Der Beitrag der EMDR-Therapie zur Traumabehandlung
Isabel Fernandez
Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 31–36
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-31
Zusammenfassung: Im Verlauf der letzten Jahre erlebten wir die Entwicklung von Kenntnissen, Werkzeugen und gar internationalen Richtlinien, die die Bedeutung einer psychologischen Behandlung nach persönlichen und kollektiven traumatischen Erlebnissen hervorheben. Auch im Bereich der EMDR-Therapie wurde die Entwicklung genau verfolgt. Der Therapieansatz wurde angepasst und weiterentwickelt, um auch in schwierigen Situationen und bei Menschen mit unterschiedlichem kulturellem, religiösem und sprachlichem Hintergrund anwendbar zu sein. In diesem Artikel wird der Beitrag der EMDR-Therapie zur Psychotherapie untersucht. Dazu werden praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen beschrieben, die ihre Wirksamkeit belegen. Wie wir feststellen konnten, haben viele Menschen, die ein traumatisches Ereignis überlebt haben, diese Erfahrungen überwinden und weiterleben können. Es ist wichtig, die verschiedenen Stadien zu berücksichtigen, die Patient*innen in Stressreaktionen durchlaufen, und zu prüfen, welche Art der Intervention am besten geeignet ist, um die Resilienz der Betroffenen zu stärken und ein posttraumatisches Wachstum zu ermöglichen. Insbesondere Minderjährige und die gefährdetsten Bevölkerungsgruppen benötigen spezielle psychologische Interventionen, die dem Trauma entsprechen und die Symptome reduzieren, die Patient*innen stabilisieren und die Entwicklung persönlicher und gemeinschaftlicher Schutzfaktoren ermöglichen, die die Widerstandsfähigkeit fördern. In der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema wird hervorgehoben, wie wichtig es ist, in den verschiedenen Traumaphasen entsprechend zu intervenieren, um psychischen Störungen vorzubeugen, Risikofaktoren zu minimieren und vor allem die posttraumatische Anpassung sowie Entwicklung zu fördern. Inzwischen wurde EMDR in verschiedenen Traumasituationen angewandt, auch in humanitären Notsituationen mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen, in unterschiedlichen Traumaphasen, in Einzel- und Gruppenbehandlung.
Schlüsselwörter: Trauma, EMDR, Posttraumatisches Wachstum, Resilienz
«Mental Health is everyone’s business.»
WHO (2020)
Der psychische Zustand hat nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen von psychischen Erkrankungen, sondern auch auf deren Arbeit und die Produktivität der Gesellschaft im Allgemeinen. Die Programme zur psychischen Gesundheit, die die WHO/Europe in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und anderen Partnern erarbeitet, sind auf die Entwicklung und Umsetzung nationaler Strategien und Pläne zur Förderung der psychischen Gesundheit im Sinne der WHO-Vision ausgerichtet, die da lautet: «Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit.»
Der Aktionsplan für psychische Gesundheit 2013–2020 (European Mental Health Action Plan 2013–2020) stellt Leitlinien, Instrumente und Grundprinzipien für die Förderung der psychischen Gesundheit und die Entwicklung von Therapien und Serviceleistungen bereit, die den Lebensphasen der Menschen Rechnung tragen. So wird insbesondere hervorgehoben, dass die Exposition gegenüber belastenden Ereignissen in der Kindheit ein erwiesener Risikofaktor für das Auftreten psychischer Störungen ist, die möglicherweise vermeidbar wären. Als besonders gefährdete Gruppen, bei denen Stress und traumatischer Stress auftreten können, werden Mitglieder von in Armut lebenden Familien genannt sowie Menschen mit chronischen Krankheiten, Säuglinge und Kinder, die Missbrauch und Vernachlässigung ausgesetzt sind, Jugendliche, die Drogen konsumieren, Minderheiten, ältere Menschen, Menschen, die Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen erfahren, Mitglieder der LGBTQ-Community, Gefangene und Menschen, die von Konflikten, Naturkatastrophen oder anderen humanitären Notlagen betroffen sind.
