Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 5–6
Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg, Terror, Gewalt: alles aktuelle Gegebenheiten, deren Auswirkungen wir ausgesetzt sind. Was hat Psychotherapie in diesen Zeiten der Gesellschaft zu geben, was kann sie anbieten? Wie gehen wir selbst als PsychotherapeutInnen in dieser gefährdeten Welt mit den psychischen Auswirkungen und der Angst vor der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen um? Die Angst vor Covid und die Massnahmen dagegen beeinflussen auch unser Leben als Professionelle. Analog die Auswirkungen der in dramatischer Weise sichtbar gewordenen Klimaveränderungen. Wir sind genauso Teil dieser Gesellschaft wie auch unsere PatientInnen und die PolitikerInnen. Wir haben ähnliche Ängste und kreieren Symptome als Antworten auf die verschiedenartigen Bedrohungen. Wie beeinflusst dies unsere therapeutische Arbeit?
Den Titel dieses Hefts haben wir in Anlehnung an eine Tagung der European Association for Psychotherapy am 12./13. März 2022 gewählt. Eine Tagungsbesprechung ist im à jour! Psychotherapie Berufsentwicklung im Juni erschienen.1 Welche Hoffnung kann man auf Psychotherapie setzen, um einen Beitrag zur Bewältigung dieser Krisen zu leisten? Dieser Frage wollten wir auch in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift nachgehen. Bei der Zusammenstellung der Beiträge suchten wir nach AutorInnen, die zu den verschiedenen aktuellen Krisen etwas sagen können. Ein reichhaltiges Heft ist entstanden.
Irvin Yalom, ein bedeutender Vertreter der existenziellen und humanistischen Psychotherapie ist mittlerweile 91-jährig und in einem fragilen Gesundheitszustand. Mit ihm führte Eugenijus Laurinaitis, litauischer Psychotherapeut und aktueller Generalsekretär der EAP, anlässlich der Jubiläumstagung der EAP ein sehr persönliches Interview, das Yalom als Person spürbar macht und aufzeigt, wie dieser in seinem Leben viele Krisen bewältigte – und was ihm half, sie durchzustehen: verlässliche Beziehungen, die echte Begegnungen ermöglichen. Genau das sieht er als etwas vom Wichtigsten, was Psychotherapie traumatisierten Menschen geben kann. Wie in verschiedenen seiner Schriften sind Sterben und Tod auch in diesem Gespräch ein wichtiges Thema. Wir danken der EAP, dieses Interview in deutscher Sprache publizieren zu dürfen.
Birte Brugmann und Inge Missmahl sind als Jung’sche Psychotherapeutinnen mit einer von ihnen ins Leben gerufenen Organisation in verschiedenen Ländern mit kriegerischen Krisen psychotherapeutisch tätig. Sie beschrieben in einem früheren Beitrag für unsere Zeitschrift ihren eigens entwickelten Ansatz des Value Based Counseling,2 das in Afghanistan aus der Praxis heraus entstand. Im aktuellen Beitrag erläutern sie, wie der Ansatz zu einem leicht skalierbaren Instrument für Interventionen in einem ressourcenarmen Setting weiterentwickelt wurde und wie die strukturierte Gesprächsführung den Ansatz sogar für eine digitale Anwendung tauglich macht, der die KlientInnen unabhängiger von CounselorInnen macht.
Isabel Fernandez, Präsidentin der Italienischen und Europäischen Gesellschaften für EMDR, beschreibt in ihrem Artikel, welchen Beitrag EMDR zur Bewältigung von Traumata in verschiedenen Kulturen leisten kann. Sie veranschaulicht, dass es in den letzten Jahren eine starke Entwicklung von Wissen, Studien, Richtlinien und Werkzeugen gab, um die Bedeutung psychologischer Interventionen in traumatischen Situationen sowohl individuell als auch kollektiv zu demonstrieren. Sie betont auch, wie wichtig es ist, in die verschiedenen Stadien des Traumas einzugreifen, um psychische Störungen zu verhindern, Risikofaktoren zu neutralisieren und vor allem die Anpassungsfähigkeit und das posttraumatische Wachstum zu fördern. EMDR leistet einen bedeutenden Beitrag zur Arbeit in instabilen Situationen und mit Bevölkerungsgruppen, die sich in Kultur, Religion und Sprache unterscheiden, und ermöglicht diesen, über die traumatische Erfahrung hinauszugehen, Symptome zu reduzieren, sich zu stabilisieren und persönliche und gemeinschaftliche Schutzfaktoren zu entwickeln, die die Widerstandsfähigkeit von Erwachsenen und Kindern fördern.
