Jeannette Fischer
Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 79–85
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-79
Zusammenfassung: Eine intersubjektive Beziehung ist eine, in der das eine Subjekt das andere als Nicht-Ich, als anderes Ich anerkennt. Mit der Anerkennung der Differenz fällt die Über-Heblichkeit und damit das Machtgefälle, fällt Kontrolle und Verwaltung des zu beherrschenden ‹Objektes› weg, die Voraussetzung für jeden Krieg sind. Bindungen, die einen Herrschaftsdiskurs erschaffen, erfordern das Axiom der Schuld, das unentbehrliches Instrument zur Ermöglichung von Gefälle und Hierarchie, von Ausbeutung und Eigennutz ist. Der Träger der Schuld ist der Sündenbock, der nun legitim ausgegrenzt oder gar getötet werden darf. Zwischen Menschen, in Gruppen und Nationen, wird eine symbiotische Einheit und Einigkeit zelebriert und damit bleibt die Differenz ausgegrenzt. Es entstehen neue Formen der Lust, die nicht mehr eine Lust an der Differenz ist, sondern eine, der die Gewalt inhärent ist: Des einen Abwertung ist des anderen Aufwertung, die dann als Potentsein erfahren wird. Die Erniedrigung, die Bezwingung des anderen führt an der Lust an der eigenen Potenz vorbei, weil sie zu einer Lust am Leiden und an der Not des anderen wird und an diese gebunden bleiben. Der lustvolle Moment eines Voyeurs ist auch gegenüber dem eigenen Ich gewalttätig, weil dieses Ich als beteiligter Faktor ausgeschaltet wird und im Triumph seiner Nichtbetroffenheit Lust verspürt. Herrschaft ist nur möglich über ein hierarchisches Gefälle und der Kontrolle über das Begehren. Das alles ist Krieg. Krieg ist in unserer Gesellschaftsform bereits angelegt.
Schlüsselwörter: Intersubjektiver Diskurs, Anerkennung der Differenz, Schuld, Sündenbock, Voyeurismus, Lust
Eine intersubjektive Beziehung ist eine, in der das eine Subjekt das andere Subjekt als Nicht-Ich, als anderes Ich anerkennt. In der der eine Mensch den anderen als von sich selbst different bestätigt. Würde das jeder1 tun, gäbe es keinen Krieg. Krieg setzt voraus, dass der andere so zu sein hat, wie ich das möchte oder wie ich selbst bin. Krieg ist immer ein Übergriff und entspricht gleichwohl demjenigen zwischen zwei Menschen: Die kleine Geschichte ist die grosse. Im intersubjektiven Raum ist nicht die Macht über den anderen das Bindende, sondern mit der Anerkennung der Differenz bleibt gerade diese Über-Heblichkeit aus und befreit beide Beteiligten von der Arbeit, die mit Macht anfällt: Kontrolle und Verwaltung der zu beherrschenden ‹Objekte›. Im intersubjektiven Raum, im Raum der Anerkennung der Differenz, ist Auseinandersetzung, Konflikt und Begehren möglich.
Und dennoch hält sich in unserer Gesellschaft geradezu unerbittlich das Narrativ der Verkennung der Differenz: Wir kennen aus unseren Praxen die Vorwürfe der Partner und Partnerinnen: «Wenn er/sie nur anders wäre, dann wären wir glücklich»; «Wir könnten es so gut haben, wenn …» Es ist die mehr oder weniger stille Aufforderung, die Differenz aufzuheben, mit dem in Aussicht gestellten Versprechen eines gemeinsamen Glücks. Diese Idee wird uns über die Erziehung, die Werbung und zum grossen Teil auch über die Filmindustrie zugetragen: Eine Beziehung, in der zwei Menschen über die gemeinsame Liebe ‹eins› werden und dieses ‹Eine› etwas Wunderbares und Erstrebenswertes sei.
Die Anerkennung der Differenz jedoch drängt uns in eine Bescheidenheit zurück – nicht in eine Einsamkeit –, in die Selbstverantwortung, um von hier aus das eigene Leben in Kultur und Welt zu regulieren, um gestalterisch an ihr teilzuhaben, um Teil dieser Sozietät zu sein, ohne die Eigenständigkeit und Autonomie zu verlieren, ohne zu ‹eins› zu verschmelzen, sei es mit einem Gegenüber oder dem Staat. Die Anerkennung der Differenz enthebt mich der Über-Heblichkeit, über andere zu bestimmen: Wie weiss ich, was für den anderen gut ist, ohne dass ich ihn selbst darüber befrage? Die Anerkennung der Differenz entzieht dem Machtanspruch das Fundament.
Freiheit ist, den anderen als Nicht-Ich anzuerkennen und mich eigenverantwortlich und selbstregulierend zum Du zu verhalten. Dies ist die grösstmögliche Freiheit, die wir als Menschen haben. Eigenverantwortung zu übernehmen bedeutet gleichsam, dem Gegenüber im intersubjektiven Raum mit der gleichen Sorgsamkeit zu begegnen wie sich selbst. Dies ist unumgänglich, da das Ich, um sich zu konstituieren, ein vom Du abhängiges ist.
Auf diese Weise sind wir von einem schuldhaften Beziehungsmodus entbunden, einer Schuld, die besagt, dass gewisse Selbstanteile für den anderen und dementsprechend für die Beziehung schädlich sind, dass Teile des Ich zugunsten einer Beziehung aufgegeben werden müssen, dass sich der Partner oder die Partnerin zu ändern habe, damit es besser würde; einem schuldhaften Beziehungsmodus, der gleichsam auch Verantwortung, Toleranz und Solidarität postuliert – bzw. diese zu Dogmen erhebt – und damit das Gegenüber dem Subjektstatus enthebt und die Beziehung in einem Gefälle einrichtet: Wer tolerant ist, eignet sich die Mächtigkeit an, über Ein- bzw. Ausschluss aus Gruppen zu entscheiden.
