Psychotherapie in Zeiten von Disruption

Oder: Die Vertreibung der Psychotherapie aus dem Paradies?

Ulrich Sollmann

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 69–76

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-69

Zusammenfassung: Die Welt sieht sich, Psychotherapie ebenso, mit einer sich rasant entwickelnden Komplexität von Disruption konfrontiert. Die Covid-19-Pandemie sowie der Krieg in der Ukraine haben die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Politiker sprechen inzwischen von einer Zeitenwende, die die Welt noch für Jahre in Atem halten wird. Psychotherapie sah sich selbst seit vielen Jahren mit einschneidenden Disruptionen konfrontiert. Diese Erfahrung führte vielfach zu einer Desillusionierung. Das Erleben (sowie die Bearbeitung) von Disruption taucht im Therapiezimmer wie ein imaginierter fremder Dritter auf, der ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, ein Eigenleben entfalten kann. Sei es die Krankenkasse, der Krieg in der Ukraine, das Psychotherapeutengesetz, die Pandemie usw. Psychotherapie tut gut daran, sich für diese gesellschaftlichen Entwicklungen zu öffnen. Psychotherapie wird sich dabei konkret, aber auch paradigmatisch neu im Zusammenspiel von Übertragungs- und Realbeziehung verorten. Dies ermöglicht Psychotherapie auch ein neues Selbstverständnis bzgl. der zugrundeliegenden humanistischen Werte.

Schlüsselwörter: Psychotherapie, Disruption, Desillusionierung, der imaginierte Dritte im Therapiezimmer, humanistisches Menschenbild, Putin

Prolog

Psychotherapie ist gerade in gefährlichen Zeiten gefragt und steht dabei unter einem besonderen Druck. Einerseits erwächst dieser aus dem spezifischen Leiden der Menschen. Andererseits sieht sich Psychotherapie v. a. in Europa und den USA mit neuen gesellschaftlichen Ereignissen und Phänomenen wie z. B. Terrorismus konfrontiert. 2003 hatte das Psychotherapieforum hierzu ein Themenheft herausgegeben, in dem Ergebnisse eines diesbzgl. kollegialen Diskurses nachgezeichnet wurden. Die Redaktionsleitung bat mich, in meinem jetzigen Beitrag hieran anzuknüpfen. Dennoch habe ich einen erweiterten Zugang gewählt, wird die Zeit doch seit einigen Jahren durch eine sich rasant entwickelnde Komplexität von globalen Disruptionen geprägt. Terrorismus ist (nur) eine Form von Disruption. Damit die Disruptionen Psychotherapie nicht vor sich hertreiben, macht es Sinn, dass sich Psychotherapie früh genug mit dem Phänomen Disruption als einer nicht zu entgehenden gesellschaftlichen Herausforderung befasst. Dies schliesst die Erfahrung bzgl. eigener erlittener Disruptionen mit ein.

Insbesondere seit Beginn der Covid-19-Pandemie kommt es erstmals, zumindest seit Ende des Zweiten Weltkrieges, zu einem sich wechselseitig hochschaukelnden, dynamischen Prozess von globalen Krisen. Es geht dabei weniger um die Betrachtung der einen oder anderen Krise, sondern um den sich eben wechselseitig aufschaukelnden Prozess globaler Disruption insgesamt. Dies Geschehen hat bereits seit Anbeginn der Pandemie auch Eingang in das Therapiezimmer der praktizierenden Kollegen1 gefunden. Neben den sich praktisch hieraus ergebenden Erfordernissen für Psychotherapie (und darüber ist schon vielfach geschrieben worden), spiegelt dies Geschehen, wie ich finde, in eindrücklicher Form die Notwendigkeit wider, sich als Psychotherapeut auch gerade jetzt mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Therapie zu befassen. Mir geht es in meinem Beitrag einerseits um die Sensibilisierung für die Relevanz disruptiver Prozesse auf Psychotherapie/uns als Psychotherapeuten insgesamt. Andererseits hat die Erfahrung von Disruption (auch) einen desillusionierenden Einfluss auf das Selbstverständnis vieler Psychotherapeuten. Sehen sie sich doch, v. a. seit Beginn der Pandemie, dauerhaft mit dem Einfluss besagter disruptiver Prozesse auf das Therapiegeschehen konfrontiert. Ich beziehe mich dabei auch auf meine eigenen Erfahrungen im therapeutischen Feld seit Ende der 1970er Jahre.

Ich wähle bewusst das Format eines wissenschaftlichen Essays, da dieser mir am ehesten geeignet zu sein scheint, die Beteiligung am kollegialen Diskurs anzuregen. Ich hoffe dabei, wenn auch gelegentlich provokant wirkend, Anstösse zu geben, ohne anstössig zu wirken. Die Beschäftigung mit den Themen zeigt mir, dass Meinungen und Ansichten sowie Erklärungsversuche bzgl. der aktuellen Disruptionen eher subjektiven, persönlichen Meinungen entsprechen. Dies ist insoweit nicht verwunderlich, als man vielfach noch unter dem hochaktuellen und stellenweise brisanten Eindruck besagter Disruptionen steht (z. B. Ukraine-Krieg, Korn-Krieg, Pandemie, Klimakatastrophe usw.). Ich bitte darum, meine Eindrücke ebenso zu behandeln und sich bei Interesse über die angeführte Literatur vertiefend einzulesen.

Ich schliesse diesen Beitrag ab mit einer kurzen psychobiografischen Analyse von Wladimir Putin, um eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie Psychotherapie mit seinen Denk- und Analysemodellen auch einen wichtigen und wirksamen Beitrag zum Verständnis disruptiver Prozesse beitragen kann, wurde doch in den letzten Monaten sowohl in den Medien als auch in der Politik danach gefragt, wie Putin wohl denke und welche Motivationen er für den Angriffskrieg in der Ukraine habe. Psychobiografische Analysen können daher mittelbar auch hilfreich sein, politisch-strategisch neu und anders auf disruptive Geschehen blicken zu können, mit dem Ziel, dies im eigenen taktischen sowie strategischen politischen Handeln zu nutzen.

