Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (Teil 1)

Die Grundlagen

Paolo Raile

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 91–97

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-91

Zusammenfassung: Die Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (HEP) stellt einen eigenen psychotherapiewissenschaftlichen Ansatz dar. Aufbauend auf einem erweiterten wissenschaftstheoretischen Konzept, das auf Ernst von Glasersfelds Radikalem Konstruktivismus basiert, wird eine Praxeologie formuliert. Der Philosophie Bruce Lees folgend geht die HEP davon aus, dass Psychotherapeut*innen in einer (fiktiven) optimalen psychotherapeutischen Behandlung keine starren Techniken oder Strukturen verfolgen, sondern auf die Besonderheiten der jeweiligen Therapiesituation eingehen und entsprechend handeln. Hierfür sind eine gewisse Flexibilität, Intuition (spontanes und nicht bewusstes Handeln auf der Basis von einschlägigen erfahrungsbasierten Schemata) und ein ausreichend grosses Repertoire an Handlungsmöglichkeiten notwendig. Hierzu dient die forschungspraktische Anwendung der HEP, die in einem zweiten Artikel gesondert behandelt wird.

Schlüsselwörter: Psychotherapiewissenschaft, Praxeologie, Radikaler Konstruktivismus, Schemata, Handlungsmöglichkeiten, Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (HEP)

Einleitung

Der Name der Zeitschrift, in der dieser Text erscheint, ist, so man ihn ohne Bindestrich zusammenschreibt, ein relativ junger Neologismus, kaum 30 Jahre alt. Er besteht aus vier Wortteilen, nämlich Psyche, Therapie, Wissen und dem Suffix -schaft. Die ersten beiden Wortfragmente stammen aus dem Altgriechischen, die hinteren beiden aus dem (Indo-)Germanischen. Wortkombinationen, deren Teile aus verschiedenen Sprachfamilien kommen, existieren durchaus, ein Beispiel ist der Begriff psychosozial als Verbindung griechischer und lateinischer Elemente, sind aber nicht immer notwendig. Zumindest der Terminus Psychotherapiewissenschaft (PTW) könnte vollständig germanisch als Seelenkundewissenschaft bezeichnet werden, oder gänzlich griechisch als Psychotherapologie, was vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig klingt, aber zumindest deutlich kürzer ist. Im englischen Sprachraum ist die Kombination übrigens ähnlich, wenngleich science nicht vom Germanischen, sondern vom Lateinischen stammt. Eine durchwegs lateinische Bezeichnung wäre scientia animae curatio – wohl keine echte Alternative.

Im deutschen Sprachraum hat sich jedenfalls die Buchstabenkombination Psychotherapiewissenschaft durchgesetzt, deren erste Verwendung auf Hilarion Petzold zurückgeht,1 der im Jahr 1994 (veröffentlicht 1995) meinte, das Beschreiten des Pfads einer allgemeinen bzw. integrativen Psychotherapie gehe notwendigerweise mit der Behandlung epistemologischer, therapietheoretischer und methodologischer Fragestellungen einher, deren Beantwortung die Aufgabe einer allgemeinen PTW sei. Kurz darauf erschien der Sammelband Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen, in dem das Wort ein einziges Mal in der zuvor genannten Form vorkommt, und zwar im Kontext der Etablierung eines universitären Psychotherapiestudiums (Buchmann et al., 1996, S. 100). Heute existieren mehrere Bedeutungsvarianten des Begriffs.

Im 2020 veröffentlichten Band Universitäres Psychotherapiestudium verwendet Alfred Pritz, Rektor der Sigmund-Freud-PrivatUniversität (SFU) in Wien, den Terminus analog der zweiten zuvor genannten Definition als Bezeichnung für das universitäre Psychotherapiestudium an der SFU (Pritz, 2020, S. 24–28). Bernd Rieken (2020, S. 100–102) charakterisiert PTW im selben Buch indes als eine Wissenschaft des Psychischen, die sowohl natur- als auch geisteswissenschaftliche Aspekte enthält und darüber hinaus künstlerische Elemente und Selbsterfahrungsanteile. Martin Jandl (2020, S. 148–152) hat ebenfalls einen Beitrag für das Buch verfasst und vertritt darin eine umfassendere Begriffsdefinition: Er beschreibt vier Bereiche, mit der sich PTW befasst, nämlich 1. mit Psychotherapieschulen und -verfahren einschliesslich ihrer Theorien und Methoden, 2. mit Anwendungen psychotherapeutischer Theorien ausserhalb des Behandlungskontextes, bspw. in Form einer psychoanalytischen Märchenanalyse, 3. mit der Psychotherapieforschung und 4. mit den beiden psychotherapiewissenschaftlichen Ansätzen Experimental- und Imaginativhermeneutische Psychotherapiewissenschaft sowie psychotherapiewissenschaftliche Philosophie. Letztere wurden von ihm und Kurt Greiner in den letzten 15 Jahren geschaffen, beständig weiterentwickelt, in mehreren Büchern verschriftlicht und in zahlreichen Vorlesungen und Seminaren gelehrt. Sie formulieren damit explizit psychotherapiewissenschaftliche Konzepte und nicht etwa psychotherapeutische. Den Unterschied charakterisiert Greiner wie folgt: Die PTW stehe zur Psychotherapie wie die Kunstwissenschaft zur Kunst, die Wirtschaftswissenschaft zur Wirtschaft oder die Erdwissenschaften zur Erde – sie erforsche und reflektiere das gesamte Feld der Psychotherapie. Das Ziel der Experimentellen PTW Greiners ist es, durch den Einsatz der dem psychotherapiewissenschaftlichen Zweck angepassten konstruktiv-realistischen Methode der Verfremdung sowie verschiedener (kreativ-)hermeneutischer Verfahren Reflexionswissen über einzelne psychotherapeutische Ansätze zu generieren, wodurch die impliziten Grundlagen der jeweiligen Schulen sicht- und kritisierbar werden sollen (Greiner, 2020, S. 8).