Anja Schnurr und Christine Bauriedl-Schmidt thematisieren aus psychodynamischer Perspektive den Umgang mit Ängsten bezüglich der Klimakrise. Diese fordert die Menschheit heraus, die eigenen Lebenspraktiken vor dem Hintergrund von Klimaschutz und «Klimagerechtigkeit» radikal zu überdenken und zu transformieren. Das weckt verschiedene Gefühle wie Angst, Trauer, Scham, Schuld, Neid und Ärger, was zu inneren Konflikten mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen führen kann. Die Abwehr dieser Gefühle und Konflikte erfolgt nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die Autorinnen beschreiben einen ethischen Rahmen, der dazu verhelfen kann, eine Brücke von der moralischen inneren Einstellung hin zu konkordantem, klimagerechtem Handeln zu bauen.
Lucia Formenti thematisiert die therapeutische Hilfe für Geflüchtete und deren BetreuerInnen. Sie stellt EMDR als geeignetes therapeutisches Instrument dar und nimmt explizit auf den Krieg in der Ukraine Bezug. Nach einer kurzen theoretischen Einführung in die Stadien des Traumas und den Trauerprozess zeigt sie den effektivsten Weg der Erste Hilfe-Intervention mit EMDR auf. Bei dieser Art von Notfallintervention besteht angesichts des ständigen Stresses, dem die HelferInnen ausgesetzt sind, die Gefahr, eine stellvertretende Traumatisierung zu entwickeln. Es ist daher unerlässlich, auch für sie an eine gezielte Unterstützungsintervention zu denken, um die Resilienz zu erhöhen. Forschung und internationale Leitlinien zeigen, dass die EMDR-Therapie einen grossen Beitrag für Geflüchtete leisten kann.
Ulrich Sollmann steuert ein Essay zum Thema «Psychotherapie in Zeiten von Disruption» bei. Mit Disruption sind ernsthafte Störungen gemeint wie Krieg, Terror, Pandemie, Klimakatastrophe. Er sieht unsere Zeit als eine, die mit immer komplexeren Krisen konfrontiert ist, die sich in wechselseitigen Prozessen zu ernsthaften Disruptionen globalen Ausmasses emporschaukeln. Die Auswirkungen dieser Prozesse finden wir in unseren Therapiezimmern wieder. Zugleich ist Psychotherapie selbst von gesetzlich desillusionierenden Disruptionen als Berufsstand betroffen. Ein Essay, mit dem der Autor zum vermehrten Einbezug gesellschaftlicher Entwicklungen in die Psychotherapie aufrufen und zu einem neuen Selbstverständnis der Psychotherapie und der ihr zugrundeliegenden humanistischen Werte beitragen will.
Jeanette Fischer präsentiert in einem weiteren essayistischen Beitrag ihre psychoanalytisch begründete Sicht, wie der Krieg in unserer Gesellschaft bereits angelegt ist. Sie reflektiert, wie Bindungen in unserer Gesellschaft zumeist in Herrschaftsdiskursen mit einem Machtgefälle entstehen und so eine Grundlage schaffen für Eigennutz und Ausbeutung. Die Aufwertung seiner selbst ist nur möglich durch die Abwertung des Anderen, was eine Legitimation zur Ausgrenzung bis hin zur Tötung des Anderen bedeuten kann. Eine Alternative wären eine Erziehung und eine gesellschaftliche Ordnung, die auf dem Prinzip der Intersubjektivität statt des Machtgefälles beruhen. Dies führt zu einer Anerkennung der Differenz, was zum Wegfall von Überheblichkeit und Machtgefälle führt und damit einen Beitrag zur Friedensförderung leisten kann.
Paolo Migone hat einige Abstracts aus der italienischen Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane zum aktuellen Heftthema zusammengestellt.
In einem Originalbeitrag stellt Paolo Raile seinen Ansatz der Handlungsmöglichkeiten-erweiternden Psychotherapiewissenschaft (HEP) vor und führt damit ein Thema weiter, das in unserer Zeitschrift wiederholt Platz fand. Basierend auf dem radikalen Konstruktivismus formuliert er eine Praxeologie, die es PsychotherapeutInnen ermöglicht, nicht einem starren Behandlungskonzept zu folgen, sondern auf die besonderen Begebenheiten einer jeden Therapiesituation einzugehen und entsprechend flexibel handeln zu können. Das erfordert bei TherapeutInnen nicht nur Flexibilität, sondern auch Intuition und ein ausreichend grosses Repertoire an Handlungsmöglichkeiten. Dies soll mit einer forschungspraktischen Anwendung der HEP geschult werden. In diesem Heft bringen wir mit Teil 1 seines Beitrags die theoretischen Grundlagen. Teil 2 enthält die forschungspraktische Umsetzung und erscheint in der nächsten Ausgabe.
Den Abschluss des Hefts bilden ein Tagungsbericht und drei Buchbesprechungen. Wir wünschen eine anregende Lektüre.
Peter Schulthess & Mara Foppoli
1 Schulthess, P. (2022). Bericht von der Tagung zum 30-jährigen Bestehen der EAP. à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung, Heft 15, 13–16.
2 Missmahl, I. & Brugmann, B. (2019). Value-based Counseling. Kultur und Religion als sinnstiftendes Element einer psychodynamischen Kurzzeitintervention. Psychotherapie-Wissenschaft, 9(1), 39–49.