Peer-Chat: Vorläufige Beurteilung des Online-Angebots

Mara Foppoli & Milena Pacciorini

Psychotherapie-Wissenschaft 13 (1) 2023 27–34

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2023-1-27

Zusammenfassung: Dieser Artikel beschreibt die Erfahrungen mit einem Peer-Chat-Angebot für Jugendliche, das seit 2019 in der italienischen Schweiz besteht. Beim Peer-Chat handelt sich um ein Angebot, bei dem sich Jugendliche zu regelmässigen Zeiten von Gleichaltrigen beraten lassen können. Die Peers erhalten einen Avatar. Diese Art der Beratung findet in einem vertraulichen Rahmen statt, digital und schriftlich. Für diese vorläufige Beurteilung wurden sowohl die Erfahrungen derjenigen, die dieses Angebot genutzt haben, als auch die Eigenschaften der Peers berücksichtigt. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die Nutzer mit dem Dienst und die Peers mit der Entwicklung verschiedener Kategorien der Lebenskompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Problemlösungskompetenz, Empathie und vielem mehr sehr zufrieden waren. Im Fazit werden sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen dieser neuen Art der digitalen Lebensberatung von Jugendlichen für Jugendliche beschrieben.

Schlüsselwörter: Peer-Chat, Chat, Online-Beratung, Peer-Beratung

Einführung

In diesem Artikel soll über die Erfahrungen mit dem Peer-Chat berichtet werden, der seit 2019 in der italienischen Schweiz angeboten wird. Es handelt sich um ein Angebot, das im weiteren Sinne zur Primärprävention gehört und eine Anlaufstelle für Jugendliche zur Besprechung ihrer Probleme bietet, wobei die Beratung in schriftlicher Form und durch Gleichaltrige erfolgt. Beschäftigt man sich mit dem Feld der Jugendberatung, den Möglichkeiten der Hilfesuche und den Hilfsangeboten für Jugendliche, so wird schnell deutlich, dass es für betroffene Jugendliche durchaus schwierig sein kann, in der Familie oder generell bei Erwachsenen Verständnis für ihre persönlichen Probleme zu finden. Der Grund dafür kann darin liegen, dass es für letztere Gruppe nicht leicht ist, aufgeschlossen zu sein, zuzuhören oder sich in die existenziellen und psychischen Probleme der Jugendlichen einzufühlen. Sicherlich kommt dabei auch zum Tragen, dass beide Gruppen aus verschiedenen Generationen stammen und daher naturgemäss unterschiedliche Sichtweisen zu diesen Themen haben. Somit haben wir auf der einen Seite Jugendliche der Generation Z, die das Gefühl haben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, und sich deswegen auf die Suche nach einer Diagnose machen – wobei sie sich leider nur auf das Internet verlassen. Auf der anderen Seite haben wir dann aber vielleicht Eltern, die vor dem Leiden ihres Nachwuchses die Augen verschliessen oder es bagatellisieren und auf diese Weise eine frühzeitige Intervention durch bspw. einen Psychotherapeuten verhindern.