Psychotherapie zwischen Redekur, sprechender Attrappe und Science-Fiction

Stellen Sie sich vor, dass Sie einem Psychotherapeuten gegenübersitzen, der mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) die Therapiegespräche analysiert. Er macht dies zielorientiert insoweit, dass er davon überzeugt ist, hierdurch bessere Therapieergebnisse erzielen zu können. Auf dem Weg zur Heilung könnte er zudem Zeit sparen, finanzielle Belastungen reduzieren und sich auf das Wesentliche konzentrieren, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Dies geschieht, wie besagter Psychotherapeut sagen könnte, im Sinne der Steigerung von Effizienz und Schonung kostbarer Ressourcen wie Zeit, Geld, terminliche Überlastung usw. Wer möchte nicht am vielfach gepriesenen Nutzen technologischer Entwicklungen teilhaben (vgl. auch Jee & Heaven, 2021)? Manch ein Klient könnte sich bei einer solchen Behandlung über einen schnellen Therapieerfolg freuen. Manch anderer könnte sich an eine «sprechende Attrappe» erinnert fühlen, wie Moser (1987) eine grundsätzlich bestehende Gefahr von Psychotherapeuten/Psychoanalytikern beschrieben hat.

Oder, stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einer VR-Brille (Virtual Reality) wohlig zurückgelehnt auf ihrem Sofa und geniessen die aktuelle Therapiesitzung mit ihrem virtuellen Therapeuten. Mutet das an wie Science-Fiction? Befürchten Sie, dass die Entwicklung in der Psychotherapie einem solch schrecklichen Szenario nicht entgehen könne? Denken Sie, dass diese Szenarien Ausdruck einer apokalyptischen Vorstellung von Psychotherapie sind, oder sind Sie immer noch unerschütterlich in den Tiefen ihrer professionellen Seele von der Überlegenheit der Mensch-zu-Mensch-Beziehung in der Psychotherapie überzeugt, die auch durch KI, VR und was sonst die Technologiebranche noch zu bieten hat, nie zu ersetzen ist? Mir geht es an dieser Stelle nicht um die «Herausarbeitung» einzelner Technologieaspekte, sondern um die Betonung der relevanten Fragen, die man sich in einem solchen Zusammenhang als Psychotherapeut stellen sollte.

Computerbild (2022) preist KI und VR-Brillen als den Zugang zu neuen virtuellen Realitäten, sei es beim Spiel, bei digitalen Reisen, der Besichtigung von Immobilien oder Suche nach Abenteuern in der Welt. So könne man völlig neue Erfahrungen machen oder tiefer in «neue Welten» eintauchen. Je nach Produkt gibt es zusätzliche Sensoren, die durch Audio und andere Funktionen das Erlebnis anreichern und verstärken.

Es gibt Menschen, die in solchen technologischen Entwicklungen voller Hoffnung eine Verbesserung der Zukunft sehen. Andere wiederum fühlen sich bedroht, abgeschreckt, orientierungslos oder ohnmächtig. Vermehrt begegnet einem in diesem Zusammenhang, und nicht nur dort, seit mehreren Jahren das Wort «Disruption». (In der Wirtschaft gehört bereits seit vielen Jahren die Beschreibung disruptiver Prozesse zum Alltag von Managern und Beratern.) «Disruption [wirkt] wie eine große Angstschweiß-Wolke […]: Nichts ist mehr gewiss! Alle aktuellen […M]odelle sind dem Untergang geweiht!» (Horx, 2022).

Disruption

Disruption meint «Unterbrechung» oder «Zerstörung». Der Begriff wird in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten dann gebraucht, wenn etwas radikal Neues beschrieben werden soll, mit dem ein Paradigmenwechsel einhergeht. Disruptive Veränderungen führen (oft) zu einer Umstrukturierung des jeweiligen gesellschaftlichen Bereichs oder zu einer neuen Art der Problemlösung, die dann eher auf einem «Musterwechsel» basiert (s. Paradigmenwechsel). Psychotherapie sollte sich früh genug hierauf vorbereiten.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx führt plausible Beispiele an, die einen solchen Untergang belegen (sollen). So hatte die Foto-Film-Firma Kodak die Digitalisierung nicht ernst genommen und ist vom Foto-Markt verschwunden. Horx zitiert weitere Beispiele, die, wie er es nennt, vom Gespenst des Mythos «Disruption» zeugen sollen. Z. B. fragen viele sich, ob Amazon den Handel vor Ort «radikal abschaffen» werde, ob E-Books die Bücherwelt wirklich vollkommen «umkrempeln» oder ob Roboter die Pflegebranche auf den Kopf stellen werden. Disruption bezieht sich dabei nicht nur auf disruptive Technologien, sondern auch auf Denkweisen, Prozesse, Systeme, vertraute Verfahren im Bereich Bildung, Gesundheit, Politik und natürlich auch Psychotherapie. Stehen uns global gesehen also apokalyptische Zeiten bevor? Oder handelt es sich wieder nur um übliche Schwarzmalerei?

Ohne an dieser Stelle auf den «Mythos Disruption» (Horx) näher einzugehen, scheint es mir angebracht zu sein, einige Phänomene, Ereignisse, aber auch persönliche Erfahrungen zu beschreiben, die mir im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit die teils überraschenden und erschreckenden Wirkungen von Disruption vor Augen geführt haben. Wirtschaft, Philosophie und Beratung sind schon seit Langem überzeugt, dass disruptive Wirkungen eng mit der Entwicklung der dritten Phase von Globalisierung verknüpft seien. Hiess es seit Anfang der 1990er Jahre doch: Immer weiter, immer höher, immer schneller, immer mehr, so hat sich inzwischen eine radikale Desillusionierung breitgemacht.

«Denn immer weniger scheint fortschreibungsfähig, immer mehr wird fragwürdig: im Technischen, im Ökonomischen, im Sozialen und im Politischen. Neuerungen, Enttäuschungen, Brüche von Entwicklungen, Erosion von Gewissheiten, Unbestimmtheiten, Führungsverluste, neuartige Konflikte haben einen Erwartungsraum geöffnet, der offenkundig nicht durch Erfahrungen, Tendenzen, Trends oder Pfadabhängigkeiten erfasst, beschrieben oder verortet werden kann» (Hüther, 2022).

Zwar kann man gewisse Prozesse (z. B. in der Arbeitswelt, Verwaltung, Mobilität u. a.) effizient gestalten. Menschen, die Natur, das Klima zeigen jedoch unmissverständlich Grenzen auf. Natur ist nicht effizient. Der Mensch ist nicht effizient und das Klima entwickelt sich nicht so, wie es am Reissbrett von schlauen Architekten, dauerpräsenten Politikern und populären Zeitgeist-Philosophen propagiert wird.

