstörenden Horde verlaufen, dessen Antagonist, der Archetypus der schützenden Gemeinschaft, die Angst lindern kann, wenn man sich auf ihn besinnt. Dieses sehr stark vereinfachte Beispiel soll die Richtung aufweisen, in die eine solche Untersuchung gehen kann. Es sind aber auch unzählige andere Möglichkeiten und kreative Herangehensweisen an die jeweilige Thematik denkbar. An der Stelle scheint abermals der Hinweis wichtig zu sein, dass der Weg hier lediglich ein Vorschlag ist und auch viele andere viable Wege bestehen.
Was mit einem Ansatz geschehen ist, soll nun auch mit den anderen durchgeführt werden. Am Ende soll das Phänomen aus Sicht aller Ansätze betrachtet und die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten erarbeitet worden sein. Damit wäre der Hauptteil geschafft.
Am Ende des psychotherapiewissenschaftlichen Stücks folgt die Reflexion. Darin sollen die Ergebnisse und die Wege dahin kritisch betrachtet werden sowie die Eignung der einzelnen Handlungsmöglichkeiten, das eigene psychotherapeutische Konstrukt zu erweitern. Nicht jeder behandelte Ansatz eignet sich für jede Person. Manche wirken sympathischer, manche weniger, gelegentlich sind es die Autor*innen, die ein Konzept eher ablehnend wirken lassen, und immer wieder finden sich Interventionen, die einander auf irgendeine Weise ähneln. So sind bspw. die Paradoxe Intention, die Paradoxe Intervention, die Symptomverschreibung und die Herausforderungen der Provokativen Therapie einander durchaus nicht unähnlich.
Wird eine Technik positiv und als viabel wahrgenommen, kann sich das auf die Wahrnehmung der anderen Interventionen auswirken. Auch kann und will nicht jede Person einzelne Techniken anwenden. Ich persönlich könnte bspw. keine Systematische Desensibilisierung anwenden, weil ich damit tendenziell Negatives assoziiere, was ich erst durch die Reflexion meiner eigenen HEP-Forschung erkannt habe. Das Ziel ist in jedem Fall, die Handlungsmöglichkeiten kritisch zu beleuchten und v. a. die Hintergründe etwaiger Ablehnung einzelner Vorgehensweisen tiefgehend zu betrachten. Nicht nur einmal hat sich bei mir dadurch eine Antipathie von der Methode auf den*die Autor*in verlagert, weshalb ich die Methode anschliessend bei anderen Autor*innen studiert und festgestellt habe, dass sie doch möglicherweise viabel sind und ich sie in geeigneten Situationen anwenden würde.
Am Ende folgen nun Ratschläge für einen Aufbau der Arbeit. Eine mögliche Struktur der Publikation oder Abschlussarbeit könnte wie folgt aussehen:
Nach einer allgemeinen Einleitung in die Thematik könnte der Theorieteil aus der Aufarbeitung des Phänomens bestehen. Wird in einer akademischen Abschlussarbeit also die Soziale Phobie im Zentrum der Betrachtungen stehen, so könnten im Theorieteil die Diagnostik (ICD-11, DSM-V, OPD-2 etc.), die Ätiologie, die Prognostik sowie psychologische, soziologische oder medizinische Perspektiven darauf behandelt werden. Auch ist es möglich, einige psychotherapeutische Sichtweisen einzubringen, sofern die Ansätze nicht ohnehin im praktischen Teil vorkommen werden. Ziel des Theorieteils ist es jedenfalls, eine Definition, wie in diesem Artikel beschrieben, zu erarbeiten. Der Theorieteil muss dabei nicht übermässig lang sein, aber ausführlich genug, um eine fundierte Einführung in das entsprechend Phänomen liefern zu können.
Im empirischen Teil der Arbeit sollte zunächst die Forschungsmethode, also die HEP, vorgestellt, die Fragestellung explizit formuliert sowie die Ansätze inkl. der Begründung der Auswahl dargelegt werden. Anschliessend habe ich die weiteren Unterkapitel je Ansatz wie folgt strukturiert:
Am Ende der Abschlussarbeit folgen noch Zusammenfassungen und Reflexionen. Einerseits auf der Handlungsebene, also welche Handlungsmöglichkeiten beim Phänomen erarbeitet wurden. Damit soll zugleich die Forschungsfrage beantwortet werden. Und andererseits eine persönliche Reflexion derselben, also wie man selbst jene erarbeiteten Umsetzungen wahrnimmt, und ob sie für die eigene Praxis relevant sind oder sein könnten – das hat schliesslich auch viel mit der einen Person zu tun.
Abschliessend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich die hier beschriebene praktische Umsetzung der HEP in meinem Buch Eco-Anxiety in Psychotherapiewissenschaft und -Praxis exemplarisch umgesetzt habe und verweise gern auf die Monografie für weiterführende Informationen. Alternativ bin ich auch direkt via E-Mail erreichbar, sollten Fragen, Anmerkungen oder Kritik bestehen.
Action-possibility-expanding psychotherapy science (Part 2)
Practical research implementation
Abstract: The action-possibility-expanding psychotherapy science represents a separate psychotherapy science approach. Building on an extended concept of science theory based on Ernst von Glasersfeld’s Radical Constructivism, a praxeology is formulated. In the research-practical implementation, a phenomenon is first defined as generally as possible, yet precisely, several psychotherapeutic approaches are selected, and finally the phenomenon is considered from the respective perspective and the possibilities for action are elaborated. And last but not least, the results are summarized and reflected upon with regard to the personally assessed viability.
Keywords: Psychotherapy science, praxeology, radical constructivism, schemas, possibilities for action, possibilities for action-expanding psychotherapy science
La scienza della psicoterapia che amplia le possibilità di azione (parte 2)
Implementazione pratica della ricerca
Riassunto: La scienza della psicoterapia che si espande con l’azione rappresenta un approccio scientifico separato alla psicoterapia. Partendo da un concetto esteso di teoria della scienza basato sul costruttivismo radicale di Ernst von Glasersfeld, viene formulata una prassi. Nell’implementazione della ricerca-pratica, un fenomeno viene prima definito nel modo più generale possibile, ma preciso, vengono selezionati diversi approcci psicoterapeutici, e infine il fenomeno viene considerato dalla rispettiva prospettiva e vengono elaborate le possibilità di azione. Infine, ma non per questo meno importante, i risultati vengono riassunti e riflettuti in relazione alla fattibilità valutata personalmente.
Parole chiave: scienza della psicoterapia, prasseologia, costruttivismo radicale, schemi, possibilità di azione, scienza della psicoterapia che amplia le possibilità di azione
Der Autor
Dr. Dr. Paolo Raile, MSc., studierte Psychotherapiewissenschaft, Soziale Arbeit und Europäische Ethnologie. Er ist Autor wissenschaftlicher Texte, Psychotherapeut, Sozialarbeiter, Lebens- und Sozialberater sowie Gründer und Leiter zweier psychosozialer Organisationen in Wien.
Kontakt
1 Abermals mit dem Hinweis darauf, dass die Kombination aller Elemente einzigartig ist, einzelne Aspekte jedoch durchaus wiederkehrenden Charakter haben. Ein Beispiel könnte das Äussern der Gewissheit sein, dass man von Nachbar*innen ständig beobachtet und belauscht werde, was gänzlich verschiedene Personen in unterschiedlichsten Situationen aussagen können, wodurch solche spezifischen Elemente einen situationsübergreifenden Charakter haben.