In Bezug auf die humanitäre Notlage, in die uns diese Pandemie geführt hat, hat die WHO (2020) klar zum Ausdruck gebracht, dass die COVID-19-Eindämmungsmassnahmen durch Massnahmen zur Förderung des psychologischen Wohlbefindens gestützt werden müssen, um der Bevölkerung bei der Bewältigung des durch diese Krise verursachten Stresses zu helfen. Um möglichen Schwierigkeiten vorzubeugen bzw. sie angemessen zu bewältigen, sind daher die Einhaltung der internationalen Leitlinien und die Unterstützung durch Psychologen unerlässlich. WHO/Europe hat fünf Prioritäten für die Förderung der psychischen Gesundheit festgelegt:
Inzwischen wissen wir, was bei der Förderung der psychischen Gesundheit, bei der Prävention, der Pflege und auch bei der therapeutischen Behandlung funktioniert. Die Herausforderung besteht darin, dieses Wissen und die evidenzbasierten Behandlungen im Bereich der Psychotherapie umzusetzen. Unser Ansatz zielt darauf ab, diesen Prioritäten gerecht zu werden.
Die ACE-Studie ist mit mehr als 17.000 Teilnehmenden eine der wichtigsten amerikanischen epidemiologischen Studien. Ziel der Studie war es, die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit auf das Auftreten körperlicher und psychischer Erkrankungen, die Behandlungskosten und die Lebenserwartung im Erwachsenenalter genau zu analysieren. Die ACE-Studie entstand in Zusammenarbeit zwischen den Centers for Disease Control and Prevention und Kaiser Permanente. Die Forschungsdaten, die über ein Jahrzehnt hinweg erhoben wurden, belegen einen engen Zusammenhang zwischen dem Ausmass an traumatischem Stress in der Kindheit und schweren körperlichen, geistigen und verhaltensbezogenen Defiziten, die sich im späteren Leben manifestieren.
Ausgangspunkt der ACE-Studie ist die Annahme, dass belastende Lebensereignisse oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit zu sozialen, emotionalen und kognitiven Defiziten im Jugend- und Erwachsenenalter führen können. Zu nennen sind hier beispielhaft gefährdende Verhaltensweisen, Gewalt, Krankheit, Behinderung und sogar ein vorzeitiger Tod. Die ACE-Studie zeigt, dass früher Stress einen sehr starken Risikofaktor für folgende Gesundheitsprobleme darstellt: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Bluthochdruck, Schlaganfall und Herzinfarkt, Diabetes, Übergewicht und Adipositas, verminderte Immunfunktionen usw.
Laut einer von der Harvard University – Center of the Developing Child veröffentlichten Studie mit dem Titel Childhood Trauma And Its Lifelong Health Effects More Prevalent Among Minorities (Teicher et al., 2017) bleiben die Auswirkungen von Kindheitstraumata bestehen und können mit psychischen Erkrankungen und Verhaltensmustern in Verbindung mit chronischen Störungen im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus erklären die Forschenden, dass es effektiver sein könnte, Traumata als entscheidenden Determinanten der öffentlichen Gesundheit zu behandeln. Diese Studie ist «wahrscheinlich der gründlichste Test, den wir haben, um die Hypothese zu bestätigen, dass Kindheitstraumata einen starken Einfluss auf die psychische Gesundheit von Erwachsenen haben», so die Autor*innen.
Selbst das DSM-5, Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders (2013), führt aus, dass die in den diagnostischen Kriterien aufgeführten Symptome Teil eines relativ begrenzten Repertoires emotionaler Reaktionen auf innere und äussere Stressoren sind, die im Allgemeinen in einem homöostatischen Gleichgewicht gehalten werden, ohne dass es zu einer Störung der normalen Funktion kommt. Dementsprechend wird in den letzten Jahren und in der internationalen Literatur die Rolle von Traumata und Stress in der Psychopathologie zunehmend bestätigt. Allerdings ist zu bedenken, dass die Kosten für die Behandlung psychischer Störungen in Europa sehr hoch sind. Die jüngsten Statistiken zur Psychopathologie zeigen, dass die europäischen Ausgaben sich wie folgt belaufen (in Milliarden Euro): Stimmungsstörungen 113,4; psychotische Störungen 93,9; Suchterkrankungen 65,7; Angststörungen 74,4; Persönlichkeitsstörungen 27,3; somatoforme Störungen 21,2; Essstörungen 0,8 (Olesen et al., 2012).