Greiner formuliert damit nicht das einzige Konzept einer PTW. Petzold (1995) ging einen eigenen Weg in diesem Bereich, ebenso Gottfried Fischer (2011). Sie haben unterschiedliche Ansprüche an PTW und verschiedene Ziele, die sie damit verfolgen, aber auch eine Gemeinsamkeit: Ihr Weg führt sie über spezifische psychotherapeutische Theorien und Denkmuster zur PTW, konkret über die Integrative Therapie bei Petzold und die Psychoanalyse im Falle Fischers. Nach Markus Erismann (2016, S. 13) ist die Psychotherapie aufgrund ihrer methodischen Selbstreflektion prädestiniert für eine solche Vorgehensweise, eine wissenschaftstheoretische Grundlage aus sich heraus zu erschaffen. So nachvollziehbar die Argumente auch sind, so problematisch ist der Zugang zu einer sehr heterogenen multidisziplinären Wissenschaft über eine einzelne Disziplin oder eine Methode innerhalb des gesamten Spektrums. Ein solcher Zugang gleicht der Analyse von Machtstrukturen eines Diskurses im foucaultschen Verständnis aus seinem Inneren heraus, wobei unsagbare Bereiche mangels externer Perspektive zwangsläufig unzugänglich bleiben.

Ein weiteres Gegenargument besteht in der Notwendigkeit einer psychotherapiewissenschaftlichen Grundlage, die flexibel genug ist, um alle Ansätze, auch zukünftige, die als psychotherapeutisch gelten könnten, einzuschliessen, unabhängig von staatlichen oder sonstigen Regulierungen, die nur bestimmte Richtungen erlauben. Ein PTW-Ansatz, der auf einer tiefenpsychologischen bzw. integrativen Terminologie oder auf einer anderen Art des (schulenspezifischen) Denkens ruht, bspw. das tiefenpsychologisch-basierte Reflektieren, kann dies zwangsläufig nicht erfüllen, denn es existieren auch psychotherapeutische Formen, die gänzlich andere (Denk-)Zugänge zur Welt aufweisen. So kann bspw. keine PTW, die massgeblich auf einem tiefenpsychologischen Denkmuster basiert, die Systematische Desensibilisierung adäquat einschliessen, ohne ihre Konzepte und Anwendungen entsprechend umzudeuten, wodurch sie ihrem Sinnhorizont entrissen und, freilich ohne dies zu beabsichtigen, verfremdet wird. Ähnliche Argumente formuliert Gerhard Burda (2019, S. 38f.; s. a. 2021) in seiner Replik auf Erismanns Aufsatz, worin er betont, dass anstatt einer Nabelschau der Psychotherapieschulen eine externe wissenschaftstheoretische Perspektive zu bevorzugen ist. Eine ebensolche ist bspw. jene von Greiner, die auf dem konstruktiv-realistischen wissenschaftsphilosophischen Konzept Friedrich Wallners aufbaut. Und eine ebensolche ist auch die im Jahr 2022 erstmals formulierte Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft (HEP),2 deren um weitere Aspekte ergänzte radikalkonstruktivistische Grundlage nachfolgend ebenso vorgestellt werden soll wie eine aus ihrer Praxeologie abgeleitete Forschungsmethode. Aufgrund des begrenzten Publikationsraums wird der Artikel jedoch in zwei Teilen veröffentlicht, weshalb in diesem ersten Teil nur die wissenschaftstheoretischen Grundlagen behandelt werden, der zweite Teil (erscheint in Heft 1-2023 dieser Zeitschrift) enthält dann die konkrete Forschungsmethode der HEP inkl. Anleitung.

