Buchbesprechung

Meier, I. & Roth, G. (2022).
Depression. Verstehen und Behandeln aus Sicht der Analytischen Psychologie

Stuttgart: KohlhammerISBN: 978-3-17-041472-3170 S., 51.90 CHF, 35.00 EUR

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 103–104

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-103

Isabelle Meier und Gerold Roth legen ein Buch vor, das, wie Verena Kast in ihrem Geleitwort schreibt, erstmals zeigt, wie das Störungsbild der Depression in der aktuellen Jungianischen Psychotherapie verstanden und wie damit gearbeitet wird. Anstoss zu diesem Buch gaben Diskussionen in den Wissenschaftskolloquien der Schweizer Charta für Psychotherapie im ASP (Assoziation Schweizer PsychotherapeutInnen) über die Manualisierung spezifischer Störungsbilder. Das Buch ist kein eigentliches Manual mit Handlungsanweisungen, sondern ein Leitfaden, der therapeutische Handlungsräume eröffnet. Es war eine Herausforderung für den Jung’schen Ansatz, den Begriff der Manualisierung nicht einfach als «unjungianisch» abzulehnen, sondern sich der Aufgabe zu stellen, herauszuarbeiten, wie auch in der Analytischen Psychologie in der Behandlung von depressiven Störungen durchaus ein beschreibbares Therapiekonzept vorliegt, dem die JungianerInnen in der therapeutischen Praxis folgen.

Das Buch gliedert sich in die Kapitel «Therapiemodell», «Diagnostik», «Störungstheorien», «Behandlung», «Techniken und Methoden», «Besondere Probleme» und «Wirkfaktoren und Forschungsstand».

Unter «Therapiemodell» wird beschrieben, mit welchen Erwartungen PatientInnen in die Therapie kommen und welche Hypothesen Jung’sche TherapeutInnen aufgrund der methodenspezifischen theoretischen Konzepte generieren, um eine Leitlinie für die Behandlung zu erhalten. Beschrieben wird die therapeutische Haltung und die Erarbeitung einer für den Therapieerfolg relevanten therapeutischen Beziehung, die auch die gemeinsame Erarbeitung einer Therapiebündnisses umfasst.

Im Kapitel «Diagnostik» werden Angaben zur Verbreitung der depressiven Störungen (Epidemiologie) und die üblichen Richtlinienkriterien erörtert (ICD und DSM) sowie auf die verschiedenen Möglichkeiten der ergänzenden psychopharmakologischen Therapie verwiesen.

Im Teil «Störungstheorien» wird es schulenspezifischer: Erst wird Jungs Verständnis von Depression geschildert, danach das «bio-psycho-sozial-spirituelle Krankheitsmodell» vorgestellt. Die Depression wird als eine multifaktoriell beeinflusste Krankheit beschrieben. Den Abschluss bilden Überlegungen zur jungianischen Psychodynamik der Depression: Typologie, Selbstregulation, Komplexe depressiver Menschen. Letzterer Abschnitt wird ausführlich gehalten mit der Erörterung folgender Aspekte: Bindungsstörungen, Selbstwertstörungen, InnereR KritikerIn, Sinnkrisen. Praxisbeispiele veranschaulichen das Geschilderte. Dargestellt wird auch die Störung der Ich-Selbst-Achse und verschiedene Typen bzw. Ursachen von Depression aus psychoanalytischer Sicht. Reflektiert wird ebenso die Eignung von PatientInnen für eine jungianische Therapie.

Im Abschnitt «Behandlung» werden drei Phasen des Therapieprozesses unterschieden. Die Anfangsphase: Exploration, Anamnese und frühere Depressionen, Komplexe bei depressiven Menschen, Einschätzung der Konflikte auf der Struktur, Stärken und Ressourcen, Aufbau einer therapeutischen Beziehung und Arbeitsbündnis. Die Mittlere Phase: Alltagsbewältigung, Verbesserung struktureller Defizite, Bearbeitung depressiver Komplexe, Vertiefung der therapeutischen Beziehung, Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung, Ich-Selbst-Achse. Die Endphase: Themen in einer Endphase, Übertragung und Gegenübertragung. In diesen drei Phasen wird unterschiedlich gearbeitet, was anhand von Fallvignetten illustriert wird.

Interessant für nicht jungianische LeserInnen ist der Teil zu den «Techniken und Methoden», der Einblick in das methodenspezifische Vorgehen gibt. Auch in diesem finden sich anschauliche Beispiele. Im Teil «Besondere Probleme» wird unter anderem der Umgang mit Suizidalität beschrieben. Den Abschluss des Buchs bildet ein Kapitel zu «Wirkfaktoren und Forschungsstand». Eingangs werden die allgemeinen Wirkfaktoren gemäss dem Kontextmodell von Wampold et al. beschrieben, gefolgt von einer Übersicht über aktuellere jungianische Forschung.

Das Buch ist leicht lesbar und dazu geeignet, das jungianische Vorgehen in der Arbeit mit an Depressionen leidenden Menschen zu veranschaulichen und darzulegen, dass dies in der Forschung auch positive Effekte zeigt.

Irritierend war für mich, allzu oft den Ausdruck «der depressive Mensch» zu lesen, als ob es diesen denn gäbe. Geht man in der jungschen Theorie und Diagnostik tatsächlich von einem depressiven Menschen aus, was einer festlegenden Etikettierung gleichkommt? Das erinnert an überkommene Charakterlehren. Andere Ansätze und auch die internationalen Manuale verwenden den etikettierenden Begriff des depressiven Menschen nicht. Viel mehr beschreiben sie, wie Menschen depressive Prozesse durchlaufen können, depressive Erkrankungen durchleiden, Belastungserlebnisse depressiv verarbeiten oder ähnlich. Dass der ganze Mensch auf die Depression festgelegt wird, wirkt befremdlich und ich vermute, dass auch im jungschen Denken depressive Erlebensweisen als prozesshaft aufgefasst werden. Ein kritischeres fachliches Lektorat wäre da wohl hilfreich gewesen.

Anzumerken ist auch bei diesem Buch der horrende Preis im Schweizer Buchhandel. Die Differenz zum Europreis in Zeiten der Währungsparität ist unhaltbar. Man bestellt besser in Deutschland. Hinzuweisen ist auch auf die deutlich günstigere Ausgabe als E-Book.

Peter Schulthess