Dies widerspricht einer Anerkennung der Differenz, in der sich die Frage der Toleranz nicht mehr stellt. Übernimmt jeder für sich die Eigenverantwortung, dann ist es ein Leichtes, den anderen um Hilfe zu bitten und sich in der Gesellschaft zu regulieren, ohne Gewalt heranziehen zu müssen, denn in der Anerkennung des anderen als Nicht-Ich ist die Einsicht enthalten, dass ich von ihm abhängig bin. Wieso soll ich also das Du zerstören? Weil es mir nicht gefällt? Weil es nicht so ist wie ich? Weil es nicht so ist, wie ich es haben möchte, weil es sich mir nicht unterwirft? Die Zerstörung des Du ist immer auch die Zerstörung des Ich. Krieg ist, auch wenn er gewonnen wird, eine Selbstdestruktion. Auch wenn die Gewinner, die Machtinhaber und Befehlsmächtigen selbst nicht an die Front ziehen, bleibt ihr Land ein mit vielen Wunden versehrtes. Das Einvernehmen, die Selbstdestruktion als Tribut hinzunehmen, um Kontrolle über das andere Ich zu erhalten, erscheint mir bemerkenswert. Was drängt uns dazu, die Kontrolle über den anderen zu übernehmen und dann noch zu diesem Preis?
Die Kontrolle über einen anderen Menschen zu übernehmen ist eine Selbstanmassung und läuft den Menschenrechten zuwider. Ich gehe davon aus, dass solcherlei Grössen- und Allmachtsfantasien unserer Unfähigkeit, die Differenz anzuerkennen, entspringen. Haben wir Macht über den anderen, können wir eine Beziehung herstellen, eine gewaltsame zwar, aber zumindest ist es eine: Wir sind nicht mehr allein, wir haben einen Menschen, der, solange unsere Macht über ihn anhält, uns nicht alleinlässt. Wir komplettieren uns mit dem anderen, wir sind Mächtige und keine Ohnmächtige. Wir tradieren diesen Beziehungsmodus, wir kitten diesen Herrschaftsdiskurs, der uns Wohlbefinden, Aufgehobenheit und Sicherheit verspricht. Denn dies ist es, was wir Menschen möchten, brauchen und anstreben.
Der Anthropologe David Graeber schreibt in seinem Buch Anfänge, das er zusammen mit dem Archäologen David Wengrow 2021 geschrieben hat:
«Im Sommer teilten sich die Inuit in Gruppen von zwanzig bis dreissig Personen auf, fingen Süsswasserfische und jagten Karibus und Rentiere, alles unter der Führung eines einzelnen männlichen Führers. In dieser Zeit wachten sie eifersüchtig über ihre Habseligkeiten, und das Familienoberhaupt übte eine starke, manchmal sogar tyrannische Macht über seine Angehörigen aus […]. In den langen Wintermonaten jedoch, wenn die Herden der Seehunde und Walrösser an arktische Küsten kamen, fand eine dramatische Kehrtwendung statt. Dann konzentrierten sich viele Inuit an einem Ort und bauten grosse Versammlungshäuser aus Holz, Walrippen und Stein. In diesen Häusern herrschten Gleichheit, Altruismus und Gemeinschaftsleben. Der Besitz wurde geteilt, und Männer und Frauen frönten unter der Ägide von Sedna, der Göttin der Seehunde, dem Partnertausch.«2
Die Möglichkeit, saisonal, angepasst an die winterliche Fülle an Nahrung bzw. an ihren sommerlichen Mangel, die gesellschaftlichen und politischen Strukturen zu verändern, von einer herrschaftlich-kontrollierenden Führungsstrategie in eine eher anarchistische zu wechseln, von einer streng hierarchischen in eine der Anerkennung der Differenz und damit immer im Dienste des Wohlbefindens der Gemeinschaft zu stehen, vermag uns eine Idee davon zu geben, dass wirtschaftliche Notwendigkeit und lustvolles Geniessen ohne jeglichen Destruktionsfaktor möglich sind; dass es eine Saison geben kann, in der einem männlichen Führer Gehorsam geschuldet wird, und eine Saison, in der es keine Führung gibt, in der die Gruppe selbst regulierend ohne das Axiom der Schuld auskommt.
Solange ich die Kontrolle über das Du habe, muss ich mich nicht mit ihm auseinandersetzen – und nicht mit mir: Denn erst das Du ermöglicht mir die Reflexion über das Ich. So sind die Bindungen zwischen Ich und Du konstitutionell wichtig, unentbehrlich für beide und es scheint, dass gerade die eine Bindungsform – sei es in der kleinen wie in der grossen Geschichte – über die Jahrtausende Vorschub erhalten hat: Die Bindung, die ein Herrschaftssystem ermöglicht. Bindungen, die einen Herrschaftsdiskurs erschaffen, erfordern das Axiom der Schuld, das unentbehrliches Instrument zur Ermöglichung von Gefälle und Hierarchie, Ausbeutung und Eigennutz ist.