Rückblickend erinnere ich mich an den 11. September, als die Twin Tower in New York angegriffen wurden und einstürzten. Die Welt schien auf einmal in Gut und Böse aufgeteilt zu sein. Das Böse sollte von da an weltweit verfolgt und vernichtet werden (Sollmann, 2003). Ich erinnere mich an die Erfahrung der Wirtschafts- und Finanzkrise (Modena, 2010; Sollmann, 2012), die weltweit zu ökonomischen, politischen, aber auch menschlichen Verwerfungen geführt hatte. Die Fachzeitschriften Psychotherapieforum und Psychotherapie-Wissenschaft hatten sich im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ausführlich und differenziert mit den hierdurch bedingten psychologischen Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft befasst. Ich erinnere mich an den globalen, unheimlichen Viruscocktail, der seit Dezember 2019 eine tiefe Schneise in das Selbstverständnis, die Selbstsicherheit, aber auch in wesentliche Kernüberzeugungen der Menschen weltweit geschlagen hat. Dieser Viruscocktail setzt sich zusammen aus SARS-CoV-2 als biologischem Virus, der Angst/Panik als emotionalem Virus und der viralen Kommunikation (Internet, Social Media usw.) (Sollmann, 2020).

Identitätszweifel und Orientierungslosigkeit bahnten sich ihren Weg in die Köpfe und Seelen der Menschen, weltweit. Die von der Wirtschaft globalisierungsgeformten Massstäbe entpuppten sich als entrückt von Massstäben der Menschlichkeit. «Die Fragmentierung und Individualisierung der Kommunikation [zerlegte] den öffentlichen Raum der Gesellschaft in Echokammern kleinerer Vorurteilsgemeinschaften», so Hüther (2022). Und nun der Krieg in der Ukraine. Zusätzlich zu den zerrissenen und zerstörten globalen Lieferketten, dem überhasteten Wettlauf um verfügbare Ressourcen, dem unübersehbaren Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und unabhängig von der rasant ansteigenden Inflation. Aber auch die drohende Hungerkatastrophe, die bedingt durch den russischen «Korn-Krieg» der Welt ein unvorstellbares Leid zufügen wird.

Psychotherapie ist Teil der sich radikal verändernden Welt

Warum erzähle ich dies? Wie steht es um Psychotherapie in einer disruptiven, gefährdeten Welt? Oder wie gefährdet sind Bild und Selbstverständnis von Psychotherapie in dieser heutigen Welt? Breitet sich die vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am 24. Februar 2022 im deutschen Bundestag angekündigte Zeitenwende nicht bereits seit Langem überall aus?

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck forderte kurze Zeit (24. Mai 2022) später beim Weltwirtschaftsforum in Davos eine neue Weltordnung und nannte vier der wesentlichen Krisen: Krieg in der Ukraine, Inflation, Nahrungsknappheit und Klima. Sind es (nur) vier zentrale globale Krisen, frage ich mich, oder ist es nicht ein Gemisch, ein unheimlicher Cocktail von Krisen? Zeigt dieser Krisencocktail inzwischen nicht sein wahres Gesicht, nämlich die Fratze einer unbändigen, entfesselten Globalisierung? Das Gesicht einer vollständig aus dem Ruder gelaufenen, disruptiven Welt? Folgt die Meisterung der einen nicht der Beginn einer neuen Krise? Können die bisher favorisierten Methoden von Krisenbewältigung nicht inzwischen gar mit dem verzweifelten Kampf gegen die Schlange Hydra verglichen werden? Wuchsen doch der enthaupteten Hydra der griechischen Mythologie danach zwei neue Köpfe.

Psychotherapie ist ein Teil von dieser Welt. Psychotherapie sieht sich schon seit Langem mit den Auswirkungen solcher Krisen konfrontiert. Menschen suchen Zuflucht, persönlich Schutz und in ihrem Leiden Behandlung. Psychotherapie kann solchen disruptiven Prozessen auch selbst nicht entgehen. Sind sie doch bereits seit Jahrzehnten Teil der eigenen Entwicklung (Schmid-Blumer & Sollmann, 2010). Psychotherapie als Heilung der Seele oder professionelle Behandlung psychischer/psychosomatischer Störungen mit psychologischen Mitteln hat sich in den letzten 150 Jahren zu einer vielschichtigen Palette von möglichen Behandlungskonzepten entwickelt. Psychotherapie ist sowohl die Behandlung psychischer Schwierigkeiten und Probleme sowie die Unterstützung der Entwicklung von persönlichen Ressourcen und des persönlichen Wachstumspotenzials. Grundsätzlich (so vermute ich) folgen Psychotherapeuten der Überzeugung, wie unterschiedlich die einzelnen Schulen und Richtungen auch sein mögen, dass ein solches Selbstverständnis, basierend auf einem humanistischen Menschenbild, prägend für Psychotherapie insgesamt ist.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir uns in den 1970er Jahren voller Enthusiasmus, Überzeugung, Lebensfreude und Wissensdrang in einen diesbzgl. Erlebnis- und Erfahrungsprozess gestürzt hatten. Dieser bezog sich auf uns selbst im Sinne von Körper-Selbst-Erfahrung als auch auf die (professionelle) Arbeit mit Menschen, sei es im therapeutischen oder nichttherapeutischen Bereich. Anfangs noch in sogenannten Sensitivity-Gruppen, später dann in themenspezifischen Workshops oder schulenspezifischen Ausbildungen, gelang uns sowohl die Entwicklung von humanistisch-psychologischen, gesellschaftlichen Milieus (z. B. das Esalen-Insitut; Anderson, 1983) als auch von humanistisch-psychotherapeutischer Kompetenz in der Arbeit mit Menschen. Die Zeit war damals reif für persönliches Wachstum (Human Potential Movement), für «lebendiges Leben» (Lowen, 1993), oder wie Perls (1986) es ausdrückte, für humanistisch-erfahrungsorientierte und erlebnisaktivierende Zugänge, für Stimmigkeit und Integration psychischer Prozesse und persönlicher Reifung.2 Aus diesem lebendigen und kreativen Zusammenspiel entwickelten sich, oftmals bahnbrechend, neue, wichtige Zugänge im Bereich Psychotherapie. Inzwischen sind die sogenannten humanistischen Verfahren ein unverzichtbarer Bestandteil der Psychotherapiewelt.