Die radikalkonstruktivistische Grundlage

Die HEP basiert auf einem erweiterten radikalkonstruktivistischen Ansatz, dessen Ursubstanz auf die Philosophie Ernst von Glasersfelds zurückgeht.3 Jener wiederum führt Jean Piaget als erkenntnistheoretische Basis an, konkret dessen Konzepte der Assimilation und Akkommodation sowie des Gleichgewichts der beiden, die Äquilibration. Menschen, die wach und bei Bewusstsein sind, empfangen zu jeder Zeit Sinneseindrücke über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle, die verarbeitet werden. Einzelne Elemente des Wahrnehmungsstroms werden dabei verschiedenen Schemata zugeordnet – sie werden assimiliert. Z. B. wird ein Element des Wahrnehmungsstroms eines kleinen Kindes dem Schema Erdbeere zugeordnet. Im Schema sind nun die verschiedenen Empfindungen verankert, die mit der Apperzeption der Erdbeere einhergehen, ihr Geruch, wie sie sich in der Hand anfühlt oder wie sie schmeckt. Auch ist es mit dem phonetischen Laut Erdbeere verknüpft, den die Eltern immer wieder aussprechen, wenn ein solches Element assimiliert wird. Darüber hinaus bestehen einige Handlungen im Schema, bspw. die Handlungen In die Hand nehmen und Abbeissen, wobei Letzteres, das hat das Kind die Erfahrung gelehrt, zu einer gewissen Befriedigung des Hungergefühls führt.

Angenommen, das Kind sieht eine künstliche Erdbeere in derselben Farbe und Form, und nehmen wir an, es hat bisher noch keine solche wahrgenommen, wird es das Objekt als nicht riechende und ungewöhnlich glatt und glänzend aussehende Erdbeere betrachten. In die Hand nehmen funktioniert auch, wenngleich das Gefühl in der Hand leicht anders ist. Abgesehen von einigen Differenzen in den Wahrnehmungen entspricht die Plastikerdbeere dennoch am ehesten dem Schema Erdbeere – es existiert kein anderes, das besser passen würde. Nun führt aber die Handlung Abbeissen plötzlich zu Zahnschmerzen, keinem Erdbeergeschmack im Mund und keiner Befriedigung des Hungergefühls. Die Eltern erklären dem Kind daraufhin, dass dies eine Plastikerdbeere ist, die man nicht essen kann, woraufhin sich die kognitiven Strukturen anpassen. Ein neues Schema entsteht, das mit dem phonetischen Laut Plastikerdbeere verbunden ist und in dem die Sinneseindrücke wie die des Plastikgefühls an den Fingern bestehen, aber die Handlung Abbeissen bspw. nicht existiert, weil sie nicht zum gewünschten Ziel der Handlung (Erdbeergeschmack und Befriedigung des Hungers) führt, sondern stattdessen zu Zahnschmerzen, die vermieden werden sollen. Die hier beschriebene Anpassung der kognitiven Strukturen ist die Akkommodation. Äquilibration ist das Gleichgewicht der beiden Muster. Versucht das Kind bspw. trotz mehrfacher Fehlschläge auch weiterhin von der Plastikerdbeere abzubeissen und kann die Schemata nicht entsprechend anpassen, herrscht kein Gleichgewicht (Glasersfeld, 1987, S. 111f.).

Hier bereits angedeutet ist ein weiteres zentrales Konzept in Glasersfelds Theorie, die Viabilität, was am besten als passend, gangbar oder zweckmässig übersetzt werden kann. Eine viable Handlung ist eine, die zu dem Ergebnis führt, das beabsichtigt ist. Im Falle des Erdbeerkindes ist die Handlung Abbeissen dann viabel, wenn das Kind den süsslichen Geschmack im Mund verspürt und danach eine leichte Linderung des Hungergefühls; nicht viabel ist sie, wenn dies zwar beabsichtigt ist, aber stattdessen Zahnschmerzen und ein ekelhafter Plastikgeschmack im Mund aus der Handlung resultieren. Mit den Worten Glasersfelds: «Begriffe, Theorien und kognitive Strukturen im Allgemeinen sind viabel bzw. überleben, solange sie die Zwecke erfüllen, denen sie dienen, solange sie uns mehr oder weniger zuverlässig zu dem verhelfen, was wir wollen» (ebd., S. 141).

Menschen behalten also alle kognitiven Strukturen bei, die viabel sind, also zu den Ergebnissen führen, die erwartet werden bzw. gewünscht sind. Spricht das Kind das Wort Erdbeere in der Absicht aus, dass die Eltern verstehen, dass es eine essen möchte, dann ist die Handlung viabel, sofern es die Bestätigung erhält, dass es verstanden wurde, und im günstigen Fall sogar eine Erdbeere erhält. Nahe Bezugspersonen sowie die Umgebung tragen somit auch massgeblich dazu bei, wie die Strukturen gebildet und behalten werden. Einen weiteren Einfluss hierauf hat, so Glasersfeld, u. a. die Sprache. Hier bezieht er sich auf die Sapir-Whorf-Hypothese, die besagt, dass sprachliche Strukturen und das Vokabular der Muttersprache jene kognitiven Strukturen prägen (Whorf, 1984). Aber auch die Art, wie Menschen aufwachsen, wie sie mit Herausforderungen umgehen, wie andere Menschen auf sie reagieren, und nicht zuletzt, wie die signifikanten Anderen selbst mit Problemen umgehen, prägen die kognitiven Strukturen massgeblich. Hier wird Glasersfeld mit einigen Gedanken Alfred Adlers ergänzt,4 der über den rein kognitiven Aspekt hinausgeht.