Wer die Deutungshoheit über die Schuld hat, der hat Macht. Der Träger der Schuld ist der Sündenbock. Er wird mit Schuld bestückt in die Wüste geschickt, um dort zusammen mit dieser zu verenden. Können wir uns eine Alternative noch denken? Oder haben wir uns an diesen Diskurs so sehr gewöhnt, haben ihn in unser Alltagsvokabular übernommen, ohne ihn je wieder infrage stellen zu wollen? Die Bindungsform über die Schuld ist immer eine gewalttätige, weil sie Gefälle einrichtet und die Intersubjektivität, die Anerkennung der Differenz, zum Verschwinden bringt.
Konsumistische Verführungen ermöglichen, die Anpassung an bestehende Herrschaftsstrukturen über grosse Zeitstrecken zu sichern, und es kommt erst zum sogenannten Ausbruch, zum Krieg, wenn diese Anpassung nicht mehr geleistet wird: «Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt», spricht der Erlkönig Goethes zum sterbenden Kind. Sündenböcke sind immer Träger einer Schuld, einer variablen, sie werden zu nichts anderem als zur Legitimation von verbrecherischen Gewaltakten gebraucht, um Herrschaftssysteme zu etablieren und zu konsolidieren. Ob sich diese Gewalt als Krieg zwischen Personen oder Nationen äussert oder als politische Massnahmen jeglicher Art – sei es aufgrund eines transnationalen Kanons hinsichtlich eines Virus, hinsichtlich Terroranschlägen oder seien es wirtschaftliche Sanktionen, die Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung werden – ist einerlei. Sobald ein Sündenbock definiert wird, werden Verbrechen begangen und legitimiert.
Die andere Form der Bindung, die intersubjektive, diejenige zwischen zwei Personen, die den anderen als anders als Ich anerkennen, als Nicht-Ich, also wenn die Kontrolle über das Du gänzlich wegfällt, ist in den Hintergrund geraten. Warum? Warum wird die Tatsache, dass das einzig Verbindende zwischen Menschen die Anerkennung der Differenz ist, in den Hintergrund gedrängt und die Auslöschung der Differenz über die Einführung eines hierarchischen, schuldhaften Gefälles bevorzugt? Warum muss das Gegenüber als Subjekt reduziert, entwertet, ja gar ausgelöscht und das, was man Bindung nennen kann, verunmöglicht werden? Warum wird in vielen Beziehungen, zwischen einzelnen Menschen und zwischen Nationen die Symbiose zelebriert, die Einheit und Einigkeit – als ob dies je möglich wäre! –, und nicht die Auseinandersetzung in der Differenz? Die Einigkeit, der ‹Pas de deux›, wird als fester Grundstein einer Beziehung angesehen und diese wird in der Folge auf Familie und Nation hochgerechnet.
Die Verlagerung der Gewichtigkeit auf die Kontrolle über das Du und nicht auf die Regulierung des Ich in Bezug auf das Du, nicht auf die Auseinandersetzung mit dem Du, zieht einen immens florierenden Wirtschaftsstrang nach sich, der einzig und allein nur über dieses Narrativ entstehen und zur Blüte gebracht werden kann. Dieser dehnt sich über die Rüstungsindustrie, über das Gesundheits- wie Bildungswesen, den Freizeit- und Wellnessbereich aus, hin zu den Sportstudios und nicht zuletzt zu jeder konsumistischen Verführung.
Würden wir die Differenz zum Du anerkennen, bräuchten wir keine Waffen, um das Du in die Knie zu zwingen. Wir bräuchten keinen Kontrollapparat, um dieses Du dort festzuhalten. Wir könnten uns mit ihm auseinandersetzen, Lösungen finden oder uns trennen und abwenden. In der Anerkennung der Differenz fehlt dem Krieg, den Grössenfantasien und Allmachtsansprüchen die Notwendigkeit. Freiheit ist dementsprechend nicht, die grösstmöglichste Kontrolle zu haben, um sich Ruhe und Sicherheit zu ermöglichen, sondern Freiheit ist, die Kontrolle über den anderen loszulassen und das Ich eigenverantwortlich hinsichtlich dieses Du immer neu und immer anders zu regulieren und zu positionieren. So erfährt die Eigenmächtigkeit keinen Schaden und die Lust daran ist nicht auf Kosten eines anderen.
Wurden vor tausenden von Jahren die ersten Tiere domestiziert und das Getreide angesät und in Speichern gelagert, bedingte dies gleichsam eine Domestizierung des Menschen. Dieser hatte nun die Verantwortung über die Tiere und den Getreideanbau zu übernehmen und dies wiederum setzte voraus, dass auch er sesshaft wurde.3 Daraus ergaben sich neue Gesellschaftsstrukturen, Hierarchien, neue Krankheiten und neue Triebkonzepte, die den neuen wirtschaftlichen Strukturen angepasst werden mussten. Das alles zog Mehrarbeit bzw. eine neue Form der Arbeit nach sich, nämlich der Bewirtschaftung und Verwaltung von Eigentum, seien es Getreide und Tiere, Sklaven, Knechte, Kriegsgefangene und Frauen, wofür ein beachtliches Mass an Energie und Zeit aufgewendet werden musste, die andernorts – vielleicht ähnlich wie heute in Kultur und zwischenmenschlicher Auseinandersetzung – wegfallen mussten.
