Christian Roesler (2022). Traumdeutung und empirische Traumforschung
Stuttgart: KohlhammerISBN: 978-3-17-038432-3127 S., 44.90 CHF, 29.00 EUR
Psychotherapie-Wissenschaft 12 (2) 2022 101–102
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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-2-101
Erneut ist bei Kohlhammer ein jungianisches Buch erschienen, dasjenige von Christian Roesler über Traumdeutung und empirische Traumforschung (2022). Verglichen mit Konstantin Rößlers Arbeiten mit Träumen in der Analytischen Psychologie (2021) aus demselben Verlag ist Roeslers Buch eher theoretisch aufgebaut. Wie anderswo beschrieben setzt Kohlhammer damit die Publikation von jungianischen Werken fort, mittlerweile sind über zwei Dutzend davon erschienen.
Roesler geht im Buch den Träumen, der Traumdeutung und der Bedeutung der Träume für die Menschen nach. Eingangs stellt er die Frage, welche Funktion der Traum hat: Ist er als neurotisches Symptom zu verstehen oder als eine Selbstdarstellung der Situation der Psyche oder hat er gar ein kreatives und problemlösendes Potenzial? Ist er ein Hüter des Schlafes (Freud) oder produziert er vielmehr Lösungen für psychische Probleme? Gibt es einen Unterschied zwischen latenten und manifesten Trauminhalten, mit anderen Worten verbirgt er etwas oder deckt er etwas auf? Hat der Traum mit Wunscherfüllung zu tun oder kompensiert er eine einseitige Einstellung des Bewusstseins? Und was sagt die empirische Traumforschung zu den Annahmen der Psychoanalyse?
All diesen Fragen geht er in seinem übersichtlich aufgebauten Buch in einer klaren und verständlichen Art und Weise nach. Seine überzeugend erläuterte These lautet, dass sich die Traumdeutung in der Psychoanalyse sowohl was Theorie wie auch was Praxis betrifft von Freuds Konzepten wegentwickelt und sich der jungianischen Auffassung angenähert habe. So habe sich etwa Bohleber (2012) von Freuds Abwertung des manifesten Traums abgewandt und vertrete die Haltung, dass der Traum eine integrative und kommunikative Funktion habe. «Gegenwärtige Traumdeutung in der Psychoanalyse hat viel mehr mit einer Sinnerschaffung als mit der Aufdeckung eines latenten unbewussten Sinngehaltes zu tun», so Roesler (S. 29). Bohleber verweise auch auf neuere Forschung, die die Wirkung des Primärprozesses im Traum beinhalte, und darauf, dass unbewusste Motive und Wünsche eine wichtige Rolle bei den Träumen spielen. Für Jung zeigte der Traum eine spontane Selbstdarstellung und Selbstheilungstendenz der Psyche an, um eine bewusste Einstellung zu kompensieren. Roesler erläutert, dass sich insgesamt die Entwicklungen der Traumdeutung von Jungianer:innen und Freudianer:innen annähern, er vermutet, dass sie konvergieren werden.
Der empirischen Traumforschung wird ein weiteres Kapitel gewidmet. Roesler beschreibt, dass diese auf objektive Erkenntnisse über Funktion und Gesetzmässigkeiten des Traumes abziele. Sie sei gerade nicht an der subjektiven Bedeutung des Traumes für die:den Träumende:n interessiert, womöglich auch noch mit der Annahme, unbewusste Inhalte bewusst werden zu lassen, die dann in Therapie oder Analyse bearbeitet werden können.
Die empirische Schlafforschung konzentriert sich auf die Bedeutung des REM-Schlafes mit dem Resultat, dass er für die Balance des Menschen wichtig sei, Träumen helfe, das Gedächtnis zu konsolidieren und Emotionen zu regulieren. Ebenso konnte eine informations- und problemverarbeitende Aktivität während des Traumes nachgewiesen werden. Einige Schlafforscher:innen nehmen sogar an, dass Träume eine Angst-Löschungsfunktion hätten, auch dass Träume typische Gefahren in der Welt des Menschen simulieren, um Träumende auf die Bewältigung dieser Gefahren vorzubereiten («Bedrohungs-Simulations-Theorie»). Auch Jungs Theorie der Kreativitätsforderung durch den Traum wurde empirisch bestätigt, da umfassendere als nur bewusste Hirnareale beim Träumen beteiligt sind. Um Probleme zu bearbeiten, werden Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses mit Erfahrungen aus dem Langzeitgedächtnis verglichen. Es werden nicht nur Tagesreste verarbeitet, sondern aktuelle Lebenssituationen mit Beziehungsmustern aus der Kindheit und früheren Lebenssituationen verglichen, insofern nutzt der Traum das breitere Wissen des Unbewussten. Oder mit Roeslers Worten: «Offenbar ist das Gehirn im Schlaf im Gegensatz zum Wachbewusstsein in der Lage, grössere Bereiche und mehr Funktionen gleichzeitig zu aktivieren und miteinander zu verknüpfen» (S. 63). Auch hätten Träume die Funktion, Emotionen in eine positive Richtung zu regulieren und belastende Ereignisse im Wachleben zu bewältigen (Selbstregulation der Psyche).