Adler war zwar kein Konstruktivist, aber zumindest ein Relativist und manche seiner Postulate sind jedoch bestens in den Radikalen Konstruktivismus integrierbar, denn auch er spricht davon, dass die Sinne keine Tatsachen, sondern lediglich einen Abglanz der Aussenwelt empfangen, ein subjektives Bild. Darüber hinaus beschreibt er den Lebensstil einer Person als Grundlage für deren Handlungen, nicht unähnlich der Schemata, aber in manchen Bereichen deutlich tiefgehender. Der Lebensstil, der einem selbst in der Regel nicht bewusst ist, bildet sich nach Adler in den ersten Lebensjahren anhand der gemachten Erfahrungen sowie der Reaktionen der Umwelt auf die gesetzten Handlungen heraus (Adler, 1933b, S. 28) und prägt massgeblich die Apperzeption, also das, was bewusst wahrgenommen wird, ebenso wie die Erinnerungen, die kognitiven Funktionen, die Einstellungen und Werte und nicht zuletzt auch die Emotionen (Adler, 1931n, S. 485). Auch das Konzept der Viabilität ist implizit erkennbar. Adler geht davon aus, dass ein gesunder Mensch mit der Wirklichkeit unbefangen rechnen, also sich bei Schwierigkeiten entsprechend anpassen kann, was bedeutet, dass Assimilation und Akkommodation funktionieren, während eine Person mit einer Psychose alles tun wird, um die dysfunktionalen Konstruktionen umzusetzen, selbst wenn sie sich im praktischen Leben als nicht viabel erwiesen haben (Adler, 1912a, S. 88f., 148f.). Über Adlers Postulate werden somit das Irrationale, das Unbewusste, die Gefühle und die Persönlichkeit in die radikalkonstruktivistische Theorie integriert.

Diese Zeilen sind meiner Ansicht notwendig, um eine grosse Schwäche des Radikalen Konstruktivismus auszugleichen, nämlich das Nicht- oder Wenigbeachten ebenjener Faktoren sowie der Intersubjektivität, der kulturellen Einflüsse und dergleichen mehr. Wo Adler den Fokus hierauf setzt und sinngemäss sagt, dass die nächsten Bezugspersonen des Kindes dessen Konstruktionen mitprägen, erwähnt Glasersfeld nur am Rande die Viabilität zweiter Ordnung.5 Damit meint er das Phänomen, dass wenn eine Person wahrnimmt, dass eine andere Person mit bestimmten Schemata erfolgreich in der Welt handelt, erstere dazu tendiert, solche Schemata selbst als viabel und als verlässlicher zu betrachten. Wenn hier also im weiteren Verlauf von einem erweiterten Radikalen Konstruktivismus gesprochen wird, so ist stets der Ansatz Glasersfelds mit einer Erweiterung auf irrationale, unbewusste, intersubjektive und kulturelle Faktoren gemeint. Das schliesst übrigens auch die Macht und Machtstrukturen im Sinne Foucaults ein, wie noch gezeigt wird. Doch zunächst ein Schwenk zum Wissen und den Wissenschaften im Verständnis des Ansatzes.

Wissen entsteht, so Glasersfeld (1996, S. 197), wenn Schemata bzw. Handlungserfolge reflektiert und beurteilt werden. Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich demgegenüber nur graduell und wird als verlässlicher betrachtet, weil es auf explizite und wiederholbare Weise zusammenkommt. In der Wissenschaft geht es einerseits um eine einheitliche Erklärung der Erfahrungen aller Ebenen und andererseits natürlich auch um Viabilität, die gerade im Wissenschaftsbetrieb intersubjektiv vermittel- und überprüfbar sein muss, womit die Viabilität zweiter Ordnung gemeint ist. An der Stelle folgt ein Abschnitt meines Buchs Eco-Anxiety in Psychotherapiewissenschaft und -Praxis, der die Gedanken pointiert wiedergibt und die Macht einbezieht:

«Wissenschaftlich ist ein Aussagesystem, das eine Reihe kohärenter Sätze enthält, wiederholt in der Anwendung entsprechende Resultate liefert und die Wiederholbarkeit von einer Reihe relevanter Subjekte bestätigt wird, die es als Wissenschaft bezeichnen. Hier ist auch Macht von Bedeutung. Grundsätzlich kann auch aus konstruktivistischer Sicht ausgesagt werden, dass Wissenschaft(en) Diskurse im Sinne Foucaults sind, also Konglomerate verschiedener möglicher Aussagen von Autor*innen. Foucault legt jedoch den Fokus auf die Strukturen, wohingegen mit einer konstruktivistischen Brille die Subjekte im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, die Aussagen aufgrund ihrer lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erziehung sowie ihrer Wahrnehmungen und Erfahrungen formulieren. Macht ist hier freilich von hoher Bedeutung, die bei Foucault die möglichen Aussagen begrenzt. Konstruktivistisch betrachtet werden in wissenschaftlichen Diskursen Aussagen formuliert, die für die publizierenden Personen nicht nur in der Anwendung viabel sind, sondern auch im Aussprechen gewünschte Ergebnisse liefern. Wissenschaftler*innen werden deshalb nur solche Konstrukte sprachlich formulieren, die auch einen gewissen Erfolg versprechen. Das kann nun auf die Anerkennung im jeweiligen Fachbereich abzielen, oder auf andere angestrebte Güter wie ein Honorar, das man bei entsprechenden Ergebnissen erhält, oder auf Aufmerksamkeit der Bevölkerung oder von Medien, oder auf andere mögliche Ziele. Entsprechen die Aussagen viablen Konstruktionen, die auch von anderen (Fach-)Personen als solche wahrgenommen werden, also von solchen Subjekten, die in der Wahrnehmung anderer eine gewisse Reputation auf einem Fachgebiet besitzen, können sich jene Sätze durch das häufige Zitieren halten und als wissenschaftliche Theorie etablieren» (Raile, 2022b, S. 84f.).