Die Lust erfährt in Herrschaftsstrukturen ganz andere Ausformungen als in einer Sozietät, die intersubjektive Beziehungsstrukturen zur Grundlage hat. Ist hier die Lust an der Eigenmächtigkeit und die Lust am Reiben an der Differenz massgebend, eine Lust, die ohne Gewalt auskommt, aufbauend, bereichernd und befriedigend ist, wird in Herrschaftsstrukturen, die gerade diese Anerkennung der Differenz missen – weil sie über die Kontrolle zerstört wurde –, die Lust einen Weg finden müssen, um sich in den herrschaftlichen Gefällen einzurichten: Die Lust des Über-dem-anderen-Stehen und die Lust des Unter-dem-anderen-Stehen; die Lust am Objekt und nicht die Lust am Subjekt und an der eigenen Subjektivität; die Lust an der Gewalt, die vonnöten ist, um den anderen ‹unter sich zu bringen/zu halten›, und die Lust an der Gewalt, sich in deren Klauen zu befinden und damit den anderen sadistisch an sich zu binden. Hier erfährt die Aggression im Dienste des Ich, diese konstruktive Aggression, eine radikale Kehrtwendung hin zu einer destruktiven Aggression, einer, deren Bindung gewaltinhärent ist.
Die Lust kommt über die Gewalt zustande, wenn ich als Gewalt bereits denjenigen Akt bezeichne, der den anderen als unter mir einordnet und nicht auf Augenhöhe. Die Kassiererin an der Supermarktkasse wird gesellschaftlich als bildungsfern, undifferenziert, bescheiden im Intellekt eingeordnet, im Gegensatz zur Studentin, die dieselbe Arbeit während ihrer Semesterferien tut. Dies ergibt eine ganz andere Lust, eine im und am Gefälle, die die neue ‹Reibungsfläche› bildet: Des einen Abwertung ist des anderen Aufwertung, die dann als Potenz erfahren wird. Die Erniedrigung, die Bezwingung des anderen führt an der Lust an der eigenen Potenz vorbei, weil sie zu einer Lust an Leiden und Not des anderen wird und an diese gebunden bleibt. So bleibt die eigentliche Lust und die ‹Freude an der Lust› per se enttäuscht und unbefriedigt, sie bleibt im Narrativ der Herrschaft, also in deren sadomasochistischen Ausformung, wo die Schuld abgewehrt wird und damit Bestandteil der Beziehung bleibt. Nur ausserhalb von Herrschaft spielt sie keine Rolle mehr.
Diese Lust führt auch an der Lust an Differenz vorbei, weil die Differenz über das hierarchische Gefälle zerstört wurde. Desgleichen ist ohne die Anerkennung der Differenz eine Lust an der eigenen Potenz nicht möglich, sodass sich diese auf die Entpotenzierung des Gegenübers zu reduzieren hat. Dies umso mehr, weil das eigene Begehren in diesem Diskurs genauso ausgeschlossen ist wie dasjenige des anderen. Wir könnten sagen, dass wir am Hunger vorbei essen; dass diese ‹Lustbarkeiten› an den Bedürfnissen beider Ichs vorbeizielen, da sie nicht genährt, sondern missachtet, entwertet und ausgelaugt werden. Obwohl anders dargestellt, bleiben sie einsam zurück. Dies ist mit dem Konsum zu vergleichen, der uns gleichsam verhungern lässt, obwohl er eine Fülle von Befriedigungen verspricht. Die Aggressionen im Dienste des Ich pervertieren und werden destruktiv: Wir beschäftigen uns mit dem Falschen und meinen die Erfüllung zu finden. Die Gewalt mit ihren dazugehörigen Erniedrigungen, die sich hier in den ganz normalen Alltag schleicht, die inzwischen nicht einmal mehr als Gewalt weder erkennbar ist noch benannt wird, weil diese aufgesogen wurde von einem Narrativ der Freiheit, von einem Narrativ des ‹Anything goes›, von einer rasenden Beschleunigung der Distanznahme, der Aufhebung von Nähe, von einer Vereinsamung des Menschen, der durch das immer neue Ausprobieren von sexuellen Ausdrucksformen von seinen Bedürfnissen und Sehnsüchten abkehrt – diese Gewalt bleibt letztendlich als solche unerwähnt.
In einer immerwährenden Konsumation von Kriegsnachrichten und Bildern von Gräueltaten laden wir uns voyeuristisch und lustvoll auf, sei es, indem wir uns mit den Tätern, sei es, indem wir uns mit den Opfern identifizieren. Identifizieren wir uns mit den Tätern, können wir an Macht, an Allmacht partizipieren, identifizieren wir uns mit den Opfern, können wir Gutes tun und uns auf der Seite der ‹Richtigen› wähnen – also auch am Herrschaftsnarrativ teilhaben. Freud schrieb am 3. September 1914, gut einen Monat nachdem Franz Joseph, Kaiser der österreich-ungarischen Monarchie, den Krieg ausgerufen hatte, an Karl Abraham:
«Wir haben an den deutschen Siegen einen festen Halt für unsere Stimmung gewonnen, und sind von den Erwartungen der eigenen in der heftigsten Weise erschüttert worden. Es scheint ja gut zu gehen, aber es ist nichts Entscheidendes, und die Hoffnung auf eine rapide Erledigung der Kriegssache durch katastrophale Schläge haben wir aufgegeben. Die Zähigkeit wird die Haupttugend werden.«4
Auch der sonst herrschaftskritische Freud erlag den Grössenfantasien des Monarchen, wiewohl er bereits im Dezember 1914 diese Begeisterung nicht mehr teilen wollte.
Die Versuchung einer Identifikation mit Macht ist naheliegend, wiewohl auch die Identifikation mit den Ohnmächtigen dem Vorwurf des Machtanspruchs nicht standhalten kann. Anhand von Berichten von Helfern, die sich den Geflüchteten, gleich welcher Herkunft, angenommen haben, entnehmen wir mehrheitlich eine grosse Enttäuschung, da diese nicht ihren Erwartungen entsprachen: zu undankbar, zu fremd, zu wenig anpassungswillig, mit zu viel Ansprüchen u. v. m. Davon ausgehend erkennen wir unsere eigenen Erwartungen, als ‹Gute und Aufopferungsvolle› anerkannt und geschätzt zu werden. Wir möchten mit Unterordnung belohnt werden. Die Lust am Helfen ist verbunden mit einer Lust an der Macht.