So herrschte auch auf dem letzten IC 2022-Kongress der internationalen Kinder- und Jugendtelefone in Stockholm allgemeiner Konsens darüber, dass der Zugang zu Psychotherapien für junge Menschen immer noch stark von wirtschaftlichen Barrieren und der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen geprägt ist. Es scheint fast so, als ob die Existenz von Problemen geleugnet würde oder als ob der Gedanke herrsche, dass es nicht möglich sei, ein Bewusstsein für psychische Probleme zu haben, nur weil man sehr jung ist. In diesem Zusammenhang erscheint das Angebot in Kanada interessant, wo Alison Simon das Modell des gestuften Vorgehens (Stepped-Care) vorgestellt hat: Dieses Modell umfasst verschiedene Stufen der Hilfe, die Jugendliche in Anspruch nehmen können; die professionelle Hilfe durch Therapeut*innen befindet sich dann erst am Ende dieser Kette. Das Modell trägt dazu bei, die Lücke in den Hilfs- und Beratungsdiensten für junge Menschen zu schliessen. Ebenfalls aus Kanada stammt das innovative und evidenzbasierte Modell Stepped Care 2.0 (SC2.0©) von Peter Cornish, dessen Ziel die Organisation der Problem- und Suchthilfeangebote in einem flexiblen und partizipativen Versorgungssystem ist. Das Modell ist einzigartig in seinem patienten- und genesungsorientierten Ansatz und ist so gestaltet und umgesetzt worden, dass es den Bedürfnissen der verschiedenen Organisationen und umgebenden Gemeinschaft Rechnung trägt. Das Modell wurde sogar von der kanadischen Mental Health Commission übernommen. Die Grundidee besteht darin, die Stigmatisierung zu verringern und früher bei psychischen Problemen zu intervenieren, um eine schnellere Genesung zu fördern. Es geht darum, zur richtigen Zeit die richtige Behandlung anzubieten. Somit beginnt man mit der Bereitstellung einfacher informativer Ressourcen und gelangt dann im Rahmen eines koordinierten Systems zu intensiven Hilfsangeboten für Betroffene. Normalerweise wenden sich viele Betroffene nicht an psychosoziale Dienste oder haben Hemmungen, diese in Anspruch zu nehmen, und verfallen eher dem Drogenkonsum oder Glücksspiel. Die Vervielfältigung und Stärkung der Hilfsangebote im Rahmen des Stepped-Care-Ansatzes könnte auch den Menschen in den ländlichen Gebieten zugutekommen und nicht nur denen in den Grossstädten. Bei Simon lag das Augenmerk auf Jugendlichen. Jedem «Step» wurde ein Schweregrad des Hilfeersuchens zugeordnet. Im nachstehenden Schaubild sehen Sie die sechs verschiedenen Schritte, die digital durchlaufen werden. Es geht zunächst um die Förderung der psychischen Gesundheit, in die vor allem die Schulen, aber auch die Gemeinschaft einbezogen werden sollten. Hier gilt es zu erkennen, dass man ein existenzielles Problem hat, z. B. mit Alkohol oder der Affektregulation. Anschliessend folgt eine Psychoedukation, bei der Informationen vermittelt werden können, die Betroffenen dabei helfen, selbst zu erkennen, was gerade mit ihnen geschieht. Ziel ist es, den Dialog zuzulassen, um aus festgefahrenen Vermeidungs- und Verleugnungsstrategien und der Nichtakzeptanz auszubrechen.

Abb. 1: Aufbau des im kanadischen Gesundheitssystem integrierten Modells zur Behandlung mentaler Probleme

Im dritten «Step» kommen eine Reihe Tools zum Einsatz, die Betroffene über eine App selbst verwalten können – also noch immer Hilfe auf digitalem Weg. In «Step» vier schliesslich findet das Hilfsangebot durch Gleichaltrige statt. Diese können Erlebnisse reflektieren und eine offene Auseinandersetzung auf der Grundlage ihrer direkten Erfahrungen sowie der Tatsache schaffen, dass es ihnen gelungen ist, das jeweilige Problem zu überwinden und gestärkt aus der Erfahrung hervorzugehen. In diesem «Step» geht es auch um die Suche nach konkreter Hilfe vor Ort (Triage der vorhandenen Angebote). In diesen Schritt fällt auch der Peer-Chat, der im Folgenden näher untersucht und beurteilt wird. Den fünften «Step» stellen Freiwillige dar, die Betroffene so lange unterstützen, bis sie bei Psychotherapeut*innen vorstellig werden können. Mit dieser Vorgehensweise wird ein vielfältiges Betreuungssystem mit einem breit gefächerten Spektrum an Stimmen, Kompetenzen und Erfahrungen geschaffen, das den Jugendlichen das Gefühl gibt, mit ihren psychischen Problemen nicht allein und isoliert zu sein – ein Problem, das leider noch häufig auftritt.

Es geht um die gemeinsame Entwicklung verschiedener Ansätze und Massnahmen zur Einbindung der Gemeinschaft: Einholen von kontinuierlichem Feedback, Würdigung der Perspektiven derjenigen, die, obwohl sie noch sehr jung sind, eine ähnliche Erfahrung durchgemacht haben oder noch durchmachen; aber mit einem gewissen Mass an Kontrolle, wie innerhalb einer Sicherheitszone, in der Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion berücksichtigt werden können.

Überdies ist zu berücksichtigen, dass durch die Zusammenarbeit in allen Bereichen, den Aufbau respektvoller Beziehungen innerhalb und zwischen den Teams, den Aufbau von Empathie und Vertrauen, das Zuhören, die Unterstützung und die Beachtung der sozialen Einflussfaktoren auf die Gesundheit sowie die Wertschätzung der verschiedenen Wege, die Menschen zur Bewältigung psychischer Krankheit und Drogenkonsum einschlagen, eine Kultur und Sprache der Hoffnung geschaffen wird.