Dass solche Machtstrukturen gerade im Bereich der Psychotherapie wesentlich zur Etablierung verschiedener Schulen beigetragen haben, ist allgemein bekannt (s. a. Raile, 2022a, b), hat aber auch bedeutende Konsequenzen für das gesamte Feld. In der Praxis passiert Folgendes: Psychotherapeut*innen erlernen im Zuge ihrer Ausbildung in einer psychotherapeutischen Schule ein Konzept, das sie auf der Basis ihrer bisherigen lebensweltlichen Konstruktionen und Erfahrungen assimilieren, und sie akkommodieren neue Schemata. Durch Umsetzen des Erlernten, also das Anwenden der therapeutischen Handlungsmöglichkeiten, die in der jeweiligen Schule als viabel gelten, werden eigene Erfahrungen gemacht. Mit der Zeit und weiteren Erfahrungen, dem Erlernen neuer Techniken und Interventionen in Fortbildungen sowie dem kreativen Ausprobieren verschiedener alternativer Handlungsmöglichkeiten, werden die eigenen therapeutischen Schemata angepasst und in den Wahrnehmungen der jeweiligen Personen dadurch noch viabler, versprechen also in der Praxis einen höheren Behandlungserfolg. Wenn sie ihr angepasstes Konzept dann in Aussagen verpacken und über Publikationen oder Lehre verbreiten, beeinflussen sie damit andere Personen, die jene Schemata als viabel (zweiter Ordnung) betrachten und selbst assimilieren bzw. die Handlungen ausführen und eigene Erfahrungen damit machen. Ob das veränderte Konstrukt noch zur jeweiligen Schule passt, hängt von den Machtstrukturen ab.

Wenn bspw. eine Individualpsychologin eine vierte Lebensaufgabe und eine Änderung des Lebensstilkonzepts formuliert sowie die Berücksichtigung des Minderwertigkeitsgefühls als nichtviables Schema verwirft, und eine Reihe bedeutender Individualpsycholog*innen der Meinung ist, dass die veränderten Schemata zu den zu der Zeit in der Gemeinschaft anerkannten Konstruktionen passen und sich die Person selbst als der Individualpsychologie zugehörig bezeichnet, wird sie als Vertreterin der Individualpsychologie und ihre Konstruktion als individualpsychologisch behandelt. Ist das nicht der Fall, kann das geschehen, was in der Geschichte der Psychotherapie bereits viele Male passiert ist: Sie distanziert sie sich von der Schule und beginnt, ihre Theorien unter einem anderen Namen zu verbreiten. Das Resultat ist hinlänglich bekannt: Eine hohe Zahl an Personen formulierte in den vergangenen 150 Jahren unzählige psychotherapeutische Konzepte, die sie jeweils als viabel betrachteten, wodurch eine Vielzahl an psychotherapeutischen Verfahren entstand.

An der Stelle soll kurz auf zwei relevante Unterschiede zwischen der Experimentellen PTW Greiners und der Handlungsmöglichkeiten-erweiternden PTW des Autors hingewiesen werden, denn die Konzepte ähneln sich in manchen Bereichen durchaus.6 Der erste wesentliche Unterschied ist jener der Charakterisierung psychotherapeutischer Schulen. Greiner (2012, S. 46–52) geht davon aus, dass sie Mikrorealitäten sind, mehr oder weniger in sich logische Aussagekonglomerate, die Theorien sowie Methoden enthalten und zudem auf einer impliziten Grundlage stehen, die es aufzudecken gilt.7 Die unzähligen Anwendungen seiner detailliert ausformulierten Methoden zeugen von der Kraft seines Konzepts, es ist also in jedem Fall viabel. Der Autor dieser Zeilen geht demgegenüber allerdings nicht von Schulen als Mikrorealitäten aus, sondern davon, dass jede Person ihr eigenes Konstrukt hat, egal ob explizit ausformuliert oder als implizite Grundlage der praktischen Arbeit, das sich noch dazu mit der Zeit verändert und entwickelt. Schulen entstehen in diesem Verständnis durch Überschneidungen der einzelnen Konzepte relevanter Vertreter*innen (Machtstrukturen) in bestimmten Aspekten, wobei diese Vertreter*innen nicht zwangsläufig lebendige Personen sein müssen. Gerade in tiefenpsychologischen Schulen, aber auch in anderen, wird die Zugehörigkeit am Grad der Anpassung an das Konzept der Schulengründer*innen gemessen.

