Über den Tod und das Leben: Für uns und den Planeten

Irvin Yalom, interviewt von Eugenijus Laurinaitis1

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 9–20

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-9

Zusammenfassung: Das Gespräch orientiert sich an Irving Yaloms Buch A Matter of Death and Life (2021), in dem er seinen Abschieds- und Trauerprozess von seiner Ehefrau reflektiert, mit der er seit seinem 14. Lebensjahr zusammen war. Mittlerweile ist Yalom 91-jährig und krank, sodass er sich nun auf seinen eigenen Tod einstellt. Mit diesem Interview ist ein sehr persönliches Dokument über sein Leben und Wirken entstanden. Er beschreibt, wie wichtig ihm das Schreiben war und immer noch ist, es half und hilft ihm, über Krisen hinwegzukommen, sie schreibend zu verarbeiten. Man erfährt viel über Yaloms jüdisch/russischen Lebenshintergrund und den seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs, wie dieser ihn geprägt hat, und man versteht, dass er ein schwer traumatisiertes Kind war, das, ohne es zu wissen, im Laufe des Lebens transgenerative Folgen der Traumatisierung der ganzen Familie übernahm. Vor diesem Hintergrund betont er, dass es in der Arbeit mit Menschen, die solchen Extremerfahrungen ausgesetzt waren, in der Therapie eine echte Beziehungserfahrung braucht, wo die Erfahrung von Nähe möglich ist, etwas was in der frühen Kindheit fehlte. Angesichts der aktuellen Bedrohungen des Lebens auf unserem Planeten empfiehlt er genau dies für die Therapiepraxis, aber auch Therapiegruppen für TherapeutInnen, in denen sie daran arbeiten können, wie sie selbst mit den bei ihnen aufgeworfenen existenziellen Themen umgehen angesichts Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe. Es lohnt sich, auch das YouTube-Video (https://www.europsyche.org/latest-news-2/latest-news) anzusehen, setzt aber Englischkenntnisse voraus.

Schlüsselwörter: Krise, Sterben, Tod, Leben, Holocaust, Krieg, Pandemie, Klimakatastrophe, therapeutische Beziehung, Selbstfürsorge

Irvin Yalom über sich selbst2

Ich wurde am 13. Juni 1931 in Washington, D. C., geboren. Meine Eltern waren kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus Russland eingewandert (aus einem kleinen Dorf namens Celtz nahe der polnischen Grenze). Mein Zuhause lag in der Innenstadt Washingtons – eine kleine Wohnung über dem Lebensmittelladen meiner Eltern in der First und Seaton Street. In meiner Kindheit war Washington eine Stadt mit Rassentrennung und ich lebte in einem armen, schwarzen Viertel. Auf die Strasse zu gehen, war oft lebensgefährlich. Meine Zuflucht war das Lesen und zweimal pro Woche machte ich mich mit dem Fahrrad auf den gefährlichen Weg zur Zentralbibliothek an der Ecke 7th und K Street, um mich mit Büchern einzudecken. Als ich mein Medizinstudium begann, wusste ich schon längst, dass ich mich auf Psychiatrie spezialisieren wollte. Diese erwies sich (und erweist sich bis heute) als unendlich faszinierend und ich bin an alle meine Patienten2 mit einem gewissen Gefühl des Staunens über ihre Geschichte, die sich vor mir entfalten würde, herangegangen. Ich finde, dass eigentlich für jeden Patienten eine eigene Therapie entwickelt werden müsste, weil ja auch jeder eine einzigartige Geschichte hat. Im Laufe der Jahre hat mich diese Einstellung immer weiter von der klassischen Psychiatrie entfernt. Sie wird heute stark von wirtschaftlichen Kräften und in genau die entgegengesetzte Richtung getrieben – nämlich genaue, entindividualisierende (symptombasierte) Diagnosen und einheitliche, protokollgesteuerte Kurztherapien für alle. Meine ersten Texte waren wissenschaftliche Beiträge für Fachzeitschriften. Mein erstes Buch, The Theory and Practice of Group Psychotherapy, wurde 700.000-mal verkauft und zur Ausbildung von Therapeuten verwendet. Es folgten weitere Texte: Existential Psychotherapy (ein Lehrbuch für eine Ausbildung, die es damals noch nicht gab); Inpatient Group Psychotherapy (ein Leitfaden zur Leitung von Gruppen in der stationären Psychiatrie); Encounter Groups: First Facts (eine Forschungsmonografie, die inzwischen vergriffen ist). Ich wollte dann die Aspekte der Existenziellen Therapie einem breiteren Publikum zugängig machen und habe in den letzten Jahren ein Buch mit Therapiegeschichten (Love’s Executioner, Momma and the Meaning of Life – eine Sammlung wahrer und fiktionalisierter Therapiegeschichten) und drei Lehrromane (When Nietzsche Wept, Lying on the Couch und The Schopenhauer Cure) geschrieben. Meine Frau Marilyn hat an der Johns Hopkins University in vergleichender Literaturwissenschaft (Französisch und Deutsch) promoviert und eine sehr erfolgreiche Karriere als Universitätsprofessorin und Schriftstellerin hinter sich. Zu ihren zahlreichen Werken gehören: Blood Sisters, A History of the Breast, History of the Wife, The Birth of The Chess Queen und (zusammen mit unserem Sohn Reid Yalom) The American Resting Place. Unsere vier Kinder, die alle in der Bay Area um San Francisco leben, haben die unterschiedlichsten Berufe ergriffen: Medizin, Fotografie, kreatives Schreiben, Theaterregie, klinische Psychologie. Wir haben acht Enkelkinder und es kommen immer noch welche hinzu.

Einleitende Worte des Interviewers an das Kongresspublikum

Liebe Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun folgt ein Interview mit Irvin Yalom. Ich bin sicher, dass fast alle von Ihnen etwas über ihn oder von ihm gelesen haben. Eines seiner beliebtesten Fachbücher ist natürlich Theory and Practice of Group Psychotherapy, das wahrscheinlich von allen Gruppentherapeuten gelesen wurde, aber er hat auch viele Romane geschrieben und dabei teilweise berufsbezogene und poetische Elemente miteinander verwoben. Eines der besten Bücher für Fachleute und Patienten ist auch The Gift of Therapy, in dem es umfassend um den Therapieprozess geht. Dieses Interview basiert jedoch auf dem letzten von Irvin Yalom veröffentlichten Buch über seine Erlebnisse nach dem Tod seiner Frau. Es heisst A Matter of Death and Life. Dieses Interview zu führen war für mich eine grosse Ehre und ich muss sagen, dass es eine tiefe existenzielle Erfahrung war. Schauen und hören wir uns das Interview an.

Das im Vorfeld aufgezeichnete Interview

Eugenijus Laurinaitis (EL): Dr. Irvin David Yalom wurde am 13. Juni 1931 geboren und steht nun also kurz vor seinem 91. Geburtstag. Er ist ein existenzieller Psychiater, Psychotherapeut und emeritierter Professor für Psychiatrie von der Universität Stanford. Ausserdem hat er viele Bücher geschrieben, sowohl Belletristik als auch Sachbücher. Für Psychotherapeuten schrieb er das erste wichtige Werk zur Gruppenpsychotherapie Theory and Practice of Group Psychotherapy, das 1970 in der ersten Auflage erschien und seither, soweit ich mich erinnere, fünfmal neu aufgelegt wurde.

Es folgten viele weitere Fachbücher, oft über existenzielle Psychotherapie, stationäre Gruppenpsychotherapie, und sein sehr wichtiges, wenn auch recht kurzes Buch The Gift of Therapy – ein offener Brief an eine neue Therapeutengeneration und ihre Patienten. Es wird in der Tat sehr häufig als Handbuch für Patienten verwendet: was sie wie aus der Psychotherapie mitnehmen können. Man kann schon sagen, dass es ein sehr praktisches und zeitloses Buch ist, denn es gilt universell über [verschiedene] Ansätze und Schulen hinweg.

Und dann gibt es noch eine ganze Reihe Bücher mit fiktionalem Charakter, angefangen mit Everyday Gets a Little Closer, das mehr oder weniger ein psychotherapeutisches Werk ist, mit mehr fiktionalem Inhalt – und es ist ein sehr wichtiges Buch. In Ihrem Trauerprozess waren The Schopenhauer Cure und When Nietzsche Wept besonders wichtig für Sie. Die wären eigentlich für jeden wichtig. Ich muss sagen, dass es für mich als Litauer sehr wichtig ist, dass fast alle Ihre Bücher ins Litauische übersetzt sind. Schauen Sie mal, ich habe hier Ihr aktuelles Buch A Matter of Death and Life, das auch ins Litauische übersetzt wurde. Es ist auf Litauisch sogar ein bisschen dicker als auf Englisch.

Ich muss sagen, dass Sie in der Tat als Autor, als Lehrer und als Therapeut eine einzigartige Person sind, eine absolut einzigartige Person in unserer Branche, denn Sie arbeiten bereits seit mehr als 70 Jahren. Sie haben mit einem Schritt-für-Schritt-Programm begonnen und später immer anspruchsvollere Arbeit in der Psychotherapie geleistet. Aber wir werden jetzt über Ihr aktuelles Buch A Matter of Death and Life sprechen, das Sie zusammen mit Ihrer verstorbenen Frau Marilyn geschrieben haben. Zunächst möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die nicht nur bei mir aufkam: Warum heisst es «Über den Tod und das Leben»? Denn eigentlich kommt doch erst das Leben und dann der Tod, aber im Titel Ihres Buches steht es andersherum.