Nach den jüngsten Schätzungen von Mental Health Europe tragen psychische Störungen und Suchtmittelmissbrauch mit 175,3 Millionen Euro jährlich am meisten zur Belastung durch Arbeitsunfähigkeit bei, was 22,9 % der Ausgaben für Arbeitsunfähigkeitsleistungen ausmacht. Da Traumata und Stress Risiko- und Auslösefaktoren für einige psychische Störungen sind, könnte die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen mit gezielten, evidenzbasierten Therapien wie EMDR (Eye Movement Desensitisation and Reprocessing) die langfristigen Auswirkungen auffangen, verringern und gleichzeitig Schutzmechanismen schaffen. Auf diese Weise arbeiten wir an der Vorbeugung psychischer Störungen im Erwachsenenalter, verbessern gleichzeitig die Lebensqualität dieser Menschen und sparen Kosten für Dienstleistungen sowie für die pharmakologische Behandlung und Unterstützung bei Störungen, die chronisch werden könnten. Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass in vielen westlichen Ländern psychische Störungen die Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit sind, die für 30–40 % der Krankheitsausfälle verantwortlich sind und 3 % des BIP verschlingen. Traumata sind ein Problem der öffentlichen Gesundheit. Daher müssen Dienste und Massnahmen auf Ebene des öffentlichen Gesundheitswesens gezielt mit frühzeitigen traumafokussierten Behandlungen eingreifen, wie z. B. mit EMDR, die ausdrücklich für den Einsatz im Kindesalter angezeigt und wirksam ist (ISTSS-Leitlinien, 2018).
Wenn Ministerien und Institutionen, die sich mit (psychischer) Gesundheit befassen, mit einer Pandemie konfrontiert werden, wie wir sie zuletzt erlebt haben, entwickeln sie öffentliche Informationskampagnen, um alle gefährdeten Personen zu erreichen, zu begleiten und zu unterstützen. Dasselbe müsste auch für die Auswirkungen von Stress und Traumatisierung geschehen, insbesondere wenn diese in der Kindheit auftraten, weil sie weit verbreitet sind und kurz- und langfristige Folgen nach sich ziehen können. Denn diese Daten sprechen dafür, dass Millionen für alles ausgegeben werden, nur nicht für die eigentliche Lösung des Problems, nämlich die Behandlung der Folgen traumatischer Erfahrungen. Es stehen gezielte, evidenzbasierte und relativ kurz gehaltene Therapiemethoden zur Verfügung, wie u. a. EMDR, die von der WHO (2013) und internationalen Leitlinien als die bevorzugten Therapien bei Traumata und Stress bezeichnet werden.
Die EMDR-Behandlung zielt darauf ab, die Folgen belastender und traumatischer Erfahrungen, auch im Beziehungsbereich, zu verarbeiten und zu überwinden. Nach den Forschungsergebnissen, auf denen EMDR beruht, muss die Behandlung darauf abzielen, a) zu erkennen und zu verstehen, wie vergangene traumatische Erfahrungen den aktuellen Gesundheitszustand der Patient*innen beeinflussen, und b) den Patient*innen dabei zu helfen, die aktuellen Symptome zu bewältigen, und sie auf zukünftige Angstsituationen vorzubereiten. Auf diese Weise werden nicht nur die Symptome bekämpft, sondern die allgemeine Lebensfähigkeit und -qualität der Betroffenen verbessert und somit deren Wohlbefinden und psychische Gesundheit gefördert.