Dies ist der erste Unterschied; der zweite besteht in der Zielsetzung. Greiner geht es um das Aufdecken der zuvor genannten unreflektierten Grundannahmen einer psychotherapeutischen Schule, der hier vorgestellte Ansatz möchte dagegen eine psychotherapiewissenschaftliche Praxeologie entwickeln, die es bislang in keinem der PTW-Konzepte gibt, die auf einer externen Wissenschaftstheorie basieren. Hierzu wird eine weitere nicht-konstruktivistische, aber durchaus kompatible pragmatistische Theorie in den hier vorgestellten Ansatz implementiert, nämlich jene der Kampfkunstlegende Bruce Lee.

Bruce Lee, die Intuition und verschiedene Handlungsmöglichkeiten

Wird der bisherigen Argumentation gefolgt, so ergeben sich folgende Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis: Jede Person hat andere kognitive Strukturen, andere Schemata. Viele werden wohl das Schema Erdbeere mit der Handlung Abbeissen aufweisen, manche kennen aber vielleicht keine Erdbeeren, andere können oder wollen nicht abbeissen, bspw. wegen Allergien, weshalb die Handlung zwar potenziell ausgeführt werden könnte, aber in den Augen der jeweiligen Personen nicht unbedingt viabel ist, sofern nicht gerade das Ziel angestrebt wird, eine allergische Reaktion auszulösen. Kein Mensch weist dieselben Schemata auf, alle haben ihre jeweils eigenen Konstruktionen, um in der Welt zurechtzukommen, die ihre Gedanken, Gefühle, Werte und dergleichen mehr beeinflussen. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Patient*innen, sondern auch für Psychotherapeut*innen, bei denen noch ein weiterer Faktor hinzukommt, nämlich die im letzten Absatz des vorherigen Kapitels erwähnten fachlichen Konzepte, die sich ebenfalls von Professionist*in zu Professionist*in unterscheiden. Ausserdem verändert sich jeder Mensch im Laufe des Lebens mit den Erfahrungen, die er*sie macht, es werden also neue Schemata ausgebildet oder manche als viabler bzw. weniger viabel betrachtet. Somit ist jede Psychotherapiekonstellation einzigartig. Daraus folgt eine gewisse Schwierigkeit, die Viabilität eines Konzepts zu überprüfen,8 denn und nicht jede Intervention kann von jedem*jeder Psychotherapeut*in wirksam angewendet werden – z. B. kann oder will nicht jede*r provokativ arbeiten – und eine Handlung, die bei einer Patientin hilfreich war, ist bei einem anderen Patienten möglicherweise nicht viabel und führt zu einem Therapieabbruch. Manche Patient*innen mögen bspw. eine klare vorgegebene Behandlungsstruktur, andere fühlen sich dadurch eher unpersönlich behandelt, manchen öffnet ein direktes Wort die Augen, manche fühlen sich beim geringsten Verdacht einer unterschwelligen Kritik angegriffen und in den meisten Fällen verändern sich solche Aspekte mit einer Therapiedauer sowie mit der Etablierung einer tragfähigen Beziehung. Dass Psychotherapeut*innen in der Praxis dennoch erfolgreich therapieren können liegt an zwei wesentlichen Umständen. Erstens ist eine gewisse Flexibilität in der Auswahl der (Be-)Handlungsmöglichkeiten erforderlich, die zudem Intuition benötigt, die hier als spontanes und nicht bewusstes Handeln auf der Basis von einschlägigen erfahrungsbasierten Schemata aufgefasst wird. Zweitens braucht es hierfür auch ein gewisses Repertoire an ebensolchen (viablen) Handlungsmöglichkeiten. Zur theoretischen Untermauerung des ersten Postulats wird die Philosophie Bruce Lees in den praxeologischen Ansatz der HEP integriert. Eines seiner Interviewzitate ist in Fachkreisen weithin bekannt und drückt die Kerngedanken pointiert aus:

«Be Water, My Friend. Empty your mind. Be formless, shapeless, like water. You put water into a cup, it becomes the cup. You put water into a bottle, it becomes the bottle. You put it into a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow, or it can crash. Be water, my friend» (Lee, 1971).

Die Philosophie der Kampfkunstlegende besagt, dass der effektivste Kampfstil jener ist, der keine starren Strukturen hat und keine bestimmten Techniken in spezifischen Situationen vorschreibt, sondern einen flexibel, spontan und intuitiv auf das Gegenüber reagieren lässt, was natürlich auch den situationsadäquaten Gebrauch von konkreten Techniken einschliesst. Wer längere Zeit Kampfkünste praktiziert, erlebt die Automatisierung der Bewegungen (Lee, 1975). In einer Kampfsituation werden die wahrgenommenen Bewegungen des*der Kontrahent*in blitzschnell in Schemata assimiliert und entsprechend den verfügbaren viablen Handlungsmöglichkeiten reagiert. Ist die gewählte Handlungsalternative tatsächlich viabel, führt die Handlung zum entsprechenden Erfolg. Im Kampfsport wäre das ein Treffer oder der Sieg; in der Psychotherapie möglicherweise eine hilfreiche Intervention. Natürlich ist es nicht möglich, in der schier unendlichen Vielfalt möglicher Kampf- oder Behandlungssituationen immer adäquat zu reagieren bzw. immer hilfreich zu sein, dennoch wird ein solcher Zustand als fiktives und in der lebensweltlichen Praxis wohl nie erreichbares Ziel angestrebt, wobei eben Flexibilität und Intuition bei einer Vielzahl möglicher inkorporierter Handlungsalternativen wichtig sind, um die bestmögliche Behandlung anzubieten.