Psychotherapie gelang somit der Sprung heraus aus der «Nische» einer geheimnisvoll wirkenden Beziehung zwischen Psychoanalytikern und auf der Couch liegenden Patienten, so wie es in den 1950er und 60er Jahren vielfach kolportiert wurde. Psychotherapie wurde gesellschaftsfähig. Psychotherapie wurde von den Krankenkassen bezahlt. Psychotherapie wurde verstärkt nachgefragt und inspirierte ganz unterschiedliche Bereiche des Lebens. Die Entwicklung von Psychotherapie geschah sozusagen in einem Freiraum mit unausgesprochener, gesellschaftlicher Erlaubnis: nämlich das, was Psychotherapie ausmachen würde, sie konkret für breite Bevölkerungsschichten zur Anwendung zu bringen, zu entwickeln, kreativ zu gestalten, zu professionalisieren und schliesslich zu verberuflichen.

Desillusionierung als Beginn von Disruption

Qualifizierung, Professionalisierung und Verberuflichung von Psychotherapie mündete Ende der 1990er Jahre in das deutsche Psychotherapeutengesetz (PTG). Es gab ähnliche Entwicklungen europaweit. Einerseits waren diese nicht nur begrüssenswert, sondern längst überfällig. Andererseits waren jedoch auch deutliche disruptive Anzeichen zu verzeichnen. So beschrieb der Gestaltpsychotherapeut und Psychoanalytiker Heiner Sasse Mitte der 1990er Jahre das Phänomen des «imaginierten Dritten in der Psychotherapie». Er bezog sich dabei auf ein seltsames Beziehungskonstrukt, das dem Heilungsprozess des Patienten und einer professionellen, qualitativ hochwertigen Behandlung dienen sollte. Bei näherer Betrachtung stellte es sich jedoch als ein verstecktes, implizit wirkendes Machtinstrument dar. Es kam zu einem Einwirken auf die Therapiebeziehung und das Vertrauensverhältnis zwischen Klient und Therapeut, ohne dass beide um eine diesbzgl. Zustimmung gefragt wurden. Insoweit bildete die Therapiebeziehung nicht mehr den gewünschten geschützten, sicheren Raum. Ein solcher ist aber für das Gelingen einer Psychotherapie unbedingt erforderlich.

Vertrauen, Vertrautheit und professionelle Intimität sind wesentliche Wirkelemente von Psychotherapie insgesamt. Dies zu stören, widerspricht nicht nur des professionellen State of the Art von Psychotherapie, sondern kommt einem Übergriff, einer missbräuchlichen (disruptiven) Beziehung durch Aussenstehende gleich. Psychotherapeuten konnten damals in Deutschland Psychotherapien im Rahmen der sogenannten Kostenerstattung über die Krankenkassen abrechnen. Patienten mussten sich aber zuvor eine ärztliche Indikation besorgen. Dies wirkte wie eine Erlaubnis durch einen an der Therapie selbst nicht beteiligten Dritten. Er fungierte nur als Mittel zum Zweck. Die Behandlung erfolgte danach beim Therapeuten der eigenen Wahl des Klienten.

Psychotherapie basiert wie gesagt auf einer Vertrauensbeziehung zwischen Psychotherapeut und Klient. Diese zu entwickeln, gehört essenziell zum professionellen Handwerkszeug, ist menschliches Geschick und heilende Kunst zugleich. Im damaligen Konstrukt der Kostenerstattung musste sich aber der Patient zuvor einem Arzt gegenüber öffnen, ohne dass eine Therapiebeziehung entstehen sollte. Gleichzeitig wurde dem nichtärztlichen Psychotherapeuten die Kompetenz abgesprochen, die Notwendigkeit einer Psychotherapie selbst bestimmen zu können, sodass die Kasse die Kosten übernehmen konnte. Der Therapeut galt aber dann als kompetent genug, eine qualifizierte Therapie durchzuführen. Der Patient, der sich einen Psychotherapeuten des Vertrauens suchte, musste nun die Erfahrung machen, dass sein Therapeut offensichtlich nicht kompetent genug sein würde, hätte der Therapeut doch sonst selbst eine Bewilligung der Psychotherapie bei der Kasse bewirken können (ohne die ärztliche Indikation).

Das damalige Kostenerstattungsverfahren stellte somit einen disruptiven Eingriff in eine zu entwickelnde, psychotherapeutische Vertrauens- und Behandlungsbeziehung dar. Im Grunde genommen wurden alle drei Beteiligten, nämlich Arzt, Patient und nichtärztlicher Psychotherapeut, durch die Regelung der Krankenkasse beschämt. Der Klient musste sich einem Fremden gegenüber, den er nie wieder sehen würde, vertrauensvoll mit dem Bericht persönlich-intimer Dinge öffnen. Der Arzt wurde instrumentalisiert und reduziert auf denjenigen, der gewissermassen die Erlaubnis zur Behandlung erteilte. Und dem Therapeuten wiederum wurde die Kompetenz abgesprochen, selbst eine kompetente Diagnose zu erstellen. Nicht genug der Übergriffigkeit. Die Krankenkasse selbst blieb somit als ein zentraler (imaginierter) Dritter von Anfang an mit im Spiel. Ohne sie ging nichts.