Der Schwerpunkt bei EMDR liegt auf der Erinnerung an das traumatische Erlebnis, da dieser Ansatz die posttraumatischen Störungen als Ergebnis einer dysfunktionalen Kodierung und Speicherung des traumatischen Erlebnisses im Gedächtnis betrachtet. Deshalb werden die negativen und beständigen Emotionen, Überzeugungen und Gefühle, die nach einem traumatischen Ereignis auftreten können, als Ergebnis der im Gedächtnis gespeicherten Erinnerung auf eine gestörte Weise empfunden. Die Ursache des Leidens ist also nicht mehr die vergangene Erfahrung, sondern die Erinnerung daran und die unverarbeiteten traumatischen Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind. EMDR zeichnet sich durch den Einsatz zweiseitiger und alternierender Stimulationen aus, entweder mit Augenbewegungen oder mit anderen Formen der wechselweisen Reizgebung auf links und rechts, während Patient*innen aufgefordert werden, die Erinnerung an die traumatische Erfahrung in all ihren Einzelheiten abzurufen. Auf diese Weise reaktiviert EMDR durch den Zugang zur Erinnerung und die abwechselnde beidseitige Stimulation den natürlichen Prozess der adaptiven Informationsverarbeitung (AIP). Dieser war zum Zeitpunkt der Exposition aufgrund von neurophysiologischen und neurobiologischen Mechanismen blockiert, die mit den für die traumatische Erfahrung typischen sensorischen, kognitiven, emotionalen und körperlichen Funktionen verbunden waren.
Es ist von grosser Bedeutung, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auf die sicherste und wirksamste Art und Weise helfen zu lassen. Diese sollte wissenschaftlich fundiert sein und auf Instrumenten beruhen, die von internationalen Leitlinien in vielen europäischen Ländern ausdrücklich empfohlen werden. EMDR wird von der WHO (2013) und internationalen Richtlinien als die beste Behandlung für Traumata- und Stressreaktionen empfohlen. Diese Empfehlungen wurden von der APA (2004), dem INSERM (2004), dem US Department of Veterans Affairs und dem US Department of Defence (2017), der SAMHSA (2011) und Sjöblom et al. (2003) herausgegeben. Die EMDR-Behandlung zielt darauf ab, die Folgen traumatischer Erfahrungen abzubauen und aufzuarbeiten. Nach der EMDR-Forschung lassen sich die erwarteten Ergebnisse nach der Behandlung wie folgt zusammenfassen: Bewusstwerdung und Konzentration darauf, wie die traumatische Erfahrung den aktuellen Gesundheitszustand beeinflusst; Abbau von Stressreaktionen; Linderung von Missempfindungen im Zusammenhang mit der traumatischen Erinnerung; Stärkung von Eigenressourcen, Bewältigungskompetenzen und Resilienz; Verbesserung der allgemeinen Lebensfunktion und -qualität, Förderung des Wohlbefindens.
Eine der jüngsten Publikationen in Plos One über die Wirksamkeit von Behandlungen für posttraumatische Belastungsstörungen stuft EMDR nicht nur als eine der wirksamsten Behandlungen ein, sondern auch als eine der wirtschaftlichsten (Mavranezouli, 2020), da sie nur wenig Zeit beansprucht und auf Stressreaktionen und emotionale Belastung ausgerichtet ist. Aus diesem Grund gilt sie als kostengünstige Behandlung. In den Leitlinien der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) vom Oktober 2018 werden psychologische Interventionen, wie u. a. EMDR, über ihre Wirkung auf die klinische Symptomreduktion und die Verbesserung der Lebensfunktion und -qualität hinaus als eine Intervention mit eindeutiger Evidenz bei Erwachsenen in der frühen Akutphase betrachtet. Bei EMDR hat sich eine einzige Sitzung innerhalb der ersten drei Monate nach einem traumatischen Ereignis bereits als wirksam für die Prävention und Behandlung von PTBS erwiesen. EMDR erhielt auch eine Standardempfehlung für Interventionen innerhalb der ersten drei Monate in mehreren Sitzungen und wird als gleichwertig mit der KVT erachtet, der traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie.