Irvin Yalom (IY): Ja. Nun, das liegt daran, dass das Buch wirklich vom Tod meiner Frau handelt und von meinem Leben danach. Das Leben, das ich jetzt gerade lebe und das kurz sein wird. Es ist für mich schwer vorstellbar, lange ohne sie zu leben. Ich war mein ganzes Leben lang so sehr mit ihr verbunden, seit ich sie mit 14 Jahren kennen gelernt habe. Ich hatte ein Leben vor Marilyn und jetzt dieses Leben danach, nach Marilyn. Es ist schwer für mich, sehr schwer, ohne sie zu leben.

Meine Bücher spenden mir Trost. In letzter Zeit tröstet es mich, wenn ich in meinen eigenen Büchern lese. Es ist seltsam. Nachts lese ich ein paar Seiten, ein paar Kapitel, und das gibt mir sehr viel Trost. Ich schreibe also über mein Leben nach ihrem Tod, das natürlich ein Leben voller Trauer ist, und wie man mit Trauer umgeht … wie ich mit Trauer umgehe. Ich habe sehr viel über Trauer gelernt. Ich habe in den letzten anderthalb Jahren mit einem sehr guten Therapeuten gearbeitet. Ich denke also über Trauer nach und darüber, wie ich allmählich damit umgehen kann, aber ich wusste von Anfang an, dass ich nicht wirklich darüber hinwegkommen würde. Nur sehr wenige Menschen haben das Glück, ihr ganzes Leben mit einer einzigen Person verbringen zu dürfen. Ich wusste also, dass es nicht einfach werden würde, aber ich habe viel, was mir hilft, darunter vier wunderbare Kinder und viele, viele Kollegen. Ich lebe in einem wunderschönen Teil der Welt. Ich bin umgeben von der Stanford University und von vielen, vielen Studenten, die ich ausgebildet habe, die mich besuchen, mir helfen und mein Leben so ein bisschen leichter machen. Hier bin ich also im Moment. Und hier schreibe ich. Ich bin kurz davor, ein weiteres Buch fertigzustellen, über das ich vielleicht später noch sprechen werde. Ich glaube nicht, dass ich eine besonders gute Prognose hätte, wenn ich nicht schreiben würde, denn ich habe praktisch mein ganzes Leben lang geschrieben, noch bevor ich meine Frau mit 14 Jahren kennenlernte.

Wir lebten damals in einer sehr gefährlichen Gegend in Washington, D. C., und ich verbrachte viel Zeit in der Bibliothek. Meine Eltern waren froh, wenn ich in der Bibliothek war, weil sie wussten, dass ich dort in Sicherheit war. Ich habe also viel Zeit in der Bibliothek verbracht und gelesen, geschrieben, Gedichte und Geschichten verfasst. Als ich dann Marilyn kennenlernte, war genau das unsere Verbindung. Sie hatte noch nie zuvor einen Jungen getroffen, der so schrieb wie ich. Sie liebte selbst die Literatur und machte sogar ihren Doktor in deutscher und dann in französischer Literatur. Ich war für sie also ein sehr ungewöhnlicher Mensch und bei unseren ersten Verabredungen habe ich ihr meine Gedichte und Geschichten vorgelesen. Bevor ich Marilyn traf, bin ich mit dem Fahrrad umhergefahren und habe mir selbst Gedichte vortragen, aber endlich hatte ich jemanden, mit dem ich das teilen konnte.

EL: Verstehe. Herr Professor, wir haben darüber gesprochen, dass Sie wirklich Ihr ganzes Leben lang geschrieben haben. Und ich verstehe, dass dies in gewisser Weise eine Art Kanalisierung Ihrer Gefühle und innerer Spannungen war. Wenn wir nun therapeutisch denken: Hat Ihnen das Schreiben dieses letzten Buchs in gewisser Weise geholfen, Ihren Schmerz und Ihr Leiden zu lindern, oder nicht so sehr?

IY: Oh, absolut, absolut! Selbst jetzt im Alter von 90 Jahren freue ich mich jeden Tag auf diese Arbeit. Ich finde Halt im Schreiben und das ist die Hauptsache. Ich bekomme jeden Tag eine Menge E-Mails. Die bearbeite ich in den ersten ein oder zwei Stunden und dann kann ich mich dem Schreiben zuwenden, der abschliessenden Überarbeitung dieses Buchs und bald habe ich es fertig. Das macht nicht so viel Spass wie sich neue Dinge auszudenken und neue Geschichten zu beginnen. Ich habe schon wieder ein paar im Kopf, die unbedingt das Licht der Welt sehen wollen, und ich hoffe, dass ich ein neues Buch anfangen kann, diesmal ein etwas kürzeres.

Da war diese Geschichte. Nein, ich spreche später über die Geschichte. Da war eine Geschichte in dem Buch, das ich gerade schreibe; sie war zu lang für … für das Gesamtpaket, sie passte nicht ganz hinein – so wie die Geschichte der deutschen Frau, mit der ich geschrieben habe. Das war … wird ein separates Buch, vielleicht eine lange Geschichte in einer Zeitschrift, so etwas in der Art, sie ist nicht lang genug für ein Buch. Das wird also mein nächstes Projekt sein. Ich bin nicht, ich wäre nicht sehr glücklich, wenn ich kein Schreibprojekt vor mir hätte, das wäre sehr seltsam für mich. Ich bin einfach davon abhängig irgendwie, ich muss einfach mein ganzes Leben lang schreiben.

EL: Aber das zeigt, lieber Herr Professor, dass Sie immer noch in die Zukunft blicken. Sie sind immer noch auf der Suche nach dem Sinn Ihres Lebens, das noch nicht zu Ende ist, obwohl Sie selbst gesagt haben, dass es nicht mehr lange dauern wird, aber Sie haben immer noch Pläne und weitere Pläne. Ist das Ihrer Meinung nach eine natürliche und hilfreiche Art, mit dem nahenden Tod umzugehen?

IY: Auf jeden Fall! Es ist für mich absolut wichtig, darüber nachzudenken, wie ich darüber schreiben werde. Es ist so selbstverständlich geworden, dass ich es gar nicht mehr infrage stelle. Aber ich bin am glücklichsten, wenn ich schreibe. Ich liebe es, zu schreiben. Ich liebe es einfach! Es macht so viel Freude, die Worte zu finden und sie zusammenzusetzen. Wissen Sie, ich habe nie einen Schreibkurs besucht; das ist nichts, was ich jemals gelernt habe; es fühlt sich für mich einfach so natürlich an.

EL: Verstehe. Sie haben auch während der Sterbephase von Marilyn geschrieben, Sie haben mit Ihrer Frau über die einzelnen Teile gesprochen, als sie noch am Leben war. Aber es sieht nicht so aus, vor allem nicht im ersten Teil Ihres Buchs, als würde Ihnen das besonders helfen. Sie haben ununterbrochen gelitten und nach Marilyns Tod haben Sie eine Art «Seelending» gefunden, indem Sie Ihr eigenes Buch The Schopenhauer Cure durchlebt haben. Können Sie denjenigen, die gerade einen ähnlichen Prozess durchmachen, oder die gerade verwitwet sind, einen Rat geben? Können Sie etwas empfehlen, um den inneren Schmerz zu lindern?

IY: Das ist eine schwierige Frage. Mir hilft das Schreiben, aber was ist mit Leuten, die sich nicht besonders mit dem Schreiben beschäftigen, nicht gern schreiben und das nicht als Ressource haben? Was können sie tun? Das ist eine schwierige Frage für mich. Ich weiss nicht, was ich tun würde, wenn es nicht so wäre … wenn es nicht schon immer so gewesen wäre. Was mich ausser dem Schreiben noch tröstet, ist wohl die Freundschaft. Ich habe viele sehr, sehr liebe Freunde, auf die ich mich verlassen kann, mit denen ich mich treffe und mit denen ich über alles sprechen kann, nichts wird zurückgehalten. Das war immer sehr wichtig für mich. Aber ich befinde mich gerade in einer Lebensphase, in der alle meine wirklich lieben Freunde, die mich schon ewig begleiten, tot sind. Sie sind alle tot, jeder Einzelne von ihnen. Ich bin der Letzte, der noch lebt, und das ist eine sehr einsame Situation. Daran muss ich mich also irgendwie gewöhnen. Und es ist sehr schwer … es gibt ein …