Das Psychotherapeutengesetz: Segen und Fluch zugleich

Das PTG war ein wichtiger Schritt, um das Berufsbild des Psychotherapeuten gesetzlich zu definieren und zu verankern. Es stellte aber auch einen massiven, disruptiven Einschnitt dar. Ging es anfangs noch um eine gesetzlich verankerte Konsolidierung von psychotherapeutischer Qualität und Kompetenz, so ging es später auch darum, die Sicherung der Teilhabe am wirtschaftlich-lukrativen Kuchen, an der Bezahlung durch die Krankenkassen, über eine gesetzliche Anerkennung zu sichern (vgl. auch Schigl et al., 2021; Sasse, o. A.). Es kam zu einer nicht zu überhörenden Rivalität unter den Psychotherapieschulen und Berufsgruppen (Ärzte, Diplom-Psychologen, Diplom-Sozialarbeiter u. a.). Jede Berufsgruppe bemühte sich mit allen Mitteln sozialrechtlich anerkannt zu werden, sodass die eigene therapeutische Tätigkeit durch die Kassen bezahlt werden konnte. Es kam schliesslich zu einem massiven Verdrängungswettbewerb, in dem man die sozialrechtliche Anerkennung dadurch sichern wollte, indem man andere Berufsgruppen und/oder andere Therapiemethoden als unqualifiziert diskreditierte. Es kam schliesslich zur Vernichtung von Lebensexistenzen der Psychotherapeuten, die zuvor, teilweise über 20 Jahre, im Rahmen der Kostenerstattung einen bedeutsamen Beitrag zum Gesundheitssystem geleistet hatten, insoweit, als sie sich ab 1999 nicht mehr Psychotherapeut nennen durften. Noch wurde ihre Tätigkeit weiterhin von den Kassen bezahlt.

Während sich bis 1999 eine Vielfalt von psychotherapeutischen Zugängen in der Arbeit mit Klienten/Patienten entwickelt hatte, reduzierte sich nunmehr dies Geschehen auf ein – durch das PTG hervorgerufen – beschränktes Angebot von (schliesslich) vier Psychotherapie-Richtungen. Dies kann als ein weiteres Merkmal des disruptiv wirkenden Bestrebens nach Macht und Einfluss verstanden werden. Die Klienten hatten dabei das Nachsehen, da ihnen nunmehr die Möglichkeit genommen wurde, wie bislang, unter verschiedenen qualifizierten Methoden auswählen zu können. Die bis 1999 vorhandene bedeutsame Vielfalt wurde reduziert und manualisiert. Bis dahin für professionell erachtete Weiterbildungsgänge wurden entweder als nichtwissenschaftlich disqualifiziert oder lediglich als methodisches Beiwerk (als Zweitverfahren, heute würde man sagen Add-on) zugelassen. Dieses disruptive Geschehen führte, wie gesagt, auch zur Vernichtung von beruflichen Existenzen und schränkte das Therapieangebot radikal ein. Dies wurde letztendlich auf dem Rücken der Patienten ausgetragen. Die bei Verabschiedung des PTG erhoffte sichtbare Verbesserung der Versorgungslage im Bereich Psychotherapie ist bis heute nicht nur nicht eingetreten, sondern hat sich sogar noch verschlechtert.

Ein weiteres disruptives Geschehen, das sich v. a. Ende der 1990er Jahre stärker auszubreiten begann, war die Betonung von effizienzgetriebener Psychotherapieforschung. Grundsätzlich begann man zwischen Efficacy- und Effectiveness-Studien zu unterscheiden. Ein deutlicher Schwerpunkt wurde auf randomisierte kontrollierte Studien-Designs (RCT) gelegt, das heisst, es wurde nur auf quantitative Methoden statt (auch) auf qualifizierte Einzelfalluntersuchungen gesetzt. Ziel war es, eine hohe externe Validität und Generalisierbarkeit der Forschungsergebnisse zu erreichen. Andere, nämlich qualitative Zugänge, wurden nicht nur geringschätzig behandelt, sondern sogar als unqualifiziert diskreditiert. Dies geschah durch publizistische Zuschreibung einerseits, andererseits wurden RCT leichter finanziert bzw. in ihrer Relevanz höher bewertet. Das, was bei Sigmund Freud vielleicht noch eine «Redekur» war, wurde zu einem effizienzgetriebenen Vorgang: Insoweit spiegelte sich hierin das ab, was v. a. in der neoliberalen Wirtschaft seit Anfang der 1990er Jahre prägend war. Pflegte man doch zu dieser Zeit den Ehrgeiz von: Immer höher, immer weiter, immer schneller, immer mehr (vgl. Sasse, 2011).

Schliesslich mündete dieses disruptive Geschehen im Bereich Psychotherapie in die Entscheidung, primär störungsspezifisch vorzugehen und ein solches Vorgehen weitestgehend gezielt durch stark begrenzte Budgets (Kassenbezahlung) verpflichtend zu machen. Auf einmal hiess es, ähnlich wie bei der Behandlung eines Blinddarms, die den Aufenthalt von einer gewissen Anzahl von Tagen im Krankenhaus erlaubt, dass eine Angstproblematik oder Depression ebenso durch eine bestimmte Anzahl von Sitzungen zu behandeln sei. Würde sich herausstellen, dass mehr Sitzungen erforderlich seien, würde dies nur unter erschwerten Bedingungen möglich und finanzierbar sein.

Rückblickend scheint mir dies deutlich im Kontrast zum humanistischen Selbstverständnis von Psychotherapie zu stehen. Vorgänge, wie die zuvor beschriebenen, führten nicht nur zu wesentlichen Einschränkungen, persönlicher Enttäuschung, fachlicher Rivalität, sondern zu einer Desillusionierung gerade der Psychotherapeutengeneration, die in den 1970er und 80er Jahren wesentliche Entwicklungen, Neuerungen und Konzepte im Bereich Psychotherapie kreativ in das Gesundheitssystem eingeführt hatte. Die Desillusionierung trug aber auch Züge einer professionellen wie persönlichen Ernüchterung und narzisstischen Kränkung insoweit, als der Glaube erschüttert wurde, dass wenn man guten Glaubens ist und an das «Gute im Menschen» glaubt, sich die Dinge auch gut entwickeln würden. Diese Desillusionierung beendete ein Vierteljahrhundert an, man könnte fast sagen, paradiesischer Vorstellung von Selbstentwicklung, Selbstverwirklichung, Selbstbewusstsein und «Transzendenz des Guten».

Ich erinnere mich gut an die Enttäuschung, das kollegiale Aufbegehren gegen solche radikalen Einschnitte in die einem humanistischen Menschenbild verpflichtete Psychotherapie. Ich erinnere aber auch die Ohnmacht und Desillusionierung im Kollegenkreis. Schien doch auf einmal das, was über lange Jahre entwickelt worden war, nicht mehr nur im professionellen Raum von Psychotherapie als wirkungsvolle und wissenschaftlich fundierte Psychotherapie abgelehnt zu sein. Vielmehr, oftmals auch diskreditiert, störte eine solche Zuschreibung das Vertrauen vieler Menschen in Psychotherapie. «Willkommen im Club». Professionell ernüchtert, menschlich desillusioniert und persönlich erschöpft begann man sich im Kollegenkreis – wie aus dem Paradies vertrieben – in der neuen Well zurechtzufinden.