Laut sehr bedeutenden Autor*innen und Forscher*innen auf dem Gebiet von Stress und traumatischem Stress, wie van der Kolk (2005) und McFarlane (2009), bestand eine der grössten Herausforderungen im Zusammenhang mit traumatischem Stress in der Untersuchung, wie viele Personen, obwohl zunächst in der Lage, ein traumatisches Ereignis zu verkraften, im späteren Verlauf Stresssymptome entwickelten. Bei einer erheblichen Anzahl von Personen manifestiert sich eine PTBS also nicht sofort in der Phase nach dem Trauma. Wir können nicht wissen, wer eine PTBS entwickelt und wie schwer sie ausfällt. Deshalb ist es wichtig, mit international anerkannten und empfohlenen therapeutischen Instrumenten wie EMDR zu intervenieren (WHO, 2013). Auf diese Weise werden Risikofaktoren abgebaut und Schutzmechanismen ausgebaut, sodass auf psychologischer Ebene eine wichtige Gesundheitsprävention geleistet werden kann.
Darüber hinaus scheinen weitere Forschungsergebnisse zu belegen, dass neben der Exposition gegenüber weiteren Umweltbelastungen oder Traumata auch subklinische Symptome das Risiko einer fortschreitenden Aktivierung erhöhen. Das kumulative Risikomodell geht von einer kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen früherer Stressbelastung und nachfolgenden Lebensereignissen aus, die wir natürlich nicht voraussehen können. Aus diesem Grund muss betont werden, wie wichtig die Intervention mit Methoden ist, die auf denselben Ebenen wirken, auf denen die Auswirkungen des Ereignisses aufgetreten sind. Nur so lässt sich das Risiko einer progressiven Kumulierung minimieren.
Die von Jarero und seinem Team entwickelten EMDR-Therapieprotokolle für die Frühintervention und die Behandlung von anhaltendem traumatischem Stress sind jetzt Teil der Schulung des Ausbildungs- und Forschungsinstituts der Vereinten Nationen (UNITAR) für Einsatzkräfte von Friedensmissionen und humanitären Hilfsorganisationen. Im Mittelpunkt steht die Desensibilisierung gegenüber akuten Stresssymptomen, insbesondere in Bezug auf intrusive somatische und sensorische Aspekte der traumatischen Erfahrung. Ziel dieser Massnahmen ist es, Patient*innen zu helfen, ihr Aktivierungsniveau zu senken und sie wieder in ihr Toleranzspektrum zu bringen, um die spontane Verarbeitung der traumatischsten Momente zu begünstigen. Die Massnahmen können schon in den ersten Stunden angewandt werden, wenn traumatisierte Personen schwere Stresssymptome und/oder Funktionsstörungen aufweisen.
Integrative Group Treatment Protocol (EMDR-IGTP): Diese Behandlung kann mit kleinen oder grossen Gruppen von Menschen mit ähnlicher Traumaerfahrung (z. B. sexueller Missbrauch, schwere Gewalterfahrungen) oder nach Erleben desselben traumatischen Ereignisses (z. B. Schiessereien, Naturkatastrophen, Terroranschläge) oder nach Erleben einer extremen Gefahrensituation (z. B. chronische Krankheit, Krebsbehandlung, häusliche Gewalt) angewandt werden. Bis heute haben Jarero und sein Team auf vier Kontinenten Katastrophenhilfe geleistet, 165 therapeutische Interventionen durchgeführt und Menschen aus 65 verschiedenen Ländern geschult. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes für die Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wurde in zahlreichen Fallberichten, Feldstudien, randomisierten kontrollierten Studien und einer Metaanalyse bestätigt.
EMDR Protocol for Recent Critical Incidents and Ongoing Traumatic Stress (EMDR-PRECI): Diese Behandlung wurde in der Praxis entwickelt, um bei schweren Ereignissen (z. B. Erdbeben, Überschwemmungen, Schlammlawinen) zu intervenieren, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen (oft mehr als sechs Monate) und bei denen es keine an das Trauma angeschlossene Sicherheitsphase für die Gedächtniskonsolidierung gibt. Es gibt wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von EMDR-PRECI im Hinblick auf die Reduzierung posttraumatischer Stresssymptome bei Erwachsenen und die Aufrechterhaltung dieses Effekts trotz anhaltender Bedrohung und Gefahr. Ferner gibt es Hinweise darauf, dass EMDR-PRECI dazu beiträgt, die Entwicklung einer chronischen PTBS zu verhindern und die psychologische und emotionale Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Die Anwendung dieses Protokolls wird von Francine Shapiro für einen längeren Zeitraum nach Naturkatastrophen oder durch Menschen verursachten Krisen empfohlen, um Situationen zu bewältigen, in denen eine anhaltende Traumatisierung gegeben ist und die Aussicht auf eine Sicherheitsphase fehlt. Das Protokoll eignet sich sehr gut für die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine.