Meine Familie: das ist mein nächstes Schreibprojekt, nach dem Sie gefragt hatten. Meine Familie hat sich immer getroffen; sie kamen aus Russland. Sie kamen aus einem kleinen Städtchen namens Celtz. Ich weiss gar nicht, ob es noch existiert, ob es noch da ist. Meine Mutter kam aus einem Städtchen, ein paar Kilometer entfernt, namens Depreshina. Das lag in Russland, ich weiss nicht viel über die Geografie – ich war nie dort. Es lag in der Nähe der polnischen Grenze. Mein Vater bezeichnete sich stets als grossen Spassvogel; er sagte: «Wenn wir nicht noch einen langen russischen Winter wollen, müssen wir es Polen nennen.» Sie wissen schon; es war also nahe der Grenze. Die Familie stammte aus diesen beiden Städtchen und traf sich in Washington, D. C., wohin anscheinend alle ausgewandert waren. Die meisten von ihnen hatten Geschäfte, Lebensmittelläden, und ein paar von ihnen hatten Schnapsläden, wie mein Vater. Jeden Sonntag kam die Familie zusammen und ass in einem ihrer Häuser zu Abend oder so. Dann unterhielten sie sich den ganzen Abend und die Männer spielten Binokel und die Frauen Canasta, und wenn nicht genug Leute beim Canasta-Spiel dabei waren, haben die Frauen die Männer dazu überredet, mit ihnen Canasta zu spielen. Sie redeten und redeten, und sie sangen Lieder, aber es gab eine Regel. Die Regel lautete, dass sie niemals, niemals vor den Kindern über den Holocaust sprechen durften. Wir wussten nie, was passiert war: Es war verboten. Nur ab und zu bekamen wir einen kleinen Hinweis auf das, was da drüben passiert war. Das war also mein ganzes Leben lang so, dass ich zu diesen Abenden mitging, bis ich Marilyn traf. Ab dann bin ich dort nicht mehr hingegangen und habe meine Zeit mit Marilyn verbracht. Die Sonntagabende waren also tief in meinem Gedächtnis verankert. Und jetzt in diesem Lebensabschnitt kommen sie mir wieder in den Sinn.

Vor allem, weil ich eine Frau getroffen habe, die eine meiner Geschichten in dem neuen Buch mitgeschrieben hat. Ihr Name ist Zekina, eine Deutsche, und wir schrieben zusammen. Ich traf mich mit ihr: Sie war auch sehr verzweifelt, weil ihr Vater ein Nazi war, der in den Konzentrationslagern arbeitete und Juden tötete; sehr viele Juden in Minsk und in Russland; und ihr Vater war rücksichtslos und grausam und missbrauchte sie sexuell. Sie wurde kurz nach dem Krieg geboren; ihr Vater war schrecklich; und als sie älter war, zwang er sie, mit ihm zu schlafen. Als sie etwa 16 Jahre alt war, bekam sie ein gutes Stipendium für eine Schule in Deutschland und kam nie wieder nach Hause zurück. Sie kehrte nie, nie zu ihren Eltern zurück. Und dann wurde sie Therapeutin. Sie ist eine bemerkenswerte Frau, und dann beschloss sie … sie traf einen israelischen Mann, einen Lehrer, namens Dan Bar-On. Ich kenne seine Arbeit nicht, aber er ist ein sehr bekannter Lehrer und sie hat mit ihm gearbeitet. Dann widmete sie den Rest ihres Lebens einer Aufgabe, sie tut es immer noch. Sie unterrichtet vier Monate im Jahr Psychotherapie in Israel und zwar unentgeltlich. Eines Tages rief sie mich an und bat mich um Hilfe bei ihren Problemen. Sie war eine meiner Patientinnen. Dann wollte sie sich wieder mit mir treffen und dann ein drittes Mal und das taten wir. Dann habe ich eine Geschichte über sie geschrieben: eine meiner 35 Geschichten. Aber dann war es sehr überraschend für mich, dass ich ihr etwa einen Monat nach unserem Treffen meine Geschichte schickte. Aber in der Antwortmail schickte sie mir ihre Geschichte – über ihr Treffen mit mir … und das war das erste Mal: Niemand sonst hat das je getan. Also trafen wir uns wieder. Von den Menschen, die nur eine Sitzung hatten, treffe ich nicht viele ein zweites Mal. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht der Meinung, dass wir uns nur einmal mit den Patienten treffen sollten, es liegt nur daran, dass mein Gedächtnis mit 90 Jahren so schlecht ist, dass ich das Gefühl habe, ich könnte keine fortlaufende Therapie leiten. Also habe ich ihr geschrieben und sie wiedergesehen. Dann habe ich eine zweite Geschichte über sie geschrieben, über ihren zweiten Besuch. Und tatsächlich, zwei Wochen später schickt sie mir ihre Geschichte über unsere zweite Sitzung. Also beschlossen wir, dass wir gemeinsam eine Geschichte veröffentlichen sollten. Von uns beiden – geschrieben über uns beide. Aber jetzt, wo ich mir mein Buch ansehe, ist die Geschichte viermal so lang wie jede andere Geschichte – sie passt also nicht in das Buch. Ich werde einen Weg finden, sie irgendwo anders zu veröffentlichen. Sie ist eine bemerkenswerte Frau.

Das ist also die eine Geschichte, die ich geschrieben habe. Sie wird nicht in diesem Buch stehen, aber der Grund, warum ich Ihnen das alles erzähle, ist, dass ich sie getroffen habe, und dass mir viele Dinge von diesen Sonntagabendessen und meiner Familie und von Depreshina selbst wieder eingefallen sind, die ich nicht einmal wusste. Das ist nicht neu; es gibt viel Literatur über die Weitergabe von Traumata von Generation zu Generation, was unbewusst erfolgt, und ich fange an, Dinge aus dem Holocaust zu erleben: … Dinge, von denen ich nicht wusste, dass ich sie wusste, also das war … das war eine neue Erfahrung für mich … und darüber werde ich mit ihr schreiben.

EL: Ich verstehe, aber, Professor Yalom, lassen Sie uns ein wenig auf Ihr fast lebenslanges Interesse am Tod eingehen, denn in Ihren Büchern wie The Schopenhauer Cure, A Matter of Death and Life, Staring at the Sun geht es mehr oder weniger um den Tod, um den Prozess des Sterbens, und ich frage mich, ob vielleicht dieses Geheimnis, das bei Ihren Sonntagsessen gehütet wurde, nicht über den Holocaust zu sprechen, ob das vielleicht unbewusst Ihr Interesse am Tod hervorgerufen hat: Was ist er? Was bedeutet er? Und wie geht man damit um?

IY: Ich denke, Sie haben absolut Recht. Das war mir nicht bewusst. Zu dieser Zeit war es mir nicht bewusst, aber es kommt langsam alles hoch. Ich hatte viele schlechte Träume. Ich habe verschiedene Medikamente gegen Depressionen und andere Dinge ausprobiert und ich hatte viele Albträume. Einer der Träume war nicht so sehr ein Albtraum, aber ich hatte ihn, nachdem ich Zekina, die deutsche Frau, getroffen hatte, und der Albtraum begann und wir hatten den Titel der Geschichte und zwar, was der israelische Student zu ihr gesagt hat: «Wir haben auf dich gewartet». Er kam nach ihrem ersten Lied zu ihr: «Weisst du, wir haben auf dich gewartet; wir haben auf einen Nazi gewartet, der für das büsst, was seine Eltern den Juden angetan haben.» Es ist eine wunderbare Geschichte; ein wunderbarer Titel für die Geschichte, dachte ich: «Wir haben auf dich gewartet». Dann hatte ich diesen Traum: Da war ein Traummacher, der mich besuchte und zu mir sagte: «Nein, ich habe einen besseren Titel für diese Geschichte.» Und ich sagte in meinem Traum: «Was? Ich habe schon einen guten Titel.» «Nein, wir wollen, dass du der Geschichte einen anderen Titel gibst, und zwar: ‹Psychotherapie-Duo› oder ‹Psychotherapie-Duett›.» Es war einer von beiden; man bot mir einen dieser beiden Titel an. Das war sehr seltsam, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr sprach etwas dafür – denn sie kam zu mir, um eine Psychotherapie zu machen, aber ich bekam auch eine von ihr. Sie hat all diese Dinge über meine Vergangenheit aufgewühlt, die ich nicht kannte, von denen ich dachte, ich würde sie nicht kennen. Es war also nicht nur so, dass ich ihr etwas gab, sondern sie wühlte diese ganze Vergangenheit auf, all jene Sonntagabende; all diese Holocaust-Sachen, die aus der Vergangenheit kamen. Da wurde mir also bewusst, dass meine Vergangenheit und der Holocaust in Deutschland in mir aufgewühlt wurden.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich einen Traum. Darüber werde ich jetzt in einer Geschichte schreiben. Mein Vater hatte einen jüngeren Bruder, es waren vier Kinder. Der ältere Bruder, der früher hier angekommen war, eröffnete ein kleines Lebensmittelgeschäft in Washington und konnte meinem Vater etwa 200 Dollar schicken. So konnte er meinen Vater von Russland in die Vereinigten Staaten holen, und mein Vater brachte seine Schwester und einen weiteren Bruder mit. Sie waren also zu viert. Aber der jüngere Bruder meines Vaters, sein Name war Abe – er kam zwar hierher, aber nicht mehr rechtzeitig genug, um seine Frau und seine Kinder zu holen, sie wurden alle von den Nazis umgebracht.