Die Lust an der Macht über den anderen und die Lust am Leiden des anderen benötigen eine Legitimation, um einem gesellschaftlichen Konsens standzuhalten, einem Mythos von Nächstenliebe und Erbarmen. Was eignete sich dafür besser als das Axiom der Schuld, des Selbst-schuld-Seins, das frei jeglicher persönlicher Verantwortung das Recht zu verurteilen, zu bestrafen, ja gar zu töten erteilt? Ein Schuldiger ist ein aus Bindung Ausgeschlossener. Er wird zum Objekt der Strafe, der Willkür, der Destruktion. Ein Schuldiger ermöglicht, unschuldig töten zu dürfen. Seien es die Urteile und die Todesurteile in Gerichtsverfahren, seien es die Todesurteile, die ein jeder Soldat vollziehen darf – über die Schuld wird die Bestrafung legitim und der Bestrafende ist ausserhalb jeglicher Verantwortung, da die Instanz, die die Autorisierung zu töten gibt, in einem ideologisch-variablen Raum der ‹Gerechtigkeit› untergebracht wird.
Dies mag eine Äusserung eines Freundes illustrieren, ein renommierter Rechtsanwalt, der meinte, dass es in den meisten Fällen nicht um Rechtsprechung ginge, sondern darum, dass ein Schuldiger geliefert werden müsse für eine Tat, die über die mediale Berichterstattung grosses Aufsehen und Entsetzen erregte. Die lustvolle Genugtuung, einen Schuldigen zu liefern bzw. geliefert zu bekommen, darf nicht erwähnt werden, um nicht sadistischen Neigungen verdächtigt zu werden: Denn es geht ja um Gerechtigkeit. Eine Berichterstattung, die Empörung und Entsetzen auslöst, evoziert damit eine voyeuristische Lust am Elend, wiewohl dessen Autoren gerade auch daran ihre Freude haben. Es ist die ‹Gerechtigkeit›, die die Mittel der Gewalt und damit die Lust an dieser Gewalt legitimiert.
Der Träger der Schuld, der Sündenbock, wird geopfert – in Anlehnung an die frühen Menschen- und Tieropfer –, sodass die Lust an Tötung und Bestrafung zu einem legitimen Genuss führen kann. Dies inkludiert gleichsam die Lust am eigenen unschuldigen Ich: Die Verortung des Bestrafenden ausserhalb einer Verantwortung ist ein nicht zu unterschätzender Lustfaktor.
Im Opfer-Täter-Schulddiskurs benennt das Opfer den Täter. Ich unterscheide zwischen Opfer und Betroffenem: Der Betroffene eines Krieges ist in meinem Erklärungsschema kein Opfer, weil ich mit Opfer denjenigen bezeichne, der mit seiner Position ausschliesslich beabsichtigt, einen Täter zu benennen. Ein Betroffener hingegen ist primär von einem Gewaltakt betroffen, ohne dass hier der Täter eine vorrangige Stellung erhält, sondern das Leiden dieses Menschen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Wir können dies an uns selbst anhand der medialen Berichterstattung ablesen: Unsere Reaktion auf einen Opfer-Täter-Schuld-Kanon ist Empörung, Entsetzen – dies schürt uns der Artikel –, diejenige auf einen Betroffenen, d. h., wenn er als Person ins Zentrum gerückt wird ohne den Täter-Diskurs zu bemühen, ist Mitleid und Erbarmen. Ein zutiefst menschliches Gefühl. Auf unsere Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle achtend erkennen wir die Art und Weise unserer ‹Anteilnahme› an Krieg und Zerstörung. Erkennen wir, wo wir mitschwingen in der Kriegsrhetorik und wo wir den Menschen sehen, den verletzten, verwundeten und letztendlich für das restliche Leben traumatisierten. David Becker schreibt:
«Nur indem wir uns auf das komplexe Bindungsgeschehen einlassen, das der Umgang mit traumatisierten Menschen erfordert, können wir beginnen, die extreme Monstrosität gesellschaftlich verursachten individuellen Leidens wahrzunehmen und zu verstehen.«5
Bleiben wir jedoch im Modus, den Schuldigen zu suchen, der uns auch meist sehr schnell zur Verfügung gestellt wird, bewegen wir uns im Diskurs des Täter-Opfers und verlieren die Monstrosität des Leidens, wie sie Becker nennt, aus den Augen. Die mitleidende Anteilnahme wird zugunsten eines sadistischen Lustgewinns aufgegeben und Krieg wird zur Konsumware und verliert seine Schauerlichkeit. Susan Sontag schreibt in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten:
«Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun könnten – etwa die Chirurgen des Militärhospitals, in dem die Aufnahmen gemacht wurde, oder Menschen, die aus ihr etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen oder nicht, Voyeure.«6
Das lustvolle Moment eines Voyeurs ist die Teilnahme an Schrecken, an dessen Affektladung, ohne jedoch selbst als gefühlvoller Mensch daran beteiligt zu sein. Er verschafft sich die Lust am eigenen Ich vorbei. Dieser Vorgang an sich ist ein gewalttätiger, weil das Ich als beteiligter Faktor ausgeschaltet wird und im Triumph seiner Nichtbetroffenheit Lust verspürt. Desgleichen ist auch die Pornografie ein Ausdruck dieses Unbeteiligtseins. Es fragt sich nur: Warum soll das Ich fernbleiben? Möglicherweise, um nicht in eine Schuld verwickelt zu werden? Am Beispiel der Pornografie wie auch der Prostitution ist es vielleicht eine Verwicklung in eine Triebschuld? Eine Schuld, den anderen mit seiner eigenen Triebhaftigkeit zu beschädigen, schuldig an ihm zu werden? Die Bezahlung in der Prostitution ist eine Schuldbegleichung.