Hypothesen und Beurteilung

Für diese erste Beurteilung wurden zwei Betrachtungsweisen herangezogen: die der Personen, die den Peer-Chat nutzen, und die der Eigenschaften der Peers, d. h. der Personen, die die Beratung anbieten. Auf diese Weise sollte es möglich sein, einerseits die Auswirkungen zu verstehen, die dieses Angebot auf das Befinden der Jugendlichen hat, und andererseits zu bestimmen, welche der Lebenskompetenzen bei dieser Art von Beratung, bei der eine symmetrische und enge Beziehung zwischen betroffener Person und Peer besteht, am ehesten zum Tragen kommen.

Konzept der Peer-Education

Peer-Education ist ein weit verbreiteter Ansatz zur Förderung des Wohlbefindens und zur Prävention von Risikoverhalten, insbesondere des Konsums psychoaktiver Substanzen und riskanten Sexualverhaltens. Der bevorzugte Kontext für Peer-Education ist traditionell die Schule, aber in letzter Zeit wird sie auch in ausserschulischen Kontexten immer beliebter (Cristini et al., 2010). Darüber hinaus ermöglicht die Peer-Education eine Prävention mit neuen Mitteln (Ottolini & Rivoltella, 2014). Dabei nimmt die Peer-Education offensichtlich den Weg vom schulischen Kontext über das echte Leben ins Internet. Und in diesem Zusammenhang stellt der Peer-Chat einen Schnittpunkt zwischen diesen beiden Welten dar, an dem eine Art horizontale und direkte Kommunikation zwischen Jugendlichen mit einem gemeinsamen erfahrungstechnischen, kulturellen und sprachlichen Hintergrund möglich ist.

Peer-to-Peer-Beratung im Chat

Bei dieser Form der Beratung helfen Jugendliche anderen Jugendlichen, wobei sie einen Kanal nutzen, den junge Menschen sehr schätzen, nämlich den Chat. Es handelt sich also um eine schriftliche Beratung, die am Bildschirm stattfindet und eine Art der Kommunikation und Beziehung darstellt, die für die Jugendlichen sehr angenehm und vertraut ist. Über diesen Kanal können sie direkt und offen über ihre Probleme und Sorgen sprechen. Auf der anderen Seite befinden sich die Peers, ebenfalls junge Menschen, die durch die Überwindung eines Problems oder eines psychischen Leidens eine gewisse Widerstandsfähigkeit entwickelt haben. Sie sind naturgemäss mit der Welt der Jugendlichen, ihrer Sprache und der Jugendkultur gut vertraut und können sich daher leicht in die Situation der Hilfesuchenden einfühlen, die sich in einer Lebenskrise befinden und nicht so recht begreifen, was eigentlich geschieht – und sich von den Erwachsenen um sie herum nicht verstanden fühlen. Das Konzept basiert auf dem Gedanken der Gleichheit, die hinsichtlich des Alters, des Kontexts und der Situation ein direktes und symmetrisches Verhältnis ermöglicht zwischen denen, die um Beratung bitten, und denen, die beraten. In der Praxis ist es so, dass junge Menschen anderen jungen Menschen über einen Chat unterstützen. Somit ist die persönliche Erfahrung ausschlaggebend für die Peer-Beratung. Sie ersetzt nicht die Intervention durch ausgebildete Therapeut*innen, sondern ist ein Zwischenschritt, der auf Augenhöhe stattfindet, dem Austausch dient und dem Betroffenen das Gefühl vermittelt, mit einem Problem, dessen Schwere, Form und mögliche Auswirkungen auf sein tägliches und zukünftiges Leben er nicht versteht, nicht allein zu sein. So lassen sich Vermeidungs- und Verleugnungsmechanismen in Bezug auf Probleme wie Alkoholsucht und Sozialangst überwinden. Vor allem aber lässt sich die Hemmschwelle absenken, um über Probleme zu sprechen, weil man sie als das akzeptiert, was sie sind.

Die Beratung bestand zunächst aus einmal wöchentlich vier Stunden und wurde dann auf zweimal wöchentlich drei Stunden ausgedehnt. Dabei war immer ein*e Peer-Coach*in (im Folgenden PC) anwesend, um die Gruppe der Peers zu betreuen.