Dann hatte ich plötzlich einen Traum, obwohl es sowohl eine Erinnerung als auch ein Traum war, und den Traum hatte ich, als ich zwölf Jahre alt war. Das ist eigentlich kein Traum, es ist wirklich passiert, aber ich hatte es vergessen. Als ich zwölf Jahre alt war, brachten sie mich zu meinem Onkel. Mein Onkel Abe bekam einen kleinen Lebensmittelladen in Washington, D. C., in der Nähe der Marinewerft, die in einem sehr schlechten Teil der Stadt lag, und sonntags und samstags lösten alle, die in der Marinewerft arbeiteten, ihre Schecks bei ihm ein. Er machte ihnen kleine Sandwiches und so verdiente er sein Geld. Aber am Samstag schickten sie mich zur Bank. Ich war ungefähr elf oder zwölf Jahre alt: Ich glaube, sie schickten mich in einem Taxi. Ich ging in die Bank und der Manager wartete auf mich. Er nahm mich mit in sein Büro, legte mir einen Gürtel um die Taille und stopfte ihn voll mit Geld. Ich weiss nicht wie viel, wahrscheinlich ein paar tausend Dollar.

EL: Das war damals eine ganze Menge Geld.

IY: Ein Geldgürtel. Das war eine Menge Geld zu dieser Zeit.

EL: Das war eine Menge Geld.

IY: In einem Geldgürtel. Dann habe ich mein Hemd wieder angezogen. Dann schickten sie mich zum Laden meines Onkels. Im Traum musste ich die zehn Blocks zum Laden meines Onkels laufen; aber jetzt weiss ich, ich erinnerte mich später daran, das war nicht der Fall, das würden sie nicht tun, in dieser Gegend. Sie setzten mich in ein Taxi zum Laden meines Onkels. Sobald ich dort ankam, packte mich mein Onkel, nahm mich mit ins Hinterzimmer, nahm das Geld aus dem Geldgürtel und löste damit die Schecks ein. Danach ging ich in den kleinen Laden meiner Tante, zwei oder drei Strassen weiter. Sie liess mich den ganzen restlichen Nachmittag am Flipperautomaten spielen. Das war meine Belohnung dafür. Später begann ich zu denken: «Das ist verrückt. Wie konnten sie mich nur in solche Gefahr bringen?» Aber es stimmt, das ist wirklich passiert. Diese Art von Erinnerungen tauchen in meinen Träumen wieder auf. Frühe Erinnerungen, die ich völlig vergessen habe – also werde ich eine Geschichte darüber schreiben. Das ist mein nächstes Projekt.

Also jetzt schweife ich etwas ab. Wie auch immer, ich begann, seltsame, seltsame Albträume zu haben. Sie erzählten mir Dinge über das, was meine Familie in Russland durchgemacht hatte, die sie mir von sich selbst nicht erzählen wollten.

EL: Aber wissen Sie, in gewisser Weise ist es nicht nur ein Albtraum, sondern auch eine Art von Überprüfung: Worauf war Ihr Leben aufgebaut? Woraus bestand es im Sinne Ihrer Beziehungen, Ihrer Themen, was Sie hören durften. In gewisser Weise hat Ihre Familie eine Art von Persönlichkeit geschaffen, die, sagen wir mal, glücklicher und gesünder sein sollte, als sie selbst es war. Es verwundert mich, dass es nicht ganz so funktioniert hat.

IY: Ja, mir gefällt, wie Sie es ausdrücken. So hatte ich das noch nicht gesehen, aber ich denke, dass Sie damit sehr richtig liegen. Ja, das ist wunderbar. Ich wusste nicht, dass ich heute bei diesem Interview eine Therapie bekommen würde, aber Sie machen das sehr gut. (Lachen)

EL: Das ist wohl eine Berufskrankheit.

IY: Ja.

EL: Aber ich muss eine Sache nennen, die mich in Ihrem Buch sehr überrascht hat. Denn alle Kapitel, bis auf das letzte, sind sehr offen geschrieben, sehr … ich würde sagen, objektiv … die Fakten beschreibend, die Geschichte beschreibend, die Gefühle und Emotionen von Ihnen beiden beschreibend. Aber es ist ein bisschen, eine Art dokumentarische Geschichte. Es ist ein bisschen mehr wissenschaftlich in gewisser Weise, um jedem Leser zu helfen zu verstehen, was vor sich geht. Eine der sehr starken Aussagen, die Sie in diesem Text verwenden, ist, dass der Tod endgültig ist und danach nichts mehr passiert, und dass man sich deshalb für immer verabschieden muss und in gewisser Weise nicht mehr darüber nachdenken sollte. Aber im letzten Kapitel wird Ihr Text zu Poesie; Ihr Text ist ein Gespräch mit Marilyn, in der ersten Person, und Sie sprechen tatsächlich über Ihre Gefühle, Ihren Schmerz und Ihre Freude, mit der Sie Ihr ganzes Leben leben. Das verändert die ganze Atmosphäre des Buches wesentlich. Können Sie mir ein bisschen erzählen, wie es zu diesem Wechsel kam?

IY: Als ich mit Marilyn zusammen war, meinen Sie? Ja. Wie ich ihr geholfen habe … Das hat mein Leben enorm verändert. Wissen Sie, während Sie sprechen, kommen mir die Gedanken in den Sinn … Wissen Sie, das war so ein wichtiger Teil meines Lebens, und ich habe nie daran gedacht, als ich jünger war, die Gedanken waren nie da. Ich habe … jetzt habe ich eine Therapie begonnen – ich habe mehrmals eine Therapie begonnen, und Menschen mit einer Kindheit und Jugend, wie ich sie hatte, müssen viele Male in Therapie gehen. Wir wissen, dass das frühkindliche Trauma nicht verschwindet. Wenn ich mit Menschen spreche und sehe, dass sie in ihrer frühen Kindheit ein Trauma erlitten haben, weiss ich sofort, dass diese Menschen dieses Kindheitstrauma nicht überwinden werden, sie werden immer wieder eine Therapie brauchen.

Wie Sie wissen, gibt es in unserem Bereich einen wichtigen Test, den ACE-Test für negative Kindheitserfahrungen [Adverse Childhood Experiences], und dafür wird eine Punktzahl vergeben, und ich weiss, dass Menschen, die eine hohe ACE-Punktzahl haben, immer wieder eine Therapie brauchen: Das würde sicherlich auf mich zutreffen. Also habe ich auch eine Therapie begonnen. Als ich in der Psychiatrie war, war ich an der Johns Hopkins, und man war der Meinung, dass wir natürlich alle in Therapie sein sollten. Das Wichtigste, um Therapeut zu werden, ist, dass man selbst in Therapie ist – das haben sie immer gelehrt. Aber ich begann eine Therapie bei einer traditionellen Psychoanalytikerin, einer älteren Frau, die nicht jüdisch war, die nichts über das Judentum wusste, nichts über diese Kindheit, nichts über … und das kam in meinen 600 Therapiestunden bei ihr nie, nie zur Sprache: viermal pro Woche, drei Jahre lang. Das war meine erste Therapie, 600 Stunden; sie war nutzlos.

EL: Es war eine Verschwendung von Zeit und Geld.

IY: Eine Verschwendung von Zeit und Geld. Es wäre so sinnvoll für mich gewesen, eine Therapie zu machen. Ich habe das Gefühl, dass … ich war bei einer Therapeutin, ich denke, dass ich eine Menge Arbeit mit dieser schrecklichen Erfahrung machte. Ich habe sie nicht einmal anschauen können; sie sass hinter der Couch, so wie es die Analytiker tun. Ich musste meinen Hals recken, um sie zu sehen. Nie haben wir über unsere Beziehung zueinander gesprochen. Oh, das tut mir leid. Ich wusste nicht genug, um da herauszukommen, um eine andere Art von Therapie zu machen. Ich bin jetzt bei einem Therapeuten, der ganz wunderbar ist und mir hilft, all diese Dinge neu zu betrachten. Also ja, ich glaube nicht, dass die Therapie, die ich früher gemacht habe, wirklich nützlich war. Ich hatte einige Therapien. Ich habe darüber geschrieben. Ich weiss nicht mehr, wo – ich habe vergessen, wo –, aber ich erinnere mich, dass ich, als ich mit der Arbeit in meinem Bereich begann, nach Stanford kam. Mir wurde dort eine Stelle angeboten. Ich hatte grosses Glück. Es war eine brandneue medizinische Hochschule. Stanford war früher in San Francisco, jetzt wurde eine auf dem Stanford-Campus gegründet, 30 Meilen entfernt. Und wir brachten neue Leute mit; wir waren alle ungefähr gleich alt: sechs, sieben junge Türken, und wir gründeten eine neue Abteilung, und ich bekam von einem Vorsitzenden namens Dave Hamburg, der irgendwie etwas in mir sah, das Gefühl: «Er wird mich tun lassen, was immer ich will.» Er gab mir keinen Job, sagte mir nicht, wie ich etwas machen sollte; er liess mich einfach sein – und ich begann, alle möglichen interessanten Dinge für mich zu tun.