Sowohl im Kampfsport als auch in der Psychotherapie existieren zumindest zwei Wege, die in die Richtung dieses Ziels führen: 1.) kreativ sein und ausprobieren und 2.) viele viable Konstruktionen anderer Menschen kennenlernen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten durch das Ausbilden neuer Schemata erweitern. Fritz Perls, Vertreter des ersten Wegs, hat auf den Wert der techniklosen Technik hingewiesen, worin auch er eine ähnliche Auffassung wie Bruce Lee erkennen lässt:

«Ich akzeptiere niemanden als kompetenten Gestalttherapeuten, solange er noch ‹Techniken› benützt. Wenn er seinen eigenen Stil nicht gefunden hat, wenn er sich selbst nicht ins Spiel bringen kann und den Modus (oder die Technik), die die Situation verlangt, nicht der Eingebung des Augenblicks folgend erfindet, ist er kein Gestalttherapeut» (Perls & Petzold, 1985, S. 170).

Die Bedeutung des zweiten Wegs hat dagegen Raymond Corsini in seinem Handbuch der Psychotherapie (1994, S. 11–13) beschrieben:

«Den größten Wert hat das Handbuch meines Erachtens für die Praktiker. […] Viele von ihnen haben recht einseitige Ausbildungs- und Therapieerfahrungen und wissen nicht, wie sie am besten vorgehen sollen. Für sie – genauso wie für mich – soll dieses Handbuch viele neue Ideen liefern; es soll zum Experimentieren ermutigen und dazu motivieren, sich mit anderen Therapieansätzen auseinanderzusetzen. […] Je größer sein [des Psychotherapeuten] Repertoire an alternativen therapeutischen Methoden ist, je mehr Verfahren er schöpferisch integrieren kann, umso eher wird es ihm gelingen, für den Klienten eine optimale Lernumwelt zu schaffen und mit ihm die gesteckten Therapieziele zu erreichen.»

Um ebenjene Handlungsmöglichkeiten auf der Grundlage einer radikalkonstruktivistischen PTW erweitern zu können, wird in einem zweiten Fachartikel (erscheint in Psychotherapie-Wissenschaft Heft 1-2023) die forschungspraktische Umsetzung der HEP vorgestellt.

Literatur

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Action-possibility-expanding psychotherapy science (Part 1)

Basics

Abstract: The action-possibility-expanding psychotherapy science (HEP) represents a separate psychotherapy science approach. Building on an extended concept of scientific theory based on Ernst von Glasersfeld’s radical constructivism, a praxeology is formulated. Following Bruce Lee’s philosophy, HEP assumes that psychotherapists do not follow rigid techniques or structures in a (fictitious) optimal psychotherapeutic treatment but respond to the specifics of each therapy situation and act accordingly. For this, a certain flexibility, intuition (spontaneous and not conscious acting on the basis of relevant experience-based schemata) and a sufficiently large repertoire of possible actions are necessary. For this purpose, the research-practical application of HEP serves, which will be treated separately in a second article.

Keywords: Psychotherapy science, praxeology, radical constructivism, schemas, possibilities for action, action-possibility-expanding psychotherapy science (HEP)

La scienza della psicoterapia che amplia le possibilità di azione (parte 1)

Le basi

Riassunto: La scienza della psicoterapia che amplia le possibilità d’azione (HEP – Handlungsmöglichkeiten-erweiternde Psychotherapiewissenschaft) rappresenta un approccio psicoterapeutico a sé. Partendo da un concetto ampio di teoria scientifica basato sul costruttivismo radicale di Ernst von Glasersfeld, viene formulata una prasseologia. Seguendo la filosofia di Bruce Lee, la psicoterapia che amplia le possibilità di azione presuppone che gli psicoterapeuti non seguano tecniche o strutture rigide in un trattamento psicoterapeutico ottimale (fittizio), ma rispondano alle specificità di ogni situazione terapeutica e agiscano di conseguenza. Ciò richiede una certa flessibilità, l’intuizione (azione spontanea e non cosciente basata su schemi rilevanti basati sull’esperienza) e un repertorio sufficientemente ampio di azioni possibili. L’applicazione pratica della ricerca della terapia che amplia le possibilità di azione serve a questo scopo e sarà trattata separatamente in un secondo articolo.