Eigenschaften des Peer-Chats und Rollen

Dank der Beratung können hilfesuchend Jugendliche

Die Zielgruppe der Peer-to-Peer-Chats sind junge Menschen zwischen 13 und 25 Jahren, die über einen niedrigschwelligen Kommunikationskanal (Chat) Ideen und Unterstützung zu ihren Problemen von Gleichaltrigen erhalten möchten. Der Peer-Chat wird als Alternative zum Chat mit professionellen Therapeut*innen angeboten. Er kann ohne Registrierung genutzt werden. Sobald ein Chatroom frei ist, kann der*die Beratungssuchende einen Nickname wählen, den Chatroom betreten und direkt ein Gespräch mit dem*der Peer-Berater*in (im Folgenden PB) beginnen. Die Unterhaltung ist ein Vier-Augen-Gespräch (Beratungssuchende*r und PB), wird aber jederzeit von einem*einer PC (ausgebildete*r Berater*in) begleitet und überwacht. Je nach Bedarf und verfügbaren Ressourcen werden jede Woche zwei bis vier Chatrooms gleichzeitig in vorab festgelegten zeitlichen Abständen zueinander (1–2) geöffnet.

Peer-Coach*in

Während der Chat-Beratungen werden die PB von einem*einer ausgebildeten und qualifizierten Berater*in betreut und begleitet. Sie*Er verfolgt die Chats in Echtzeit, gibt Ratschläge, weist auf Fallstricke oder besondere Beziehungsdynamiken hin und kann im Notfall entweder vom der*dem PB um Hilfe gebeten werden oder direkt selbst in den Chat eingreifen. Eventuelle Interventionen bei akuten Krisen leitet ausschliesslich der*die PC. Über einen Wechsel werden hilfesuchende Jugendliche informiert. Der*Die PC überwacht den Chat in Echtzeit und gibt dem*der PB bei Bedarf Hinweise oder tritt an seine*ihre Stelle. Darüber hinaus gibt der*die PC auch immer wieder Feedback zu den Beratungen. Jede Gesprächsrunde endet mit einem kurzen Reflexionsgespräch. Der Austausch von Erlebnissen fördert die Verarbeitung der Erfahrungen sowie den Lerneffekt und den Zusammenhalt in der Gruppe. Alle drei Monate besprechen und klären PB und PC in einem ausführlichen Vier-Augen-Gespräch Zweifel und offene Fragen.

Peer-Berater*in

Die PB sind zwischen 15 und 25 Jahre alt und müssen in der Lage sein, den Jugendlichen, die sich im Chat mit unterschiedlichsten Fragen an sie wenden, Beratung und Unterstützung leisten zu können. Grundlage der Peer-to-Peer-Beratung ist die symmetrische Beziehung zwischen den Beratenden und Beratenen, die auf der Gleichheit der Gesprächspartner*innen basiert. Diese Symmetrie ergibt sich aus dem geringeren Altersunterschied, aus den Ähnlichkeiten im Lebensumfeld und bestenfalls auch aus ähnlichen erlebten Erfahrungen. Die Form der Beratung soll den Jugendlichen, die sie in Anspruch nehmen, vermitteln, dass auch ihre Krisen bewältigt werden können, weil andere es ebenfalls geschafft haben. Die PB tragen damit zur Normalisierung einer als problematisch wahrgenommenen Situation bei. Im Rahmen der Gespräche überlegen die PB und ihre Gesprächspartner*innen gemeinsam, wie die konkrete Situation verbessert werden kann. Um auch Fragen zu Themen beantworten zu können, mit denen sie keine konkrete Erfahrung haben, lernen die PB spezielle Gesprächstechniken und Beratungsmethoden. Besondere Vorkenntnisse in diesen Bereichen werden nicht vorausgesetzt.

Identität der Peer-Berater*innen

Im Unterschied zu den ausgebildeten Berater*innen sind die PB eindeutig identifizierbar. Sie stellen sich auf der Website mit einem Avatar und einer kurzen Beschreibung ihrer Person vor. Auf diese Weise können Jugendliche, die Rat suchen, entscheiden, mit welchem*welcher PB sie am liebsten sprechen möchten. Dies erhöht die Kompatibilität zwischen den Gesprächspartner*innen und vereinfacht die Interaktion. Die PB stehen den ratsuchenden Jugendlichen als Menschen mit eigener Lebenserfahrung zur Verfügung und unterstützen sie durch eine fundierte und reflektierte Haltung zum Thema bei der Lösungsfindung.