Eine Frau, die ich fünf oder sechs Mal in Therapie hatte, war an Brustkrebs erkrankt: Sie hatte einen metastasierenden Krebs, der sich auf andere Teile ihres Körpers ausgebreitet hatte. Er war tödlich. Es gab keine Behandlung. Nachdem ich sie ein paar Mal gesehen hatte, sagte sie zu mir (sie wusste, dass ich Gruppentherapie machte, ich hatte bei Johns Hopkins gelernt, wie man das macht): «Warum gründen Sie nicht eine Therapiegruppe für Frauen wie mich? Ich habe mehrere Freundinnen mit der gleichen Krankheit wie ich: Würden Sie eine Gruppe mit meinen Freundinnen gründen? Wir alle haben metastasierenden Brustkrebs.» Ich stimmte zu. Eine solche Gruppe hatte es vorher noch nie gegeben, niemals. Ich begann, mich mit diesen Frauen zu treffen. Ich habe mich jahrelang mit ihnen getroffen, jahrelang, viele Jahre lang: Alle starben nach ein oder zwei Jahren und es kamen neue Leute in die Gruppe. Es war ein unvergessliches Erlebnis, aber es hatte auch irgendwann Auswirkungen auf mich. Ich begann, grosse Angst vor dem Tod zu empfinden, beschäftigte mich mit dem Tod, meinem Tod, dem meiner Eltern. Dann beschloss ich, mich wieder in Therapie zu begeben. Es gab ein Buch, das einen enormen Einfluss auf mich hatte, als ich Psychiatrie studierte, von Rollo May, der in den USA eine sehr bekannte Persönlichkeit war. Es heisst Existence. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, wusste ich, dass ich keine Erfahrung hatte. Ich hatte keine Kurse in Philosophie belegt, weil ich so sehr damit beschäftigt war, naturwissenschaftliche Kurse zu belegen, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Ich beschloss, etwas über Philosophie zu lernen. Also begann ich, Kurse zu belegen, Abendkurse in Philosophie an der Johns Hopkins, und ein ganzes Jahr lang ging ich jeden Tag hin, um etwas über Philosophie zu lernen – also ich hatte grossen Respekt vor diesem Mann Rollo May.

Er war zu dieser Zeit gerade nach Kalifornien gezogen. Also fragte ich ihn, ob ich eine Therapie bei ihm beginnen könnte, und er war sehr bereit dazu. Ich fuhr zu seinem Haus, das etwa eine Stunde und 20 Minuten von meinem Haus in Kalifornien entfernt war, und ging etwa anderthalb Jahre lang zu ihm. Er war sehr hilfsbereit und es war sehr hilfreich, über den Tod zu sprechen … darüber sprechen zu können. Dinge, die den Tod betreffen: Ich war jemand, der etwas darüber wusste. Ich bin Rollo May also sehr zu Dank verpflichtet. Jahre später wurde ich ein sehr enger Freund von ihm. Tatsächlich war ich bei ihm, als er starb; seine Frau rief mich an und sagte, er wolle mich sehen. Ich war also in dem Moment, als er starb, bei ihm. Er hatte grossen Einfluss auf meine Arbeit. Das war der Therapieverlauf, der mir sehr, sehr nützlich war und mir half, mit einer starken Identitätsangst umzugehen.

Jetzt, in meiner Arbeit, in meiner eigenen Trauer, ist es für mich bemerkenswert, wie wenig Todesangst ich im Moment habe. Ich denke an Marilyn … und dann kommt mir der Gedanke, es ist ein seltsamer Gedanke – er entspricht überhaupt nicht dem, was ich wirklich glaube –, aber ich sage mir: «Wenn ich sterbe, werde ich bei Marilyn sein.» Das tröstet mich. Aber wenn ich das mit meinem wissenschaftlichen Verstand betrachte, denke ich, das ist völlig absurd. Das ist verrückt. Ich werde nicht bei Marilyn sein: Marilyn existiert nicht: Es gibt kein Leben nach dem Tod, ich bin überzeugter Atheist, seit ich 13 war und für meine Bar Mitzwa lernte. Ich hatte meinen Vater gefragt: «Papa, glaubst du an Gott?» Und mein Vater, der ein guter koscherer Jude war, der in die Synagoge ging, wann immer er konnte, sogar an Samstagen, wenn sein Laden geöffnet war – aber er betrachtete sich als Jude –, er sagte zu mir, er sah mich an und sagte: «Wie kannst du nach dem Holocaust noch an Gott glauben?» Ich sehe das, als wäre es gestern passiert. Nein, ich habe nie an Gott geglaubt; ich habe nie an irgendein anderes religiöses Dogma geglaubt.

Und doch bin ich hier und freue mich auf Marilyn und eine Welle des Trostes überkommt mich. Ich sehe, dass diese beiden Teile meines Geistes einfach nichts miteinander zu tun haben. Ich erkannte also, welchen Trost religiöse Überzeugungen den Menschen bieten können, auch wenn ein wissenschaftlicher Teil ihres Verstandes vielleicht gar nicht daran glaubt. Das ist es also, was mir passiert ist. Ich habe keine Angst vor dem Tod, und das liegt zum grossen Teil daran, dass ich mein Leben nicht wirklich bedauere. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann nicht glauben, wie gut ich mein Leben gemeistert habe, wenn man bedenkt, wie mein Leben begonnen hat. Ich bereue also nichts. Ich habe gut gelebt; ich bin stolz auf alle Bücher, die ich geschrieben habe; ich bin so froh, dass ich mein ganzes Leben mit Marilyn verbracht habe. Es gibt also eine Formel, die ich gefühlt habe; sie ist nicht originell; ich bin mir sicher, dass die Formel lautet: Je weniger man sein Leben bereut, desto weniger Angst wird man vor dem Sterben haben. Und das hat sich für mich bewahrheitet und es ist auch jetzt so. Ich bereue nicht, wie ich mein Leben gelebt habe, und ich habe nur sehr wenig Angst vor dem Tod.

EL: Aber kann man das als eine Art Rezept oder Regel verstehen, wie man mit Todesangst umgeht: Man muss ein gutes Leben führen. Man muss seine Taten so wenig wie möglich bedauern.

IY: Ja. Schauen wir uns also das Bedauern an, das Sie im Moment in Ihrem Leben haben, was bedauern Sie? Wie können Sie anfangen, das zu ändern? Das ist der Punkt, nach dem ich gefragt habe. Wenn ich in Therapie gehe, kommen die Leute mit ihrer Todesangst zu mir. Ich bin direkt dorthin gegangen. Ich fange an, da hinzusehen. Was tun Sie jetzt, von dem Sie spüren, dass Sie das später bereuen werden? Aber werden Sie das überhaupt? Woher kommt das alles? Schauen wir mal, was Sie jetzt in Ihrem Leben ändern können. Darauf konzentriere ich mich in meiner Arbeit mit den Patienten sehr stark.

EL: Wir wissen also, als Art universelle Regel, dass man jeden Tag über seinen Tod nachdenken muss, und zwar so, dass man später nichts bereuen wird.

IY: Das ist richtig. Ich glaube, dass Sie genau das sagen, was ich sehr stark empfinde. Ich möchte nichts bereuen; ich möchte freundlich zu den Menschen sein. Das ist es, was ich an meiner Arbeit liebe, sogar an diesen einzelnen Sitzungen. Im Moment sehe ich einen Patienten pro Tag: Das ist alles, was ich tun kann, das ist alles, wozu mein Verstand in der Lage ist. Aber ich freue mich darauf. Wenn ich diesen Patienten sehe, möchte ich alles tun, um ihm zu helfen.

Wissen Sie, ich habe einen Patienten, der ein schreckliches, schreckliches frühes Leben hatte: Es war furchtbar. Seine Eltern waren lieblos zu ihm und er hat nie Nähe erfahren. Ich stelle jedem Patienten die gleiche Frage. Ich frage: «Wer ist die Person, die Ihnen in Ihrem Leben am nächsten steht?» Es gibt Menschen, die mir sagen, … sie schütteln den Kopf; sie wissen nicht, wie sie darauf antworten sollen; es gibt niemanden, dem sie wirklich nahestehen. Ich könnte mit ihnen darüber reden, warum es nicht so ist, und das ist alles interessant und gut, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihnen in diesen einzelnen Sitzungen die Erfahrung von Nähe vermitteln will. Ich versuche, sie ihnen zu geben und nicht nur über die Vergangenheit zu sprechen. Ich habe also in meinen einzelnen Sitzungen sehr bizarre Dinge getan. Darüber schreibe ich jetzt.

Therapeuten tun so etwas nicht und viele könnten sehr verärgert über mich sein. Aber ich sage dann zu ihnen, zu den Patienten: «Wissen Sie, ich stelle Ihnen eine Menge Fragen. Lassen Sie uns die Rollen tauschen. Sie stellen mir Fragen. Ich verspreche Ihnen, dass ich jede Frage beantworten werde. Je tiefer, desto besser, je persönlicher, desto besser. Sie stellen mir Fragen.» Sie sehen mich verwirrt an; sie haben noch nie von Therapeuten gehört, die so etwas tun. Ich sage: «Ich meine es ernst. Stellen Sie mir eine Frage.» Sie wissen dann meist nicht, wie sie das machen sollen. Schliesslich fangen sie an, Fragen zu stellen. Ein Patient fragte: «Wissen Sie, Sie … Sie waren … Wie haben Sie Marilyn kennen gelernt? Wie haben Sie Freundschaft geschlossen? Worüber haben Sie gesprochen? Wie haben Sie andere Freunde gefunden?» … Und sie stellen mir eine ganze Menge solcher Fragen. Ich antworte so offen und ehrlich, wie ich kann. Am Ende der Sitzungen sind sie dann oft den Tränen nahe. Sie sagen dann: «So nah war ich bisher noch niemandem.» Mir kommen die Tränen, wenn ich nur daran denke. Ich versuche also, ihnen in der Sitzung eine Erfahrung von Nähe zu bieten, nicht eine Diskussion über Nähe. Ich mache also verschiedene Dinge auf diese Weise. Mit viel Offenheit; viel Offenheit ihnen gegenüber; einem starken Fokus auf das, was wir in der Gruppentherapie «Arbeit im Hier und Jetzt» nennen; wir arbeiten nicht an der Vergangenheit, sondern an dem, was jetzt gerade passiert, zwischen ihnen und mir, und das tue ich ausgiebig in diesen Sitzungen, und das macht die Sitzung auf jeden Fall wichtiger und bedeutungsvoller für sie, und immer wieder habe ich Patienten, die mir schreiben. Ich bitte alle, mir in vier Wochen zu schreiben, um mir mitzuteilen, wie es für sie war; ich versuche, meine Therapie immer zu verbessern – selbst im Alter von 90 Jahren. «Erzählen Sie mir, an was aus dieser Sitzung Sie sich erinnern können?» Und jeder Einzelne schreibt mir zurück: «Diese Sitzung werde ich nie vergessen.»