Ist vielleicht Krieg Ausdruck eines pervertierten Begehrens? Weil ein Begehren, wird es als Schuld gespiegelt, andere Bahnen einzunehmen gezwungen ist und sich damit die Lust an der Gewalt entfacht, an der Gewalt der Unterwerfung, anstelle der Lust an der Differenz die Lust an der Macht, die Differenz auszumerzen? Vielleicht in der Wiederholung der erfahrenen eigenen Gewalt, die jeder in seiner Triebhaftigkeit bereits seit frühester Kindheit erfahren hat? Ist mit der Domestikation der Tiere und des Getreides auch eine Domestikation der Triebe einhergegangen? Eine Domestikation des Begehrens unter das Primat der Kontrolle, um ihm die Subversivität zu rauben, um Herrschaft zu ermöglichen? Herrschaft ist nur möglich über ein hierarchisches Gefälle und mit Kontrolle über das Begehren. Der Lust im Herrschaftsdiskurs ist daher immer die Gewalt inhärent, da die Kraft des Begehrens in pervertierte Bahnen geleitet werden muss, um der vollständigen Kastration zu entgehen.
Wie sich im Schulddiskurs der Fokus auf die Schuld legt und damit einen lustvollen Voyeurismus heraufbeschwört und das Mitleiden, die Sicht auf die Not des Einzelnen ausbleibt, so endet im herrschaftlichen Diskurs das Begehren in einer Lust, die immer mit Gewalt kontaminiert ist. Das Begehren wird dadurch ichfremd, es ist dem Ich abhandengekommen, es kommt ohne Berührung aus (Pornografie). Diese Entfremdung bleibt ein Gewaltakt sowohl gegen das Ich als auch gegen das Du, weil dabei beide leer ausgehen und vereinsamen.
So ist auch unser Alltagsvokabular durchdrungen von Unberührtheit, insofern dieses von Schuld und Schuldgefühlen dominiert wird. Das Verbindende zwischen zwei Personen ist nicht die Anerkennung der Differenz, dass der andere nicht Ich ist, sondern die Schuld, die die Beziehung im Gefälle einrichtet und also eine trennende Funktion hat. Diese Schuld ist die Ursache für Vereinsamung und Perversion. Nicht die Spannung der Differenz wird Antrieb für Auseinandersetzung und Begehren, um die Veränderung des Ich, seine Elastizität und Beweglichkeit vollumfänglich geniessen zu können, sondern die Schuld wird das Beziehungsnarrativ an sich reissen und das Ich im hierarchischen Gefälle statisch werden lassen. Der Lebensantrieb wird in die eintönige und einseitige Bahn gelenkt, diesem Gefälle zu entfliehen. Dabei geht das Leben verloren, das, was es spannend, kreativ und lebendig macht: Die Lust an der Differenz und damit die Lust, Ich immer neu zu verorten; die Lust der Neugierde auf den anderen; die Lust der Neugierde auf das eigene Ich, wie es osmotisch mit der Welt verkehrt; die Lust der Neugierde, wie diese Veränderung wiederum ihre Wirksamkeit auf die Welt hat.
Lesen wir den Briefwechsel zwischen Freud und seinen Zeitgenossen, der getragen von Respekt und Interesse am anderen ist, lesen wir, wie sie sich austauschen, sich befragen, sich kümmern umeinander. Oder der Briefwechsel zwischen dem deutschen Schriftsteller Ernst Jünger und dem Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf,7 der getragen ist «von einem Austausch auf Augenhöhe. […] Fast immer lagen der ‹germanophile› Jünger und der ‹bodenlose Kosmopolit Wulf› (so ihre Selbstzuschreibung in den Briefen) dabei über Kreuz«.8
Im heutigen zwischenmenschlichen Narrativ wird vielmehr der andere als Bedrohung wahrgenommen – dies ist nicht zuletzt ablesbar an den politischen Massnahmen zur Bekämpfung des SARS-CoV-2, wo es möglich wurde, das Gegenüber nur noch in Hinblick auf seine Täterschaft bzw. mich selbst als möglichen Täter an ihm zu verorten.
Wenn die Aggressionen im Dienste des Ich, also diejenige konstruktive Kraft, die wir benötigen, um unseren Platz in dieser Welt einzunehmen, um ehrgeizig sein, um den sexuellen Akt vollziehen zu können – wenn diese Kraft als schädliche, als den anderen beschädigende gespiegelt, also mit Schuld kontaminiert wird, dann werden wir sie zurückhalten und in andere Bahnen lenken. Die Sublimation gelingt nicht immer, sie soll auch nicht eine ‹schädliche› Triebhaftigkeit in andere Gebiete locken, die Sublimation dient eher dazu, ein nicht vorhandenes Triebziel vorübergehend zu ersetzen und diese Energie in geistige Sphären zu lenken.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es zu Zeiten der ersten Staatengründungen unumgänglich war, diese Kraft und deren Ziele neu zu strukturieren und zu definieren und sie entlang einer Schuld zu verorten, einer Schuld an der Herrschaft, um sie als subversive Kraft zu brechen und der Herrschaft unterzuordnen. Denn Herrschaft ist immer mit Schuld verbunden, weil ihr diese als unumgängliches Instrument und Durchsetzungswerkzeug dient: Wo kann der Mensch am besten gepackt, in seinem Innersten besetzt und domestiziert werden, als dort, wo seine Handlungen, Gedanken und Fantasien als ein Schuldigwerden an einem anderen nachgewiesen werden können? Die Erfindung der Schuld kann wohl als Paradigmenwechsel hin zu herrschaftlichen Verhältnissen bezeichnet werden, allen voran die Schuld über die sexuelle Triebhaftigkeit, die nun jedem Menschen mit in die Wiege gelegt wurde und daher uns alle betrifft, gleich welcher Ethnie, welchem Geschlecht und welcher Schicht wir angehören.