Methodische Herangehensweise

Die Peer-to-Peer-Beratung basiert auf einem ressourcenorientierten Beratungsansatz, der auf Zuhören und gemeinsames Finden von Lösungen ausgerichtet ist, nutzt aber auch die Methode der selektiven Wahrnehmung und fördert damit das Lernen am Vorbild. PB gehen davon aus, dass ihre Gesprächspartner*innen im Wesentlichen in der Lage sind, ihre Probleme selbst zu lösen. Nachdem sie der Problemstellung die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hat, müssen sie sich auf mögliche Lösungsansätze konzentrieren. Sie helfen Gesprächspartner*innen, auf Ressourcen und Fähigkeiten zurückzugreifen, die zur Problemlösung beitragen können.

Instrumente zur Bewertung der Wirksamkeit

Im Folgenden werden verschiedene Dimensionen der Wirkungsmessung des Angebots, aber auch der Wahrnehmung der Online-Peer-Beratung betrachtet. Dabei wird berücksichtigt, dass die Nutzerzahlen des Peer-Chats nach Ausbruch der Coronapandemie und sogar nach Gründung ähnlicher Projekte gestiegen sind.

Tool zur Bewertung des Angebots

Ein Ad-hoc-Bewertungstool wurde entwickelt, um die Beurteilungen der Nutzer*innen des Peer-Chats zu erfassen. Dieser Fragebogen wurde am Ende jedes Chats ausgefüllt. Das Tool wurde 40 Jugendlichen vorgelegt, von denen 20 ihre jeweilige aktuelle Beratungserfahrung bewertet haben. Im Folgenden sind die einzelnen Kriterien aufgeführt. Beurteilung des Peer-Chats:

Tool zur Bewertung der Peers

Bei dem anderen Tool handelt es sich um die life skills assessment scale (Leutenberg & Liptac, 2010). Lebenskompetenzen (life skills) sind individuelle, soziale und beziehungsspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es Individuen ermöglichen, effektiv mit den Anforderungen und Veränderungen des täglichen Lebens umzugehen. Die WHO hat zehn Fähigkeiten definiert, anhand derer Lebenskompetenzen erkennbar sind. Diese sind in drei verschiedene Bereiche unterteilt, die natürlich alle miteinander zusammenhängen. Diese Unterteilung hat hauptsächlich informativen Charakter.

Kognitiver Bereich:Entscheidungsfindungskompetenz: Die Fähigkeit, aktiv Entscheidungen zu treffen und verschiedene Handlungsoptionen sowie die Konsequenzen möglicher Entscheidungen zu bewerten. Problemlösungskompetenz: Diese Fähigkeit ermöglicht einen konstruktiven Umgang mit Lebensproblemen. Kreatives Denken: Diese Fähigkeit ermöglicht es, mögliche Handlungsoptionen und die Folgen des Handelns oder Nichthandelns zu durchdenken. Sie erlaubt es, weiter zu denken als nur bis zu den unmittelbaren Erfahrungen und auf Situationen des Alltags variabel und flexibel zu reagieren. Kritisches Denken: Die Fähigkeit, Informationen und Erfahrungen objektiv zu analysieren. Sie kann zur Erhaltung der eigenen Gesundheit beitragen, indem sie bei der Erkennung und Bewertung von Faktoren hilft, die Einfluss auf Haltungen und Verhaltensweisen haben.

Zwischenmenschlicher Bereich:Effektive Kommunikationsfähigkeit: Die Fähigkeit, sich sowohl verbal als auch nonverbal auf eine der Kultur und der Situation angemessene Weise auszudrücken. Dazu gehört die Fähigkeit, Meinungen und Wünsche, Bedürfnisse und Ängste mitzuteilen und bei Bedarf Rat und Hilfe zu suchen. Interpersonale Beziehungsfähigkeiten: Diese Fähigkeit trägt dazu bei, mit anderen auf positive Weise in Beziehung zu treten und zu interagieren, freundschaftliche Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die sich stark auf die psychische Gesundheit und das soziale Wohlbefinden auswirken können. Empathie: Die Fähigkeit, sich in die Lage einer anderen Person hineinzuversetzen, auch in Situationen, mit denen man nicht vertraut ist. Empathie hilft, Menschen, die «anders» sind, zu verstehen und zu akzeptieren.