Ich versuche also, auch in meinem Alter noch neue Dinge auszuprobieren, um mit viel Kraft und Stärke ins Hier und Jetzt zu kommen. Und darum geht es in dem neuen Buch.

EL: Aber, Herr Professor, damit schaffen Sie tatsächlich existenzielle Begegnungsmomente. Und diese existenziellen Begegnungen bedeuten, dass die Menschen Erfahrungen machen, die sie vielleicht noch nie in ihrem Leben gemacht haben. Das kann sehr tief und sehr bewegend sein.

IY: Ganz genau. Das ist genau das, was ich versuche: ihnen eine Erfahrung zu geben, die sie in ihrem Leben noch nie gemacht haben. Denn ich glaube, das ist für Menschen, die ein sehr, sehr entbehrungsreiches frühes Leben hatten, viel nützlicher. Ich denke, für diese Menschen ist es besonders wichtig.

EL: Aber ich stelle mir auch die andere Seite des Prozesses vor. Sie spüren ja auch etwas Neues, weil die Biografien Ihrer Patienten wirklich sehr bizarr, sehr schmerzhaft, sehr seltsam sind. Sie erleben diesen existenziellen Moment ja auch.

IY: Ja, ja, ja. Wenn ich die Leute frage: «Wem stehen Sie am nächsten?», und sie schütteln den Kopf, schauen verwirrt und können mir nicht antworten, dann weiss ich genau, wo ich hin muss. Ich muss ihnen Nähe anbieten, auch wenn es nur für diese eine Stunde ist, und ihnen alle Fragen beantworten, die sie mir stellen wollen. Das ist noch nie nach hinten losgegangen.

EL: Allerdings haben Sie zu Beginn unseres Gesprächs gesagt, dass Sie sich jetzt ziemlich einsam fühlen, weil alle Ihre Freunde, die Sie Ihr ganzes Leben lang begleitet haben, verstorben sind und Sie jetzt der Letzte sind. Ist diese Einsamkeit also nicht auch eine Art existenzielle Tatsache in Ihrem aktuellen Leben?

IY: Sie stellen da eine ganz wunderbare Frage. Wirklich, diese Frage hat mir noch niemand gestellt und das ist für mich auch eine Therapie. Ich habe diese Art von Nähe, und wenn es nur für eine Stunde ist, jeden Tag mit jemand anderem. Es ist auch sehr, sehr heilsam für mich, mit all den mir nahestehenden Menschen, die ich kenne, diese Nähe zu haben, natürlich auch mit meinen vier Kindern. Aber selbst gegenüber seinen Kindern gibt es Dinge, die man nicht ausspricht, die man nicht fühlt. Also ja, ich habe diese Erfahrung von Nähe, auch wenn ich einsam bin, auch wenn ich meine Abende allein verbringe. Ich … ich vermisse diese Nähe sehr. Es ist sehr schwer für mich, ohne meine Frau zu sein.

EL: Heisst das nicht, dass Sie eigentlich schon auf den nächsten Patienten am nächsten Tag warten? Denn das Gespräch mit ihm wird wieder völlig unerwartet und tiefgreifend sein.

IY: Ja, da haben Sie völlig recht. Ja, ich freue mich auf die Patienten. Ich werde heute Nachmittag um 16 Uhr einen sehen. Wenn die Patienten in den USA leben, sehe ich sie gegen 16 oder 17 Uhr. Wenn sie in Europa leben, die meisten von ihnen leben in Europa, sehe ich sie gegen 11 Uhr morgens. Ich sehe also jeden Tag einen Patienten und ich freue mich darauf. Und es ist, es ist, es ist definitiv, ja, ich gebe diesen Patienten etwas, aber die Vorstellung, dass ich sie sehe, gibt auch mir etwas. Jeden Tag, wenn ich diese Menschen sehe, fühle ich mich … ich werde dieser Person alles geben, was ich kann, und ich bin wieder in meiner Rolle als Gebender, als Therapeut, und es gibt mir ein gutes Gefühl, das den Menschen bieten zu können.

EL: Können wir also in gewisser Weise zusammenfassen, dass Authentizität ein Schlüssel zum Erfolg ist, wenn wir unseren Patienten bestmöglich helfen wollen?

IY: Daran glaube ich sehr, sehr stark. Sie sagen es genau richtig. Das ist allerdings genau das Gegenteil des Therapieansatzes, also des strengen Freud’schen Ansatzes, bei dem man sich von den Menschen distanziert und nicht wirklich eine Beziehung zu ihnen aufbaut. Ich weiss, dass sich viele Therapeuten mit meinem Ansatz unwohl fühlen. Sie sagen diese Dinge, weil man uns sagt, wir sollen Abstand halten, die Patienten nicht an uns heranlassen. Ich weiss, dass ich vielen Therapeuten damit auf die Nerven gehe, wenn ich sage, dass man auch etwas von sich selbst preisgeben soll, aber es hat bis jetzt in allen Fällen geholfen. Da war zum Beispiel diese Frau, sie kam zu mir in die Therapie, ein junges Mädchen, ich glaube, sie war ungefähr 22 oder 23. Sie hatte eine sehr, sehr furchtbare Erziehung und lebte in einem Kloster, obwohl sie verheiratet war. Es war sehr seltsam, sie sah ihren Mann nur ein- oder zweimal im Monat … und ich bat sie, mir jede Frage zu stellen, die sie wollte, und ihre Frage war: «Wie ist Ihr Sexleben?» Das hatte mich noch nie ein Patient gefragt. (Lachen)

EL: Das war sehr ehrlich, sehr ehrlich.

IY: Ja, sehr ehrlich. Ja, aber sie hatte auch eine Lebenserfahrung, wissen Sie, ohne Beziehungen zu anderen Menschen. Also habe ich versucht, ehrlich zu sein. Ich sagte: «Nun, wissen Sie, das ist eine peinliche Frage. Aber sagen Sie mir, was dachten Sie, wie ich mich bei dieser Frage fühlen würde?» So wählte ich diesen Weg. Das wäre ein Ausgleich. Als 90-Jähriger habe ich kein besonders ausgeprägtes Sexualleben, und so fiel es mir nicht schwer, diese Frage zu beantworten, vor allem nicht als 90-Jähriger, der allein auf der Welt ist, wissen Sie. «Aber sagen Sie mir, was meinen Sie, wie ich mich bei dieser Frage gefühlt habe? Denn sie war mir ein wenig peinlich.» Also habe ich diesen Weg eingeschlagen. Ich habe also weiterhin eine Therapie mit ihr gemacht, weil sie nicht weiss, wie man auf Menschen zugeht und wie man sich ihnen gegenüber verhält. Ich habe sie also nicht dafür gescholten, dass sie diese Frage gestellt hat, aber ich wollte sie darüber informieren, dass man, wenn man mit Menschen spricht, darüber nachdenken muss, wie man bestimmte Fragen stellt, und dass man die Menschen dann dazu bringt, etwas zu fühlen, und das war ihr nie beigebracht worden. Ich habe versucht, etwas Therapeutisches für sie zu machen, und sie war mir sehr dankbar dafür und schrieb mir später etwas darüber.

EL: Verstehe, Professor, können Sie unseren Zuhörern helfen, ein wenig darüber nachzudenken, was sie als Perspektive für ihr Leben im Alter haben. Was ein Therapeut tun und wie er leben kann, wenn er älter und älter wird. Haben Sie …?

IY: Ich habe da ein paar Worte nicht verstanden – der Ton ist nicht gut.

EL: Ich fragte, ob Sie einen Rat für Therapeuten haben, sowohl für Frauen als auch für Männer, die immer älter werden, und ob es irgendeine Art von Hilfe für diese im Alter abnehmenden biologischen Fähigkeiten gibt.