Doch, was hat das alles mit Krieg zu tun? Ist Krieg nicht vielmehr eine unumgängliche Angelegenheit, die wir zwar nicht befürworten, jedoch auch nicht zu verhindern bereit sind? Wohnt die Kriegsrhetorik einem jeden inne und kommt sie im Krieg einfach einmal so richtig zur Geltung? Freud schrieb am 28. Dezember 1914 an den holländischen Psychopathologen Frederik van Eeden,
«dass die primitiven, wilden und bösen Impulse der Menschheit bei keinem einzelnen verschwunden sind, sondern noch fortbestehen, wenngleich verdrängt, im Unbewussten – wie wir in unserer Kunstsprache sagen – und auf die Anlässe warten, um sich wieder zu betätigen».9
Ich gehe davon aus, dass mehr als 100 Jahre später diese nicht mehr unbewusst sind, sondern bewusst nicht wahrgenommen werden wollen oder sollen. Dass wir bereits so viel Lust an dieser gewalttätigen Lust entwickelt haben und die andere Lust, diejenige an der Differenz und diejenige am eigenen Potenzial, nicht mehr in unserem Erfahrensbereich sind. Dass wir sie nicht unbewusst gemacht haben, sondern keine Vergleiche mehr haben, an denen wir uns orientieren, an die wir uns erinnern könnten.
Eingezäunt in einem Herrschaftsnarrativ, einem Narrativ der Schuld und der Täterschaft, können wir eine Alternative kaum mehr denken. Beschäftigt mit Schuld, diese abzubauen, zu umgehen oder zu vermeiden, geht uns die Sicht auf andere Paradigmen verloren. Z. B. das Begehren nach der Differenz. Z. B. die Lust an der eigenen Potenz, die sich nur in der Verschmelzung mit dem anderen ergibt, der mir als ‹Reibungsfläche› seine Potenz schenkt. Z. B. das Gefühl von Freiheit, das sich nur ergeben kann mit einem Du, das ich als Nicht-Ich anerkenne. Und dem ich nichts schuldig bin, weil dieses Du die Eigenverantwortung übernimmt und ich mich auf seine Selbstregulation verlassen kann. Da fällt die Schuld weg, weil Schuld kein Verbindungsfaktor mehr ist in menschlicher Beziehung, da fällt auch die Einsamkeit weg, die mit einer schuldhaften Bindung, zumindest vordergründig, aufgehoben werden kann. Da fällt auch die Angst weg. Denn die Angst ist ein Symptom einer Bindungslosigkeit, einer Trennung von sich und vom anderen. Jemanden in Angst zu versetzen, ist somit immer ein Gewaltakt, weil er das Subjekt von sich und vom anderen trennt.
Im Gegensatz zur Furcht, die diese Trennung nicht verursacht, dient die Angst der Herrschaft und nicht wie die Furcht, eine Gefahr zu erkennen, um ihr auszuweichen. Der Schuld- bzw. Opfer/Täter-Diskurs trennt das Subjekt vom anderen Subjekt, weil über die Schuld ein Gefälle in der Beziehung eingerichtet wird. Diese Trennung bedeutet Angst, und Angst bedeutet gleichermassen eine Trennung von sich selbst. Diese Trennung wird zur Schaltstelle, sodass wir aus dieser Getrenntheit agieren, sodass dieses Getrenntsein Grundlage unseres Handelns wird, Grundlage auch um Kriege zu führen, und wir das Wohlbefinden, das unsrige und das von den anderen, aus den Augen verlieren. Wir handeln nicht mehr mit uns, sondern ohne und damit gegen uns.
Der Titel dieses Hefts lautet «Die Hoffnung auf Psychotherapie in einer gefährdeten Welt» und das Nachdenken darüber veranlasst mich zu folgendem Schluss: Krieg ist in unserer Gesellschaftsform bereits angelegt: Wird der Widerstand eines Kindes als Zuwiderlaufen gegen herkömmliche Strukturen, gar als Kriegserklärung und als ein Schuldigwerden an bestehenden Werten aufgenommen, sind wir bereits mitten im Geschehen. Seine Unterordnung wird eingefordert, ansonsten es den Ausschluss aus einer Gruppe riskiert bzw. den Anschluss gefährdet. Die Anerkennung der Differenz weicht einem Herrschaftsdiskurs, dem das Kind seine autonomen Regungen schuldet.
Entheben wir unsere Beziehungsstrukturen – seien es diejenigen zwischen zwei Personen, seien es diejenigen zwischen Nationen – dem Schuld-Opfer-Täter-Diskurs, vermeiden wir das Festlegen von Schuldigen und von Sündenböcken, vermeiden wir das Festlegen von Opfern, anerkennen wir stattdessen die Differenz, anerkennen wir den anderen als Nicht-Ich, dann fällt die Überheblichkeit, Krieg zu führen, weg. Dann fällt die Gewalt, den anderen in mein Narrativ zu zwingen, weg, da diese mich nur der eigenen Freiheit beraubt und mich beschäftigen lässt mit etwas, das mir Zeit und Leben raubt: Mit der Verwaltung des anderen, mit der Kontrolle des anderen. Letztendlich können wir nicht mehr unterscheiden, wer nun wen kontrolliert – der Kontrollierende oder der Kontrollierte? –, weil sich beide bedingen. Gewalt hat immer eine destruktive Auswirkung auf alle, auch auf die Sieger.