Emotionaler Bereich:Selbstwahrnehmung: Sich seiner selbst, seines Charakters, seiner Stärken und Schwächen, seiner Wünsche und Abneigungen bewusst sein. Selbstwahrnehmung trägt dazu bei, zu erkennen, wann wir gestresst sind oder uns unter Druck fühlen. Gefühlsbewältigung: Dies bedeutet, die eigenen Emotionen und die anderer zu erkennen, sich bewusst zu machen, wie Emotionen das Verhalten beeinflussen, sowie in der Lage zu sein, angemessen auf Emotionen zu reagieren. Stressbewältigung: Die Fähigkeit, Stressquellen im Alltag zu erkennen, zu verstehen, wie sie sich auf sich selbst auswirken, und zu handeln, um die verschiedenen Dimensionen von Stress zu kontrollieren.

Dieses Tool wurde 14 Peers vor und nach einer Peer-Chat-Schicht vorgelegt.

Vorteile und Risiken

Ein erster grosser Vorteil dieser Beratungsform ist die symmetrische Aufteilung der jugendlichen Lebenswelt zwischen Nutzer*innen des Angebots und Peers. Dies ergibt sich aus der verwendeten Sprache und der gemeinsamen Jugendkultur. Ein weiterer Aspekt ist das rasche Einfühlen in die Situation und damit auch die schnelle Identifikation der Risiken und Gefahren, die das Gegenüber tendenziell unterschätzt – damit übernimmt der Peer-Chat die Rolle eines Sicherheitspostens. Gleichheit und Glaubwürdigkeit sind wirksame Hebel, um Veränderungen zu fördern oder Richtungen vorzugeben, da sie auf Authentizität und einer harmonischen Beziehung beruhen. Darüber hinaus übernehmen die Jugendlichen selbst eine bewusste und vor allem aktive Rolle im Hinblick auf das, was mit ihnen geschieht, was letztendlich ihre Chancen erhöht, die Erfahrungen zu bewältigen. Der Austausch, die Analyse und die Verbalisierung der eigenen Emotionen sowie die gemeinsame Suche nach einer Lösung mobilisieren die Person und befreien sie von dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Einsamkeit. Der*Die PB ist in der Regel sehr offen und nimmt eine wertfreie Haltung ein, was sofort wahrgenommen wird. Das Hauptziel bleibt die Vermittlung von Informationen und Selbstbewusstsein hinsichtlich der Situationen, in denen die Jugendlichen sich befinden.

Bezüglich der Risiken kann man sagen, dass das potenzielle Auftreten einer Situation, die als unkontrollierbar und überfordernd empfunden werden kann, die Anwesenheit eines*einer PC rechtfertigt. Diese*r kann im Notfall einschreiten und die Situation übernehmen. Ausserdem dient auch die Nachbesprechung am Ende einer Schicht dazu, sicherzustellen, dass keine emotional belastenden Erlebnisse in den Köpfen und Herzen der Peers zurückbleiben. Die Entwicklung schützender Massnahmen zur Intervention ist Aufgabe des*der PC.

Grenzen der Peer-to-Peer-Beratung

Der Umfang der Peer-Beratung ist aufgrund der bewusst auf die Grundlagen reduzierten Ausbildung der PB und der angestrebten Beziehungssymmetrie zwischen den beiden Gesprächspartner*innen wesentlich geringer als bei der professionellen Beratung. Eine Intervention der PC (Übernahme des Gesprächs, Triage mit 147) oder eine sehr genaue Anleitung der PB (Hilfe bei der Formulierung von Botschaften) ist in folgenden Fällen allerdings unbedingt notwendig:

Ergebnisse der Bewertungstools

Im Folgenden werden die Ergebnisse dargestellt, um eine partielle Bewertung des Peer-Chat-Angebots sowohl aus der Sicht der Nutzer*innen als auch der Peers und ihrer Erfahrungen im Rahmen ihrer Arbeit zu ermöglichen.

Beurteilung der Nutzer*innen

Um das Peer-Chat-Angebot besser zu beschreiben, seien hier einige Zahlen genannt. Im Jahr 2022 wurden 6.466 Chats geführt, das entspricht einem Monatsdurchschnitt von ca. 530 Chats. Die Mehrheit der Nutzer*innen des Angebots sind Mädchen (65 %), Jungen machen 31 % und nicht-binäre Personen ca. 4 % aus. Abb. 2 zeigt den prozentualen Anteil der Themen, die besprochen wurden.