Die disruptive Welt im Therapiezimmer

Ganz im Gegenteil zu einer kulturpessimistischen Katastrophenstimmung erwachten andere Kollegen, um der sich nunmehr ungeschminkt auftuenden Realität professionell mit fachkundigem psychotherapeutischem Blick und (selbst-)kritischer Überzeugung zu stellen. Begannen sie doch mit den langjährig erprobten psychotherapeutischen Methoden und dem psychologischen Verstehen nun verstärkt auf eben diese gesellschaftlichen Geschehnisse einzuwirken, die disruptiven Entwicklungen zu identifizieren, um gleichzeitig zu schauen, wie man solchen Entwicklungen als Psychotherapeut begegnen könne.

Einerseits integrierte man den «imaginierten Dritten» im Therapiezimmer, indem man ihn aus der bislang vielfach praktizierten Verborgenheit oder Anonymität erlöste.3 Dies geschah im Bewusstsein der Notwendigkeit, eine neue Balance zwischen Übertragungs- und Realbeziehung zu ermöglichen. Hier ein Beispiel:

R. war bei mir wegen einer Depression in psychotherapeutischer Behandlung. Er war ein erfolgreicher Unternehmer im Bereich Anlagenbau. Wie gewohnt kam er einmal wöchentlich zur Therapie. An einem Tag wirkte er auf mich auf eine seltsame Art und Weise anders bedrückt als sonst. In der Gegenübertragung verspürte ich eine Beklommenheit, Sprachlosigkeit sowie eine gewisse Not, die ich aber nicht anders als sonst zu verstehen vermochte. Auf meine Fragen nach seinem aktuellen Befinden reagierte er mit knappen Worten, ohne aber, wie sonst, eine solche Frage als Beginn eines therapeutischen Gesprächs zu nutzen. Auf mein Nachfragen hin schilderte er mir, dass sein Unternehmen offensichtlich in einer finanziellen Schieflage wäre. Am Nachmittag desselben Tages würden zwei Bänker kommen, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Bank wollte das Unternehmen nur unter der Bedingung weiterhin finanzieren, wenn ein Manager der Bank Co-Geschäftsführer sein könnte. Die grosse Not meines Patienten bestand darin, dass er, entgegen jahrelanger Erfolge, mit dem Gefühl von – persönlichem – Scheitern kämpfte und eine düstere Zukunft befürchtete.

Ein solches Geschehen hat eine disruptive Wirkung in zweierlei Hinsicht: Einerseits stellt es eine gravierende emotionale und psychische Belastungsprobe für den Patienten dar. Andererseits schien es mir angezeigt zu sein, meinen Patienten emotional, aber verhaltenstechnisch auf die Verhandlung mit den Bankmanagern vorzubereiten. Hätte ich dies so nicht gemacht und stattdessen therapeutisch am Thema der letzten Sitzungen oder der Depression des Patienten angeknüpft, wäre dies in meinen Augen ein psychotherapeutischer Kunstfehler gewesen. Ich entschied mich in der damaligen Sitzung daher, aufbauend auf dem Erleben in der Gegenübertragung, nunmehr den Klienten auf der Ebene der Realbeziehung zu coachen. (Circa zwei Jahre später verliess der Manager der Bank die Co-Geschäftsführung. Das Unternehmen meines Klienten hatte sich konsolidiert und der Erfolg stellte sich in rasanter Geschwindigkeit wieder ein.)

Andererseits wurden zunehmend im öffentlichen Raum (publizistisch und konkret gesellschaftspolitisch) fachkundige, engagierte und kämpferische «kollegiale Stimmen» laut, die sich für eine «bessere Welt» einsetzten. Ziel war es, mit professioneller Expertise und psychotherapeutischer Erfahrung sowie gesellschaftspolitischer Überzeugung den in Not geratenen Menschen eine Stimme zu geben. Schmidbauer (2009), Ottomeier (2010), Wirth (2015), Moser (2001), um nur einige zu nennen, erhoben ihr kundiges und engagiertes Wort gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Faschismus und Rechtspopulismus, Unterdrückung, Terrorismus und strukturellen sexuellen Missbrauch. Z. B. Schmidbauers Fundament seiner Kritik (und er steht für viele) ist eindeutig gesellschaftskritisch: Er appelliert eindringlich, differenziert motivierend darin, «skeptisch gegenüber Konsum und Kapitalismus, technischem Machbarkeitsglauben» und Umweltzerstörung zu sein (Bethke, 2021). Die bemerkenswerte Sammlung von Analysen zu Donald Trump (Bandy, 2018) spiegelt die Notwendigkeit und – man könnte fast sagen – gesetzlich begründete, moralische «Verpflichtung», sich zu gesellschaftlich relevanten Personen sogar äussern zu müssen, wider (s. a. Sollmann, 2018).

Die differenzierte, vielschichtige und geistreiche Analyse von Menschen und Lebensgeschichten, so wie sich dies in Therapieprozessen entfaltet, ermöglicht also nicht nur eine Draufsicht auf das konkrete Verhalten von Menschen im gesellschaftlichen Raum oder auf die durch Menschen initiierte, gestaltete oder zerstörte Lebenswirklichkeit. Eine solche Analyse entlarvt auch Handlungsmotive, gesellschaftliche Dynamiken und Entwicklungsperspektiven im Sinne von gesellschaftspolitisch disruptiven Verhaltens- und Wirkungsmustern. Im Unterschied zu anderen politischen, journalistischen oder gesellschaftlichen Analysen geschieht dies mit zwei wesentlichen Merkmalen: Einerseits entfalten und entwirren die Autoren (auch) die oftmals undurchsichtig erscheinende Verwobenheit von Mensch und Welt. Andererseits ist dies auf der Ebene der Gesellschaftskritik stets getragen von einer (Selbst-)Verpflichtung auf ethische, humanistische Werte, so wie sie in der praktischen Therapie täglich gelebt werden.