Ein möglicher Beitrag, der die psychotherapeutische Praxis leisten kann, unter vielen anderen denkbaren Zugängen, ist, den intersubjektiven Raum zu eröffnen, offen zu halten und dort, wo er nicht ist, über den Grund seiner Abwesenheit zu reflektieren.
Warum in diesem Narrativ verbleiben, wo doch die Lust, das Begehren und die Neugierde auf die Differenz so erfreulich und erbaulich sind? Könnte nicht ausserdem die Aufgabe der Psychotherapie in einer gefährdeten Welt sein, dies alles wiederzubeleben, dieser Leichtigkeit Gewicht zu geben, dies alles zu üben, ständig zu üben und die Anerkennung der Differenz nicht mehr zu entbehren?
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Winnicott, D. (1965). The Maturational Processes and the Faciliating Environment. Internat. UP.
War is already inherent in our society
Abstract: An intersubjective relationship is one in which one subject recognises the other as a «not me» or «another me». Upon the recognition of this difference, arrogance and the resulting power gap are removed, and control and management of the dominated «object» is eliminated – producing the prerequisites for any war. Connections that create a discourse of power require an axiom of guilt – the essential instrument to make power gaps, hierarchies, exploitation, and self-interest possible. The bearer of the guilt is deemed the scapegoat, who can now be legitimately ostracised or even killed. Groups and nations enable people to celebrate a symbiotic unity and consensus creating the differences to facilitate ostracization. New forms of lust arise, no longer a lust for difference, but rather one in which violence is inherent: The degradation of one is the ascent of another, which is experienced by the latter as power. The humiliation and conquering of others, goes beyond a lust for power as it is bound with the lust for the suffering and misery of others. The lust-filled moment of a voyeur is also violent toward themselves as the participation of the self is eliminated and lust experienced in the triumph of remaining unaffected. Domination is only made possible via a hierarchical gap and retaining control of desire. All of this can be defined as war. War is already inherent in our society.
Keywords: intersubjective discourse, recognition of difference, guilt, scapegoat, voyeurism, lust
La guerra è già insita nella nostra società
Riassunto: Una relazione intersoggettiva è quella in cui un soggetto riconosce l’altro non-io come un altro io. Con il riconoscimento della differenza, viene meno la tracotanza e quindi lo squilibrio di potere, il controllo e l’amministrazione dell’‹oggetto› da dominare, che sono i presupposti di qualsiasi guerra. I legami che creano un discorso di dominio richiedono l’assioma della colpa, che è uno strumento indispensabile per consentire lo squilibrio e la gerarchia, lo sfruttamento e l’interesse personale. Il portatore della colpa è il capro espiatorio che può essere legittimamente emarginato o addirittura ucciso. Tra le persone, nei gruppi e nelle nazioni, si celebra l’unità e la fusione simbiotica e quindi le differenze vengono escluse. Emergono nuove forme di piacere, ma non si tratta di trarre piacere dalle differenze, bensì di un piacere in cui è insita la violenza: la svalutazione di una persona è la rivalutazione di un’altra, che viene percepita come potente. L’umiliazione, il soggiogamento dell’altro va oltre il piacere della propria potenza, perché diventa un piacere nella sofferenza e nella difficoltà dell’altro e rimane legato a questo. Il momento di piacere voyeuristico è violento anche nei confronti del proprio io, perché questo viene eliminato come fattore coinvolto e si prova piacere nel trionfo del suo non coinvolgimento. La dominazione è possibile solo se esiste un dislivello gerarchico e il controllo del desiderio. Tutto questo è guerra. La guerra è già insita nella nostra forma di società.
Parole chiave: discorso intersoggettivo, riconoscimento della differenza, senso di colpa, capro espiatorio, voyeurismo, piacere
Die Autorin
Jeannette Fischer arbeitete 30 Jahre als Freud’sche Psychoanalytikerin in Zürich. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Frage der Gewalt, Macht und Ohnmacht. Sie kuratierte hierzu Ausstellungen und drehte zwei Dokumentarfilme. 2018 erschien Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović und Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten, 2021 Hass und 2022 Psychoanalytikerin trifft Helene und Wolfgang Beltracchi. Alle diese Bücher erschienen auch in diversen Übersetzungen.
Kontakt
www.jeannettefischer.ch
mail@jeannettefischer.ch
1 Hier und im Folgenden wird meist das gen. Maskulinum verwendet.
2 Graeber, D. & Wengrow, D. (2022). Anfänge. Klett-Cotta, S. 127.
3 Scott, J. C. (2019). Die Mühlen der Zivilisation. Suhrkamp.
4 Freud, S. & Abraham, K. (1965). Briefe 1907–1926. Fischer.
5 Becker, D. (2006). Die Erfindung des Traumas. Ed. Freitag, S. 17.
6 Sontag, S. (2005). Das Leiden anderer betrachten. Fischer, S. 51.
7 Jünger, E. & Wulf, J. (2020). Der Briefwechsel 1962–1974. 2. Aufl. V. Klostermann.
8 Schlott, R. (2019, 31.8). In FAZ, S. 12.
9 Freud, S. Texte aus den Jahren 1885–1938. GW Nachtragsbd, S. 697. Fischer.