Abb. 2: Themen, die im Chat besprochen wurden

Persönliche Probleme machen rund 30 % der Beratungsthemen aus. Bemerkenswert ist, dass immerhin 24 % der Gespräche schwierige Themen wie Stimmungsschwankungen, selbstverletztes Verhalten, Suizidgedanken oder Gewalt betreffen. Häufig sind sich die Jugendlichen der Beständigkeit oder Häufigkeit solcher Gedanken oder Fantasien nicht bewusst, was darauf hindeutet, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Intervention durch eine (psychotherapeutische) Fachkraft nicht immer vorhanden ist, und folglich die Inanspruchnahme einer Psychotherapie von Jugendlichen, die seit längerer Zeit unter persönlichen Problemen leiden, nicht in Betracht gezogen wird. Der Peer-Chat kann dabei helfen, sich der Dauer des Problems und der daraus resultierenden Notwendigkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, bewusst zu werden.

Am Ende eines Beratungschats wurde 40 Personen ein Fragebogen zugesandt, um ihre Zufriedenheit zu erfassen. 20 Personen haben geantwortet und eine sehr positive Bewertung abgegeben. Als besonders positiv empfanden sie, dass sie sich ernst genommen fühlten und das Gefühl hatten, dass man ihnen zuhört. 100 % der Befragten gaben an, dass sie den Peer-Chat noch einmal nutzen würden. Im Folgenden werden die Ergebnisse näher aufgeschlüsselt.

Abb. 3: Bewertung der Zufriedenheit

Vorläufige Beurteilung der Peers

Nachfolgend sind die Daten zur Einschätzung der Lebenskompetenzen der 14 Peers aufgeführt, die zusammen mit den acht PC das Angebot betreiben. Die Teilnehmenden sind zu 71 % Mädchen und zu 29 % Jungen. Das Durchschnittsalter liegt bei 20,2 Jahren. Bei den zehn Kategorien der Bewertung dominiert der emotionale Bereich rund um das Thema Selbstwahrnehmung mit 4,5 von 5 Punkten. Unmittelbar danach folgt mit 4,3 Punkten die Problemlösungskompetenz, die dem kognitiven Bereich zuzuordnen ist. Darauf folgt die Empathie aus dem emotionalen Bereich des Tools mit 4,2 Punkten. Diese Daten scheinen interessanterweise mit den Auswahlkriterien für den jeweiligen Peer übereinzustimmen. Es ist davon auszugehen, dass die Peers aufgrund erlittener Lebensereignisse und darauffolgender abgeschlossener oder laufender Psychotherapien eine gewisse Resilienz entwickelt haben, die sich dann auf die Entwicklung der zuvor genannten Eigenschaften, die bei der Peer-Chat-Beratung eine wichtige Rolle spielen, positiv ausgewirkt haben.

Abb. 4: Einschätzung der Lebenskompetenzen

Fazit

Obwohl die Ergebnisse dieser Studie nur vorläufig sind, können sie uns dennoch einige nützliche Hinweise auf das psychische Befinden junger Menschen geben. Sie zeigen uns darüber hinaus die Notwendigkeit auf, in der Region digitale Dienste zu entwickeln, die sich die Erfahrungen, die Sprache und die gemeinsame Jugendkultur von Nutzer*innen und Peers zunutze machen. Beim Übergang von der Kindheit zur Jugend wird die Gruppe der Gleichaltrigen als Bezugspunkt ausserhalb der Familie immer bedeutsamer und zentraler. So können die Resilienz der Peers in den Chatrooms sowie die Erfahrung der PC den Jugendlichen helfen, ihre Gefühle besser zu verstehen und sich der Probleme bewusst zu werden, die ihre physische, aber auch ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen können. Die Beratung durch die Peers reduziert Hemmnisse und erleichtert die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe, was wiederum eine frühzeitige Intervention ermöglicht.