Auch wenn die traumatischen Erinnerungen noch nicht im Gedächtnis integriert sind, kann diese Behandlung nicht nur zur Bewältigung der akuten Notlage eingesetzt werden, sondern auch zur Schaffung eines Zeitfensters beitragen, in dem eine kurze Intervention, möglicherweise in den folgenden Tagen, Komplikationen verhindern und die Resilienz stärken kann. Durch den raschen Abbau intrusiver Symptome sowie der Erregungsreaktion und durch die Identifizierung potenzieller Hemmnisse für die adaptive Informationsverarbeitung kann die EMDR-Therapie mit diesem Protokoll die Sensibilisierung und die Ansammlung traumatischer Erinnerungen vermindern.
Quinn ist Psychiater mit den Schwerpunkten Krisenintervention, Angststörungen, depressive Störungen und PTBS. Jahrelang arbeitete er ehrenamtlich in Israel in Krankenhäusern nach Terroranschlägen und behandelte Patient*innen in Luftschutzkellern und nach dem Tsunami in Thailand. Er hat Immediate Stabilization Procedure (ISP) entwickelt, um Betroffene von Unglücken innerhalb weniger Stunden nach dem Ereignis und damit oft noch im Schockzustand mit EMDR behandeln zu können. So lassen sich deren Leiden schnell lindern und ein Zustand der Entspannung wiederherstellen, ohne dass angesichts des akuten Stresses auf Verbalisierung und kognitive Aspekte abgezielt wird.
Solomon hat seine Erfahrung als Berater des South Carolina Department of Public Safety ausgebaut und bietet Seminare für Mitarbeitende von Strafverfolgungsbehörden an, die bei schwierigen Ereignissen zum Einsatz kommen. Zu diesen Seminaren gehören das PCIS-Seminar (Post Critical Incident) für Mitarbeitende von Strafverfolgungsbehörden, die in schwerwiegende Vorfälle verwickelt sind, sowie Seminare für Hinterbliebene von Militärangehörigen und Strassenverkehrsunfällen in South Carolina (im Rahmen der Selbsthilfegruppe Families of Highway Fatalities). Seit 1982 arbeitet er auch mit dem FBI zusammen, wo er das Advanced Peer Support Team, das EAP, die National Academy und das Hostage Rescue Team schult, Agent*innen nach schwerwiegenden Vorfällen direkt betreut und am Post Critical Incident Seminar des FBI teilnahm. Er unterstützte das Personal nach dem Anschlag auf das World Trade Center und dem Bombenanschlag in Oklahoma City und schulte das Critical Incident Team des US-Justizministeriums, insbesondere die amerikanische Staatsanwaltschaft. Im Rahmen des Traumaprogramms und nach 9/11 beriet und schulte er das US-Aussenministerium, die diplomatischen Sicherheitsdienste und das Arbeitsministerium.
Angesichts der Ausführungen zuvor könnte ein spezifischer Dienst innerhalb des Gesundheitswesens, der auf Psychotraumatologie und EMDR-Therapie spezialisiert ist, eine grossartige Ressource sein, um eine effektive Arbeit zu ermöglichen und Kosten im Zusammenhang mit langwierigen Therapien zu sparen. Dieser Dienst kann sich an Patient*innen mit verschiedenen Arten von psychischen Störungen richten, die mit traumatischen oder belastenden Erlebnissen oder anderen Krisensituationen zusammenhängen, für die sie eventuell Hilfe wünschen.