Parole chiave: scienza della psicoterapia, prasseologia, costruttivismo radicale, schemi, possibilità di azione, scienza della psicoterapia che amplia le possibilità di azione

Der Autor

Dr. Dr. Paolo Raile, MSc., studierte Psychotherapiewissenschaft, Soziale Arbeit und Europäische Ethnologie. Er ist Autor wissenschaftlicher Texte, Psychotherapeut, Sozialarbeiter, Lebens- und Sozialberater sowie Gründer und Leiter zweier psychosozialer Organisationen in Wien.

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paolo@raile.at

1 Hier geht es explizit um das Wort Psychotherapiewissenschaft in dieser konkreten Schreibweise. Begriffskombinationen wie Psychotherapie, eine Wissenschaft oder Wissenschaft Psychotherapie existieren indes schon deutlich länger.

2 Die erste Formulierung des Ansatzes findet sich in meiner Habilitationsschrift Eco-Anxiety in der Psychotherapiewissenschaft und -Praxis (Raile, 2022b). An dieser Stelle ist es mir überdies ein persönliches Anliegen, zu erwähnen, dass die Abkürzung HEP eine bewusst gewählte Würdigung an meine kürzlich verstorbenen Grosseltern ist, deren Initialen mit den drei Buchstaben beginnen.

3 Der Radikale Konstruktivismus wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, v. a. als solipsistische Weltanschauung. Dies sehe ich nicht so, denn die nachfolgend genannte Viabilität zweiter Ordnung in Kombination mit Machtstrukturen und den eigenen (unbewussten) Zielen erlaubt es, den Solipsismus zu überwinden. Wenn man bspw. das Ziel hat, eine Theorie zu formulieren, dann genügt es nicht, die eigenen Schemata sprachlich zu verpacken. Es gilt auch, sie so darzustellen, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar und als brauchbar betrachtet werden (Viabilität zweiter Ordnung) und darüber hinaus auch gesagt werden «dürfen» (im Sinne Foucaults, dass eine Aussage im Diskurs getätigt werden kann/darf, was massgeblich mit den Machtstrukturen zu tun hat). Konstruktivistisch betrachtet bedeutet dies, dass ich nur solche Aussagen veröffentlichen kann, die von anderen massgeblichen Subjekten akzeptiert werden. Andernfalls würde der Text nicht veröffentlicht und mein Text wäre insofern nicht viabel, als er meinen unbewussten und bewussten Zielen (Anerkennung, Habilitation, höheres Einkommen etc.) nicht dient. Selbstverständlich ist der Radikale Konstruktivismus, auch in der hier vorgestellten Erweiterung, nicht perfekt, aber zumindest viabel.

4 Um der Kritik zu entgegnen, hier werde ein psychotherapiewissenschaftlicher Ansatz auf der Grundlage einer psychotherapeutischen Schule formuliert, sei hier angemerkt, dass lediglich ausgewählte erkenntnistheoretische Formulierungen herangezogen und zudem entsprechend radikalkonstruktivistisch interpretiert werden.

5 Auf die Frage, warum gerade auf Adler und nicht auf einen anderen Autoren wie Vaihinger zurückgegriffen wird, sei erwidert, dass Adlers Theorie den Radikalen Konstruktivismus gut ergänzen kann, da massgebliche Schwächen wie der fehlende Einbezug der Emotionen, des Unbewussten, der tendenziösen Apperzeption und Weiteres bei Adler explizit ausformuliert werden und zudem mit Glasersfeld kompatibel sind. Selbstverständlich können auch andere Autor*innen angeführt werden, jedoch vereint Adler viele wichtige Aspekte, weshalb der Einbezug seiner Theorie eine naheliegende und viable Wahl war.

6 Die Ähnlichkeiten sind kaum zufällig, da Greiner mein Interesse für PTW weckte, mich mit seinem Ansatz massgeblich beeinflusste und ich mich zudem seit vielen Jahren mit ihm freundschaftlich verbunden fühle.

7 Es sei noch erwähnt, dass Greiner so in seiner Habilitationsschrift argumentiert. Im neueren Lehrbuch geht er nicht explizit auf dieses Thema ein und spricht in der Methodenbeschreibung lediglich vom Herkunfts- und Verfremdungskontext, woraus sich auch eine gewisse Flexibilität der Methode ableiten lässt. Dennoch lassen Greiners Schriften nicht darauf schliessen, dass er von Wallners Konzept der Mikrorealitäten abgewichen ist.

8 Hier sei angemerkt, dass die Psychotherapieforschung mit gewissen Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten sowie Verallgemeinerungen arbeitet und versucht, die subjektiven und verändernden Faktoren auszublenden. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass allgemeine Faktoren wie die therapeutische Beziehung den grössten Effekt haben, weil sie eben der Individualität angepasst sind. Aktuelle Forschungsergebnisse legen allerdings nahe, dass auch die verschiedenen Techniken und Methoden im Zusammenhang mit allgemeinen Wirkfaktoren bedeutend für den Therapieerfolg sind. Wird der Befund mit dem Ergebnis kombiniert, dass verschiedene psychotherapeutische Schulen bei denselben Störungsbildern ähnliche Resultate liefern, liegt der Schluss nahe, dass verschiedene Techniken und Methoden viabel sind (vgl. Pfammatter & Tschacher, 2016).