Politisches Handeln ist immer auch Handeln vor dem Hintergrund der eigenen Biografie

Wie aber kann man sich die Bezugnahme im Bereich Psychotherapie auf disruptive Prozesse und Geschehnisse konkret vorstellen? Ich will dies an einem aktuellen, die Welt zurzeit erschütternden Beispiel kurz erläutern. Ein zentraler, konzeptioneller und theoretischer Ansatz, auf den ich mich dabei beziehe, ist die psychobiografische bzw. psychohistorische Betrachtung und Analyse. Sie ermöglicht es, Bedingungen der Kindheit und deren Auswirkungen auf die historische Psyche der Kinder im Erwachsenenalter zu verstehen. Hierdurch können sich Motivationen historischer (auch zeitgenössischer) Individuen, v. a. von politisch Handelnden, besser einordnen. Politisches Handeln ist nämlich immer auch Handeln von Menschen in ihren politischen Anzügen mit einer jeweils einzigartigen Lebensgeschichte.

«Psychobiography is a well established methodological approach to explore the entire lifespan or specific events in the life of extraordinary individuals by using psychological theories» (Sollmann & Mayer, 2021). Pioniere dieses Forschungszweigs sind u. a. deMause (2000), Loewenberg (2002), aber auch Freud. Nassehi (2022) fordert in gesellschaftlich relevanten Fällen, besonders in disruptiven Zeiten, ein genaues Hinsehen. Der psychohistorische Zugang ermöglicht dies in besonderem Masse.

W.P., 70 Jahre alt, gross geworden in einfachen Verhältnissen in einer Grossstadt, drittes Kind: Obwohl die Eltern als «uneducated» gelten könnten, investierten sie so viel sie konnten in die Schulbildung des Sohnes. Die beiden älteren Brüder waren schon in jungen Jahren krankheitsbedingt verstorben. Der Vater, schwer im Zweiten Weltkrieg verwundet und traumatisiert, dominierte die Familie, während die Mutter, eine orthodox gläubige Frau, die Erziehung des Sohnes zu kontrollieren versuchte. Diese Erziehung prägte die Kindheit und Jugend des Mannes. Es war üblich, dass der Vater den Sohn regelmässig mit seinem Gürtel schlug, während der Sohn sich intensiv, aber vergeblich zu wehren versuchte («kicking, biting, anything»). Es heisst, dass der Vater nie ein gutes Wort zu seinem Sohn oder über ihn verloren hatte.

In der Schule wurde er bis zur Pubertät kontinuierlich stark gemobbt und wegen seiner geringen Körpergrösse ausgelacht. In der Zeit zwischen zehn und 14 Jahren war er ein «Outcast», nicht nur unter den Mitschülern, sondern auch bedingt durch Verbote, nämlich z. B. Mitglied in den sonst üblichen Jugendgruppen/-organisationen werden zu können. Eine Lehrerin berichtete, dass er von anderen Schülern in der Mädchentoilette eingesperrt wurde, wo die Mädchen ihn neckten, auslachten und schlugen. Der einsame und laut weinende Junge sagte seiner Lehrerin später, dass der Tag kommen würde, an dem diejenigen, die ihn attackiert hatten, Angst davor haben müssten, dass und wie brutal er zurückschlagen würde.

Das Leben des Jungen schien sich ab seinem 14. Lebensjahr deutlich zu ändern. Er erwarb einen Meistergürtel in Judo und Sambo und galt über viele Jahre als «Streetboy» und Hooligan. Es heisst, dass in seinem Verhalten noch bis heute Spuren des Zusammenspiels von «Threatening and Defending» gegen jede Art von Mobbing und Lächerlichkeit zu sehen seien.

Nach dem Studium wandelte er sich von einem Hooligan und einem gemobbten Kind zu einem eifrigen und hoch motivierten Mitarbeiter von Verwaltung und Regierung. Schon früh, im Alter von 23 Jahren, wurde er offiziell Mitarbeiter im staatlichen Geheimdienst. (Sie wissen als kundige Leser nun, dass es sich um den jetzigen russischen Präsidenten Wladimir Putin handelt. Im Folgenden beziehe ich mich v. a. auf die Arbeiten von Ihanus, einen ausgewiesenen Kenner Putins und der Psychohistorie Russlands, und auf Sollmann, 2015.) Putin lernte von da an den Einsatz von strategischer und taktischer Intelligenz, «Gegenintelligenz» und «absolute Loyalität» (Ihanus, 2022). Eine seiner wesentlichen Aufgaben war es von da an,

«to manage the fears of citizens […]. Russian secret services served people by keeping the secrets of abuse (bullying, neglect, crime, corruption) in store for the survivors of terror and torture, to be revived in the retrials of the psychologically numbed victims. The relentless, retaliatory, punitive, deceptive, and corruptive official system of secrecy embodies the abandoning leadership and supports the totalitarian parenthood that does not respect the rights of children and bypasses their emotional needs by shaming and humiliating, thus excluding the children from democratic and reciprocal human contacts. The ensuing quest for ideal and complementary alters is doomed to lead to entrapment in solitary and narcissistic mirroring» (ebd.).

Putin bringt es selbst später (2000), zu Beginn seiner Amtszeit im Kreml, insoweit auf den Punkt, als er sagt, dass niemand ihn dort kontrollieren könne, nur er sei derjenige, der sich selbst kontrolliert. Die enge Verknüpfung und extreme (Selbst-)Verpflichtung als «Streetboy and Hooligan», später als Mitglied des KGB und ab 1999 als Chef des Kreml wirken wie ein heiliger Schwur unter Blutsbrüdern (vgl. auch Eltchaninoff, 2022). So würde er lieber wegen Loyalität gehängt werden als für Verrat (Baker & Glasser, 2007).

Den Rest der Geschichte erleben wir tagtäglich hautnah durch die allgegenwärtige mediale Berichterstattung.

Literatur

Anderson, W. (2004 [1983]). The Upstart Spring. Esalen and the Human Potential Movement: The First Twenty Years. Boston: Addison-Wesley.

Baker, P. & Glasser, S. (2007). Kremlin rising: Vladimir Putin’s Russia and the end of revolution. Updated ed. Lincoln: Univ. of Nebraska Press.

Bandy, C. L. (2018). Wie gefährlich ist Donald Trump? Gießen: Psychosozial-Verlag.

Bethke, H. (2021). Wolfgang Schmidbauer 80: In Therapie. FAZ, Nr. 7 vom 14.5.2021.