IY: Nun, man klärt die Menschen darüber auf, was vor ihnen liegt. Denn das kommt ja auf uns alle zu, wenn wir älter werden. Ich erzähle ihnen, was für mich von Bedeutung ist. Ich erzähle ihnen, was ich bedauere. Dass es für mich sehr wichtig ist, im Leben nichts zu bereuen. Ich fordere sie auf, sich zu überlegen, was sie an ihrem jetzigen Leben bedauern. Wie sie das ändern können. Und wie ich jetzt lebe – sicherlich auch mit Reue und Bedauern. Was ich an der Vergangenheit bereue ist … ich bereue, nicht liebevoll genug zu meiner Mutter gewesen zu sein, und voller, voller Zorn gegenüber ihr, aber jetzt … jetzt fühle ich ganz anders, wenn ich an sie denke … und ich wünschte, ich wäre netter zu ihr gewesen.

Dieser Onkel, von dem ich erzählt habe, für den ich das Geld abgeholt habe, ich … ich hatte eine grosse Veränderung in meinem Leben nach, nach diesem Traum, den ich von ihm hatte. Denn ich … ich betrachtete ihn als eine Art Tier. Er hatte keine Manieren. Er war zu niemandem nett. Aber als ich anfing, diesen Traum zu haben und über sein Leben nachzudenken und darüber, dass seine Frau und seine Kinder umgebracht wurden und … und woran ich mich erinnerte, war … ich spielte mit ihm und einem meiner guten Freunde von der medizinischen Fakultät Binokel: Er war der ehrlichste Mann, den man je gesehen hat. Ich liebe diesen Mann; dieser Mensch war mein lebenslanger Freund. Sein Name war Herb Cutts. Einmal spielten wir mit meinem Onkel Binokel, und mein Onkel beschuldigte ihn und mich, ihn zu betrügen – um Geld. Ich schämte mich so sehr für meinen Onkel. «Er ist ja wie ein Tier», dachte ich. Ich wollte nie wieder etwas mit ihm zu tun haben, nie wieder meinen Freund mit zu ihm bringen. Und jetzt, nach dem Traum, glaube ich, dass ich einfach voller Mitgefühl für diesen Mann bin. Ich habe nie wirklich begriffen, was er durchmachen musste, dass seine Frau und seine Kinder von den Nazis umgebracht wurden. Wissen Sie, ich … ich habe jetzt einfach ein wärmeres Gefühl für diesen Mann, wenn ich darüber nachdenke. Das ist, das fühlt sich … das hat sich für mich geändert.

EL: Ich verstehe. Das heisst, der Traum hat Ihnen ein viel tieferes Verständnis für die Natur seiner Aggression gegeben, dass es tatsächlich der Schmerz war, der auf diese Weise an die Oberfläche kam.

IY: Ganz genau. Ja. Ich würde gern mal zu Ihnen in Therapie kommen. Sie stellen die Dinge so dar, dass es sehr hilfreich ist. In einem anderen Leben, ja, ich würde Sie gern als Therapeuten haben.

EL: Vielleicht sollte ich Sie um ein Honorar bitten. Um zum Kern unseres Gesprächs zu kommen, Professor Yalom, möchte ich auch eine Frage zum Thema Therapie an sich stellen, als ein Phänomen in der Welt – denn wir leben in ziemlich gefahrvollen Zeiten. Wir befinden uns auf dem Höhepunkt einer Pandemie, in der Zehn- und Hunderttausende Menschen durch ein Virus sterben. Wir sind in grosser Gefahr eines möglichen Krieges und die Ukrainekrise ist kein Spass. Wir haben also viele existenzielle Situationen, die die ganze Welt in Angst versetzen. Ist in dieser krisengeschüttelten Welt überhaupt noch Platz für Psychotherapie und Psychotherapeuten?

IY: Ja, auf jeden Fall. Die Krise ist so ernst und so gefährlich. Es ist so schwer, diese Frage zu beantworten, aber zumindest können wir in den ein, zwei oder drei Stunden, in denen wir uns mit den Menschen treffen, ein wenig Trost spenden und ein Gefühl von Intimität und Wertschätzung vermitteln. Wir erinnern die Menschen daran, dass wir dazu in der Lage sind. Das ist zumindest das, was ich fühle. Ich denke, das Letzte, was die Menschen jetzt brauchen, ist ein distanzierter Therapeut, der keine Beziehung zu ihnen aufbauen will. Wenn ich nach Therapeuten suche, an die ich Patienten verweisen kann, sage ich immer: «Wen kenne ich, der dieser Patientin oder diesem Patienten Nähe geben könnte und bereit wäre, sich dafür anzubieten». Das mache ich sehr oft. Ich versuche, gute Gruppen für die Menschen zu finden, weil sie andere Menschen brauchen. Ich bin … ich glaube immer noch fest an die Gruppentherapie.

EL: Ich auch, ich war mein ganzes Berufsleben lang Gruppentherapeut.

IY: Ja. Ja, ich weiss, ich weiss. Es gibt immer mehr, jetzt gibt es Gruppen für Therapeuten, die komplett aus Therapeuten bestehen, und es gibt ein Buch von einem Mann namens Weinberg, und ich schicke viele Patienten zu ihm, weil er von Therapiegruppen für Therapeuten in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt weiss. Ich befürworte das sehr.

Als ich nach Stanford kam, waren da diese sieben, acht jungen Türken, wir waren alle zusammen. Wir beschlossen, eine Gruppe zu gründen. Aber wir hatten keinen Leiter, es war eine Gruppe ohne Leiter. Und so trafen wir uns, ich glaube, wir trafen uns einmal alle zwei Wochen für eineinhalb Stunden. Aber die Gruppe traf sich, Sie werden es nicht glauben, aber die Gruppe traf sich 40 Jahre lang. Wir trafen uns alle zwei Wochen, 40 Jahre lang mit denselben Leuten in dieser Gruppe. Und es war eine wunderbare Therapie für uns während dieser ganzen Zeit. Ich blieb in dieser Gruppe, bis meine Frau vor zwei Jahren starb. Zu diesem Zeitpunkt war ich einfach nicht mehr in der Lage, weiterzumachen. Aber so lange blieb ich in dieser Gruppe. Sie hatte einen unglaublichen Nutzen für mich. Ich denke also, in einer Gruppe von Therapeuten zu sein, ist … eine wunderbare Idee. In einer Gruppe von Patienten zu sein, von denen einige vielleicht andere Patienten kennen: Das ist für Therapeuten unangenehm. Aber in einer Gruppe zu sein, die ausschliesslich aus anderen Therapeuten besteht, ist meiner Meinung nach von grossem Nutzen für uns, für Psychotherapeuten. Ich empfehle Ihnen dringend, solche Gruppen aufzusuchen.

EL: Okay. Also, Herr Professor, vielen herzlichen Dank. Unsere Zeit neigt sich leider dem Ende zu. Wir haben uns nun schon über eine Stunde unterhalten.

IY: Oh, ich war so in das Gespräch mit Ihnen vertieft, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie die Zeit vergangen ist.

EL: Ja, das tut mir leid. Es tut mir leid, dass es vorbei ist, es war mir eine grosse Freude, mit Ihnen zu sprechen. Ich hatte noch nie ein Interview, das mich so gefesselt hat. Ich danke Ihnen für diese Erfahrung. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre gesamte Lebenserfahrung mit diesen sehr lebendigen Erinnerungen an existenzielle Momente und Begegnungen mit Patienten und den schwierigsten, schmerzhaftesten Momenten ihres Lebens und ihren Gefühlen teilen. Vielleicht können Sie uns allen ein paar Worte dazu sagen, wie wir dieses Bedürfnis nach einem tiefen existenziellen Kontakt mit unseren Patienten überleben können, wie wir damit umgehen können.

IY: Es … erfordert … es erfordert einfach Erfahrung. Ich weiss, dass ich viele Therapeuten aufrüttle, indem ich sie dazu auffordere, authentischer zu sein. Aber, aber … ich sehe, es ist nur der Gedanke, dass ich ihnen Nähe anbieten werde. Ich hatte Patienten, die mir anschliessend geschrieben haben. Ich hatte ein Interview mit einer Organisation namens Evolution of Psychotherapy in the United States. Das ist jedes Jahr ein grosses Interview. Sie liessen mich diese Frau interviewen. Ich erzählte ihnen von einer Sitzung, die ich mit dieser Frau hatte, die die schlimmsten Sachen erlebt hatte, von denen ich je gehört habe. Ich hatte dieses Interview mit ihr, und es war, es war sehr bewegend. Ich sprach mit ihr darüber, wer ihr am nächsten stand, und sie konnte niemanden nennen, und dann sprach ich darüber, wie es für mich war, ihr nah zu sein und wie sie sich dabei fühlte. Und … und sie war so bewegt, und am Ende der Sitzung sagte sie zu mir: «So nah war ich noch nie jemandem.» Und sie weinte. Da konnte ich meine eigenen Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Ich weinte auch. Dann erzählte ich der Person von Evolution of Psychotherapy in the United States von dieser Sitzung und konnte meine Tränen wieder nicht zurückhalten, als ich über ihre Tränen sprach. Nachdem das Interview vorbei und die Aufzeichnung fertig war, etwa zwei Wochen später, war ich wegen meiner Tränen so verlegen, dass ich bei Evolution of Psychotherapy in the United States anrief und fragte: «Wann werden Sie das zeigen?» Sie sagten: «In ein paar Wochen.» Ich sagte: «Nun, ich bin, äh, ich bin ein wenig verlegen wegen meiner Tränen. Ich möchte, dass Sie diesen Teil des Gespräch aus dem Programm streichen. Es ist mir peinlich.» Und sie sagten: «Oh nein, das ist der bewegendste Teil unseres gesamten Programms. Zu zeigen, dass der Therapeut auch Tränen haben kann und so bewegt sein kann von dem Kontakt mit dem Patienten.» Es gehört schon ein bisschen Mut dazu, vielleicht auch eine Menge Hingabe, sich einem Patienten wirklich so zu zeigen, weil man weiss, dass das hilfreich ist, und ich rate Ihnen wirklich, das zu versuchen.