Wie beschrieben, zielt die EMDR-Therapie darauf ab, Erfahrungen zu verarbeiten, die möglicherweise zur Entwicklung einer Störung beigetragen haben, und so Risikofaktoren zu minimieren. Ausserdem sollen durch die Auseinandersetzung mit den Ursachen von Stress das Selbstwertgefühl und die Handlungsfähigkeit gestärkt und positive Potenziale aktiviert werden. Die negativen Auswirkungen bestimmter Situationen oder Lebensereignisse werden entschärft und gleichzeitig die positiven Elemente und die Widerstandsfähigkeit gefördert, um die Folgen eines unerwünschten Zustands zu bewältigen, die Symptome zu lindern und die Fähigkeit zu stärken, mit künftigen stress- und störungsauslösenden Situationen umzugehen. EMDR kann in Einzel- oder Gruppensitzungen angewandt werden. Sie umfasst eine anfängliche Anamnese und Therapieplanung, gefolgt von zyklischen Psychotherapiesitzungen mit EMDR-Behandlung (oft führen schon kurze Zyklen mit einer geringen Anzahl von EMDR-Sitzungen zu signifikanten Ergebnissen).
Für medizinisches und anderes Personal, das vielfältigen spezifischen Belastungen ausgesetzt sein kann, die zu einer hohen Alltagsbelastung führen, ist eine gezielte psychologische Unterstützung unerlässlich. Umso mehr, da diese Personen aufgrund der Besonderheiten ihrer Arbeitsaufgaben einer direkten und indirekten Traumatisierung ausgesetzt sind. Kritische Ereignisse können, wenn sie nicht angemessen behandelt werden, zu erheblichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit posttraumatischem Stress beitragen und den Grad des Burnouts am Arbeitsplatz stark beeinflussen. Mehr als bei anderen Tätigkeiten erfordern die ständige Alarmbereitschaft und Aufmerksamkeit, die Notwendigkeit, mit Patient*innen zu kommunizieren, auf ihre Bedürfnisse einzugehen und gleichzeitig den eigenen beruflichen Auftrag zu erfüllen, eine ständige Anpassungsfähigkeit an vielfältige Situationen und komplexe Beziehungs- und Kontaktsituationen. Die Entwicklung von zwischenmenschlicher Kompetenz und die Förderung funktionalerer Anpassungsstrategien fördern das emotionale Wohlbefinden. Es ist unerlässlich, bestimmten Elementen, die für Stress in der Arbeitsumgebung charakteristisch sind, entweder vorbeugend oder kontrollierend zu begegnen, um die mentale Gesundheit des Personals zu erhalten.
Denn alles Vorgenannte kann bei gelegentlicher sowie chronischer Exposition zu einer Beeinträchtigung des psychosomatischen Gleichgewichts des Betroffenen führen und als erste Konsequenz das Stressempfinden deutlich verstärken. Langfristig treten mehr oder weniger direkt sogenannte Burnout-Effekte auf, die zu einem Absinken des Leistungsniveaus der Fachkraft oder des Mitarbeiters führen. Zu den ersten psychologischen Interventionen gehört unbedingt eine Präventionsmassnahme. Das Ziel muss sein, bei Mitarbeitenden ganz allgemein solche Kenntnisse und Verhaltensweisen zu fördern, die für den bestmöglichen Umgang mit Krisenfällen nützlich sind. Daher sollten grundsätzlich die eigenen Kräfte und damit das Gefühl der persönlichen Eignung und Leistungsfähigkeit gestärkt werden. Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, dass sie über die emotionalen, kognitiven und verhaltensspezifischen Fähigkeiten verfügen, um mit problematischen Situationen umgehen zu können. EMDR-Protokolle zur Stärkung der Resilienz stärken diese Kompetenzen und bereiten das Personal auf kommende Herausforderungen vor.
Die psychologische Intervention während eines akuten Krisenfalls (der sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene auftreten kann) besteht in der emotionalen/psychologischen Erstversorgung. Diese Intervention zielt insbesondere darauf ab, die Auswirkungen zu mildern, die Rückkehr zum Normalzustand zu erleichtern und die Wiederherstellung der normalen Lebensfunktionen der Betroffenen zu beschleunigen. Gleichzeitig werden kurze Zyklen von EMDR-Sitzungen durchgeführt, entweder einzeln oder in Gruppen, um den traumatischen Stress zu verarbeiten und die Rückkehr zu einem normalen Arbeits-, Beziehungs-, Privat- und Familienleben zu fördern. Ziel ist es, den Menschen zu helfen, den Bedarf an psychologischer Unterstützung zu erkennen, den sie brauchen, um die eigene Lebensqualität zu steigern. Sie erhalten Instrumente zur Stärkung ihrer eigenen Möglichkeiten der Stressbewältigung und zur Erhöhung der Schutzmechanismen auf psychologischer Ebene.