Die Vielzahl der Anfragen an den Peer-Chat und die dort besprochenen Themen belegen, dass junge Menschen sensibel auf das reagieren, was sie erleben, und dass sie das Bedürfnis haben, sich mit Gleichaltrigen auch über schwierige und wichtige Themen auszutauschen. Daher kann diese Art von Angebot die Hemmschwelle senken und die Zeit für eine erste, wertfreie Auseinandersetzung mit einem Problem verkürzen. Die in den Chats verwendete Sprache ist oft direkt und unverblümt. Zudem kann die hohe Anzahl der Chats die Hoffnung auf eine Lösung der eigenen Probleme stärken und die Jugendlichen so davor bewahren, in eine depressive Resignation zu verfallen, in der alle Bemühungen um die eigene oder situative Verbesserung als vergeblich empfunden werden. Darüber hinaus ermöglicht es den Jugendlichen, aus der Isolation auszubrechen, die sie von einem positiven Kontakt mit sich selbst fernhält.

Aufseiten der Peers zeigen die Ergebnisse, dass eine selbst erlebte belastende Lebenserfahrung, die die Grundlage für die Auswahl als Peer bildet, zusammen mit der eigenen psychotherapeutischen Behandlung und der Schulung für die Rolle entscheidend sind, um die Funktion als Peer ausüben zu können. Man muss über ein hohes Mass an persönlicher Belastbarkeit verfügen, die man den Menschen, mit denen man chattet, zur Verfügung stellen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die zwei wöchentlichen Gruppengespräche, die in Anwesenheit der PC stattfinden. Dies fördert einen kontinuierlichen Austausch unter den Peers, der zur Entwicklung von Selbstvertrauen, Problemlösungskompetenz und Empathie beiträgt – Lebenskompetenzen, die einen hohen Stellenwert bei der Beurteilung der Peers einnehmen. Diese drei Kategorien schlagen sich direkt in der Bewertung des Angebots durch die jugendlichen Nutzer*innen nieder, die sich dort angehört fühlen, neue Ideen finden und ihr Selbstvertrauen festigen.

Schliesslich kann die Erkenntnis, dass man bei Problemen, mit denen man vielleicht selbst einmal konfrontiert war, wirksame Hilfe leisten kann, eine Bestätigung der eigenen Resilienz sein. Und ermöglicht auch, Ratschläge aus der Innenperspektive einer Person zu geben, die genau weiss, welche – teils auch widersprüchlichen – Emotionen in verschiedenen Situationen entstehen können und welche Herausforderungen, Hindernisse und Schwierigkeiten zu bewältigen sind. Dementsprechend kann die daraus resultierende Beratung sehr effektiv sein und dazu führen, dass die hilfesuchende Person professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, anstatt ständig die gleichen schädlichen Muster zu wiederholen und die entsprechend immer gleichen Ergebnisse zu erzielen.

Literatur

Cristini, F., Poser, F., Scacchi, L. & Perri, A. (2010). Quando la peer education esce dalla scuola. Salute e Prevenzione, 55, 31–52.

Leutenberg, E. A. & Liptac, E. (2010). The Practical Life Skills Workbook: Self-Assessments, Exercises & Educational Handouts. Whole Person Ass.

Marmocchi, P., Dall’Aglio, C. & Zannini, M. (2004). Educare le Life skills. Erickson.

Ottolini, G. & Rivoltella, P. C. (2014). Il tunnel ed il Kayak. Teoria e metodo nella peer & media education. Franco Angeli.

Peer chat: preliminary evaluation of an online experience

Abstract: This paper describes the experience of a peer chat service for young people that was launched in 2019 in Italian-speaking Switzerland and is still ongoing. It is a type of counselling where young people help other young people during a specific time. The peer chats are avatar-based, so this type of counselling is confidential, digital and written. In this preliminary evaluation, we wanted to take into account both the experiences of those who have used this service and the characteristics of the peer chats. The results show that satisfaction with the service and certain dimensions of life skills assessment such as self-knowledge, problem solving, empathy and many others were good. The conclusions explore both the limitations and the possibilities of this new way of providing digital support to young people by young people.

Keywords: peer chat, chat, online counselling, peer counselling

Die Autorinnen

Mara Foppoli ist Psychologin, ASP-Psychotherapeutin, Gestalttherapeutin, EMDR-Therapeutin und Standortleiterin der schweizerisch-italienischen Beratungsstelle von Pro Juventute.

Milena Pacciorini ist Philosophin, philosophische und neurowissenschaftliche Beraterin, NLP und PNQ, Präsidentin und Coachin Young4HelpChat Schweiz.

Kontakt

mara.foppoli1@gmail.com