EL: Ja, aber auf diese Weise, Professor Yalom, haben Sie nicht nur davon gesprochen, sich dem Patienten hinzugeben. Sie öffnen sich auch für sich selbst. Durch diese tiefe Art, den Schmerz des Patienten zu spüren, öffnen Sie wirklich etwas in Ihrem Inneren.

IY: Man öffnet sich für sich selbst. Ich mag, wie Sie das ausdrücken. Das ist gut. Ja, das gefällt mir. Ich danke Ihnen.

EL: Vielen Dank, und ich hoffe, dass das, worüber wir gesprochen haben, für viele unserer Fachleute und Patienten hilfreich sein wird, und wir werden versuchen, mit Ihnen in Kontakt zu bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht, und vielleicht mehr Gespräche über diese Themen zu führen.

IY: Solange ich noch da bin – immer gern.

EL: Ich habe das Gefühl, dass wir uns noch einmal treffen werden.

IY: Das wäre wunderbar. Okay.

EL: Vielen Dank, bleiben Sie stark und seien Sie so fröhlich wie immer und so wie heute. Vielen Dank und bleiben Sie gesund.

IY: Vielen Dank. Auf Wiedersehen.

EL: Ich denke, das ist alles, denn ich nehme an, dass Sie mitbekommen haben, wie klug und einsichtig Professor Yalom war, und das lehrt eine Menge. Ich denke, jeder von uns, egal mit welcher Modalität, mit welchem Ansatz wir arbeiten, kann hier etwa mitnehmen.

Abschliessende Worte des Interviewers an das Kongresspublikum

Vielen Dank, liebe Freunde! Es wurde heute viel gesagt und ich denke, jetzt zum Abschluss des ersten Kongresstages sind nicht mehr viele Worte nötig. Aber wir bedanken uns bei Professor Yalom, dass er an unserem Kongress teilgenommen hat. Wir fühlen uns ausserordentlich geehrt, dass er uns dieses Geschenk gemacht hat.

Matters of Death and Life: For ourselves and for the Planet

Abstract: This interview was presented as a pre-recorded video at the EAP Congress on 12th and 13th March 2022 due to the fragile health condition of Irvin Yalom. The interview was conducted by Eugenijus Laurinaitis and is based on Yalom’s book A Matter of Death and Life (2021), wherein he reflected on his farewell from his wife, with whom he had been together since he was 14 years old, and the subsequent grieving process. Now at the age of 91 years and being unwell, Yalom is in the process of coming to terms with his own death. This interview produced a highly personal account of his life and work. He explains how important writing has always been to him and how it helped and continues to help him overcome crises by putting them into words. The audience gains an insight into Yalom’s Jewish-Russian background and his family during the Second World War and how this shaped him, and you realise that he was a severely traumatised child, who unknowingly absorbed the transgenerational consequences of the traumatisation of his entire family over the course of his life. Against this backdrop, he points out that, when working with people who have been exposed to such extreme experiences, therapy requires relationships which make the experiencing of closeness possible, something that was missing in his early childhood. In light of the current threats to life on our planet, he recommends this not only in the practical therapeutic setting, but also for therapists working with therapy groups to enable them to process how they themselves deal with the existential issues raised in the face of the pandemic, war, and climate catastrophe. It is worth viewing the original English version of the video. It is available on the EAP website (https://www.europsyche.org/latest-news-2/latest-news). A written English version of the interview was published in 2022 in International Journal of Psychotherapy, 26(2).

Keywords: crisis, dying, death, life, holocaust, war, pandemic, climate catastrophe, therapeutic relationship, self-care

À propos de la vie et de la mort : la nôtre et celle de la planète

Résumé : Cette interview a été présentée les 12 et 13/03/2022 sous la forme d’une vidéo préenregistrée à l’occasion du congrès de l’EAP du fait de l’état de santé incertain d’Irvin Yalom. Elle a été menée par Eugenijus Laurinaitis et s’inspire du livre de Yalom A Matter of Death and Life (2021), dans lequel il évoque son processus d’adieu et de deuil de son épouse, avec laquelle il était lié depuis l’âge de 14 ans. Yalom a désormais 91 ans et est malade, si bien qu’il se prépare désormais à sa propre mort. Cette interview a donné naissance à un document très personnel sur sa vie et son œuvre. Il décrit à quel point l’écriture était et continue à être importante pour lui, comment écrire l’a aidé et l’aide encore à surmonter les crises auxquelles il a dû et doit faire face. On en apprend beaucoup sur sa vie et celle de sa famille, juifs russes pendant la Seconde Guerre Mondiale. On découvre à quel point cette guerre l’a marqué et on comprend qu’il a été un enfant profondément traumatisé, qui a adopté sa vie durant et à son insu les conséquences transgénérationnelles du traumatisme de l’ensemble de sa famille. Cela étant, il souligne à quel point il est primordial pour les personnes ayant vécu de telles expériences extrêmes de pouvoir lier de vrais liens dans le contexte thérapeutique afin de compenser une proximité inexistante dans leur plus tendre enfance. Au vu des menaces qui planent actuellement sur la vie sur notre planète, c’est exactement ce qu’il recommande aux cabinets thérapeutiques, mais aussi aux groupes de thérapie pour thérapeutes, dans lesquels ils peuvent travailler sur la manière dont ils doivent eux-mêmes aborder les sujets existentiels auxquels ils sont confrontés du fait de la pandémie, de la guerre et de la catastrophe climatique. Jetez également un coup d’œil sur la vidéo dans sa version anglaise originale. Elle est disponible sur le site web de l’EAP (https://www.europsyche.org/latest-news-2/latest-news). Une version anglaise écrite est parue en 2022 dans l’International Journal of Psychotherapy, 26(2).

Mots clés : crise, décès, mort, vie, holocauste, guerre, pandémie, catastrophe climatique, relation thérapeutique, self-care (prendre soin de soi)

Sulla morte e sulla vita: per noi stessi e per il pianeta

Riassunto: Questa intervista è stata presentata sotto forma di video preregistrato al Congresso EAP il 12 e 13 marzo 2022 a causa dello stato di salute incerto di Irvin Yalom. È stata condotta da Eugenijus Laurinaitis e si basa sul libro di Yalom A Matter of Death and Life (2021), in cui l’autore riflette sul processo di separazione e di rielaborazione del lutto per la perdita della moglie, con cui stava dall’età di 14 anni. Yalom ha ormai 91 anni, è malato e si sta preparando alla propria morte. Da questa intervista nasce un documento molto personale sulla sua vita e opera. Descrive quanto la scrittura sia stata e sia tuttora importante per lui, come lo abbia aiutato e lo aiuti tuttora a superare le crisi, a rielaborarle. Si apprende molto sul background ebraico-russo di Yalom e della sua famiglia durante la Seconda guerra mondiale, su come questa esperienza lo abbia plasmato e si capisce che è stato un bambino gravemente traumatizzato che, senza saperlo, avrebbe riportato le conseguenze transgenerazionali del trauma dell’intera famiglia nel corso della sua vita. Date queste premesse, egli sottolinea che quando si lavora con persone che sono state esposte a esperienze così estreme, ciò che serve in terapia è una vera esperienza relazionale in cui sia possibile sperimentare la vicinanza, mancata nella prima infanzia. Alla luce delle attuali minacce alla vita sul nostro pianeta, egli raccomanda proprio questo per la pratica terapeutica, oltre a gruppi di terapia per terapeuti, in cui questi ultimi possano lavorare su come essi stessi affrontano le questioni esistenziali sollevate in loro da pandemie, guerre e catastrofi climatiche. Vale la pena di guardare il video anche nella versione originale inglese. Può essere visualizzato sul sito web dell’EAP (https://www.europsyche.org/latest-news-2/latest-news). Una versione scritta in inglese è apparsa nel 2022 sull’International Journal of Psychotherapy, 26(2).

Parole chiave: crisi, morire, morte, vita, olocausto, guerra, pandemia, catastrofe climatica, relazione terapeutica, autoterapia

Der Interviewer

Prof. Eugenijus Laurinaitis ist Psychiater, Psychotherapeut, Gruppenanalytiker und emeritierter Professor für Psychiatrie an der Universität von Vilnius, Litauen. Er verfügt über eine reiche Erfahrung als Psychotherapeut und Gruppentherapeut sowie als Lehrer und Forscher auf dem Gebiet der Psychotherapie. Er ist der Generalsekretär der European Association for Psychotherapy (EAP).

Kontakt

eugenijus.laurinaitis@gmail.com

1 Quelle: Kongressprogramm (https://eap-hope.at).

2 Hier und im Folgenden wird meist das generische Maskulinum verwendet, um dem Wortlaut des engl. Originals möglichst nahezukommen.