Uns allen ist klar, dass nach zwei Jahren Pandemie und nun vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine mittel- und langfristig Folgen für die Allgemeinbevölkerung sowie für Kinder und Jugendliche auftreten können. Hierdurch können grosse Gefahren für das psychische Gleichgewicht und das Wohlbefinden der Menschen entstehen. Eine psychologische Betreuung kann die Genesung, die Wiederherstellung der Stabilität am Arbeitsplatz und im Alltag erleichtern und gleichzeitig Risikofaktoren verringern. Wichtig ist es, sich vor Augen zu halten, dass Unbehagen eine übliche Reaktion auf einen aussergewöhnlichen oder sich summierenden traumatischen Stimulus ist – und dass es Interventionsmethoden gibt, die ein solches Leidgefühl erheblich lindern können. Die Reaktionen auf diese Krisen sind sehr komplex und haben bereits verschiedene Phasen durchlaufen, mit Auswirkungen vor allem auf gesellschaftlicher Ebene sowie im Alltag eines jeden Unternehmens, einer jeden Schule, einer jeden Gemeinde, eines jeden Gesundheitsdienstes usw.
Während spezieller Betreuungssitzungen mit EMDR ist es möglich, Psychoedukation zu vermitteln sowie Entlastung und Aufarbeitung der traumatischsten Elemente kollektiver Krisensituationen zu erreichen, sowohl auf gemeinschaftlicher als auch individueller Ebene. Dies hilft, weitere Beschwerden zu vermeiden und bestimmte Risikofaktoren für die Zukunft zu entschärfen. Gleichzeitig wird an der Stärkung der inneren und äusseren Handlungskompetenzen der Menschen gearbeitet, um Aspekte der Resilienz und des posttraumatischen Wachstums zu fördern.
APA (2004). Practice Guideline for the Treatment of Patients with Acute Stress Disorder and Posttraumatic Stress Disorder. Arlington: APA Practice Guidelines.
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From trauma to resilience – from individual to collective
The contribution of EMDR therapy to the treatment of trauma
Abstract: In recent years, we have seen the development of knowledge, tools, and even international guidelines that emphasise the significance of psychological treatment following personal and collective traumatic experiences. Developments in the field of EMDR therapy have also been closely followed. The therapeutic approach has been adjusted and further developed to allow application in the most difficult of situations and for people with different cultural, religious, and linguistic backgrounds. This article investigates the contribution of EMDR to psychotherapy. Both practical experiences and scientific publications will be described, and their efficiency documented. We observed that many people who have survived a traumatic event are able to overcome their experiences and continue with their life. It is important to consider the various stress reaction stages that patients go through and then assess which type of intervention is best suited to strengthen the resilience of those affected and enable post-traumatic growth. Minors and the most at-risk population groups require special psychological interventions that correspond to the trauma suffered and reduce symptoms, stabilise the patient, and enable the development of personal and collective protective factors to promote resilience. The scientific literature on this topic highlights the importance of the correct form of intervention during the corresponding trauma phase to prevent the development of psychological disorders, reduce risk factors, and promote post-traumatic adjustment and development. EMDR has now been used in a wide range of trauma situations, including humanitarian emergencies involving vulnerable population groups, in different trauma phases, and during both individual and group therapy.
Keywords: trauma, EMDR, post-traumatic growth, resilience
Die Autorin
Dr. Isabel Fernandez ist Klinische Psychologin, Psychotherapeutin, Direktorin des Centro di Ricerca Psicotraumatologica in Mailand, Vorsitzende der Associazione per l’EMDR in Italien, Vorsitzende des Verbands EMDR Europe sowie Autorin zahlreicher Artikel und Bücher über Traumata und EMDR. Sie war Mitglied des ständigen Ausschusses Traumata und Katastrophen und des Ausschusses Prävention und Intervention der Europäischen Föderation der Psycholog*innenverbände.
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