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Eltchaninoff, M. (2022). Da wusste ich, dass er einen großen Krieg beginnen wird. Der Spiegel, Nr. 15 vom 9.4.2022.

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Geuter, U. (2015). Körperpsychotherapie: Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Heidelberg: Springer.

Horx, M. (2022, 16.5.). Der Mythos Disruption. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/innovation-und-neugier/der-mythos-disruption

Hüther, M. (2022, 24.5.). https://deutschland-und-die-welt-2030.de/de/beitrag/chancen-fuer-eine-dritte-globalisierung-ausbruch-aus-der-erschoepfung

Jee, C. & Heaven, W. D. (2021, 20.12). https://www.heise.de/hintergrund/Wie-KI-die-Psychotherapie-verbessern-koennte-6295698.html

Ihanus, J. (2022). Putin and Ukraine – Putin, Ukraine, and Fratricide. In Clio’s Psyche.

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Moser, T. (1987). Der Psychoanalytiker als sprechende Attrappe. Eine Streitschrift. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Ottomeyer, K. (2010). Jörg Haider – Mythos und Erbe. Innsbruck: Haymon.

Perls, F. (1986). Gestalttherapie in Aktion. Stuttgart: Klett-Cotta.

Sasse, H. (o. A.). Zur Verinnerlichung von Machterfahrungen – und deren Aufarbeitung. o. A.

Sasse, H. (Mitte 90er Jahre). Der imaginierte Dritte in der Psychotherapie. o. A.

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Schigl, B., Lerch, L. & Rohner, J. (2021). Erfahrungen von Wiener Psychotherapeut_innen mit der Antragstellung und Bewilligungspraxis der Krankenkassen. Psychotherapieforum, (25), 44–53.

Schmid-Blumer, H. & Sollmann, U. (2010). Die Zivilisation ist eine Maschine geworden oder: Reflexe und Reflexionen über die Krise. Psychotherapieforum, (18), 1–7.

Schmidbauer, W. (2009). Psychologie des Terrors. Warum junge Männer zu Attentätern werden. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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Sollmann, U. (2018). Rezension zu Wie gefährlich ist Donald Trump? Systemagazin.

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Sollmann, U. & Mayer, C.-H. (2021). Exploring Non-Verbal Communication and Body Language in Creating a Meaningful Life: Angela Merkel in Psychobiography. In Psychobiographical Illustrations on Meaning and Identity in Sociocultural Contexts. Cham: Palgrave Macmillan/Springer Nature.

Wirth, H.-J. (2015). Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. 5., korr. Aufl. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Psychotherapy in times of disruption

Or: The expulsion of psychotherapy from paradise?

Abstract: The world, and the field of psychotherapy, are facing a rapidly developing complexity of disruption. The Covid-19 pandemic and the war in Ukraine have shaken the world to its core. Politicians now talk of a historical turning point that will play a pivotal role for many years to come. The field of psychotherapy has been confronted with radical disruption over the years. These experiences often lead to disillusionment. The experience (and processing) of disruption appears in the therapy room like an imagined stranger who, without seeking permission, develops an existence of his own. Whether it be issues related to health insurance companies, the war in Ukraine, the psychotherapist law, the pandemic, etc., the field of psychotherapy would do well to open itself up to these societal developments. Psychotherapy would thereby concretely and paradigmatically re-position itself in the interaction between transference and real relationships. This would grant the field of psychotherapy a new understanding of the fundamental humanistic values.

Keywords: psychotherapy, disruptio, disillusionment, the imagined stranger in the therapy room, humanistic concept of mankind, Putin

Psicoterapia in tempi turbolenti

Ovvero: la cacciata della psicoterapia dal Paradiso?

Riassunto: Il mondo, come la psicoterapia, si trova di fronte a cambiamenti repentini e a una complessità in rapida evoluzione. La pandemia causata dal Covid-19 e la guerra in Ucraina hanno scosso il mondo nelle sue fondamenta. I politici parlano ora di una svolta che terrà il mondo con il fiato sospeso per gli anni a venire. La stessa psicoterapia si è confrontata per molti anni con drastici cambiamenti. Questa esperienza ha spesso portato alla disillusione. L’esperienza (così come l’elaborazione) del cambiamento repentino appare nell’ambiente in cui viene effettuata la terapia come un terzo incomodo immaginario che può prendere vita propria senza aver chiesto il permesso. Che si tratti della cassa mutua, della guerra in Ucraina, della legge sugli psicoterapeuti, della pandemia, ecc., la psicoterapia fa bene ad aprirsi a questi sviluppi sociali. La psicoterapia si ricollocherà così concretamente, ma anche paradigmaticamente, nell’interazione tra transfert e relazione reale. Ciò consente anche alla psicoterapia di acquisire una nuova consapevolezza di sé, ovvero dei valori umanistici sottostanti.

Parole chiave: psicoterapia, cambiamento repentino, disillusione, terzo incomodo nella stanza di terapia, immagine umanistica dell’uomo, Putin

Der Autor

Ulrich Sollmann, Dipl. rer. soc., ist Körperpsychotherapeut (Bioenergetische Analyse, Gestaltpsychotherapie), Mitglied der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP), Berater und Coach in Wirtschaft und Politik, Publizist und Blogger. Er arbeitet in freier Praxis in Bochum sowie u. a. regelmässig in China. Mit Vorträgen- und Lehre ist er u. a. als Gastprofessor an der Shanghai University of Political, Science and Law sowie als Senior Lecturer an der Maltepe University in Istanbul tätig.

Kontakt

sollmann@sollmann-online.de

1 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschliesslich die männliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermassen für alle Geschlechter.

2 Der Körperpsychotherapeut und Psychoanalytiker Ulfried Geuter gibt einen guten Einblick in die Geschichte der Entwicklung von Körperpsychotherapie im Handbuch der Körperpsychotherapie (2006) sowie in seinem Buch Körperpsychotherapie: Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis (2015).

3 Disruptive Ereignisse, gesellschaftliche Entwicklungen oder persönliche Erfahrungen wurden seitdem von vielen Kollegen als implizit einwirkende, «imaginierte Dritte» bewusst einbezogen. Entweder begann man in einem solchen Fall, die Präsenz und Wirkung aktiv und bewusst (falls erforderlich) im Therapiegeschehen aufzugreifen, oder man berücksichtigte Disruption als ein Teil der Realbeziehung.