Es ist eines von Roeslers Anliegen, dass sowohl Psychoanalyse wie empirische Traumforschung vermehrt miteinander zusammenarbeiten. Das ist eigentlich der Grundtenor seines Buches. Er ist der Ansicht, dass sich beide befruchten können, vielleicht müssten liebgewordene Aussagen überdacht und revidiert werden, wie: Träume haben eine kompensatorische Funktion. Oder: Es ist für die emotionsregulierende, fördernde und gedächtniskonsolidierende Funktion des Traumes notwendig, dass man sich an den Traum erinnert, das Träumen allein genügt nicht. Die empirische Traumforschung hätte indes zusammenfassend viele der psychoanalytischen Annahmen zum Traum bestätigt.
Weiter verweist Roesler auf die psychoanalytische Traumforschung, die Traumserien und -prozesse in Psychotherapien untersucht. Jungianische Forschung ist hier selten anzutreffen, eine solche ist eher bei Psychoanalytiker:innen vorhanden, wie etwa in der Forschung der LAC-Depressionsstudie, die belegen konnte, dass in erfolgreich verlaufenden Psychotherapien von depressiven Menschen deren Träume mit der Zeit positiver wurden, mehr helfende Personen auftauchten und das Ich aktiver und initiativer wurde. Probleme konnten eher gelöst werden.
Daran schliesst das Kapitel der Methodik der Strukturalen Traumanalyse an, die Roesler ausführlich beschreibt, an der er selbst mitarbeitet und Kolleg:innen dafür sucht. Träume werden dabei strukturalistisch betrachtet und besonderes Gewicht wird auf die Aktivität des Traum-Ichs gelegt, das schliesslich mit dem Verlauf der Analyse verglichen wird, um eine Veränderung der Probleme, Themen und insbesondere der Ich-Stärke der Patient:innen zu untersuchen. Roesler zeigt die Methodik an einem Fallbeispiel ausführlich auf. Er setzt sich sehr dafür ein, dass Träume von jungianischen Therapien ebenfalls empirisch untersucht werden, wobei man ihn nur unterstützen kann.
Zusammenfassend zeigt Roesler auf, dass die psychoanalytische Haltung, Träumen Bedeutung zuzumessen, empirisch bestätigt wurde. Träume hängen mit dem Wachleben der Träumenden und deren emotionalen Anliegen und Problemen zusammen. Auch Jungs Annahme, dass im Schlaf das Unbewusste über mehr Informationen und Verknüpfungskapazitäten als im Wachleben verfügt und deshalb mehr Lösungsvorschläge aufzeigen kann, wurde empirisch bestätigt. Die wichtigsten Funktionen des Träumens sind die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Reintegration der Psyche. Jungs These der Kompensationsfunktion des Traumes konnte nicht bestätigt werden, Roesler schlägt als Kompromissformel die Bewusstseinserweiterungsfunktion des Traumes vor.
Ein Thema des Buches war mir neu und weckte mein Interesse. In einem Ausblick weist Roesler darauf hin, dass unter Traumforscher:innen die Frage diskutiert werde, inwiefern sich das Ich des Traumes vom Ich des Wachzustandes überhaupt unterscheide und was dies über das subjektive Selbst aussage. Möglicherweise unterschieden sich die beiden nicht so sehr. In diesem Zusammenhang verweist Roesler auf das Bewusstseinsnetz, das sogenannte Default Mode Network (DMN; Ruhezustandsnetzwerk), dessen Aktivitäten einsetzen, wenn keine zielgerichtete Aufmerksamkeit nötig ist und unsere Gedanken zu wandern beginnen. Anscheinend sind wir etwa 30–50 % des Wachzustandes in ein solches mind wandering oder Tagträumen versunken (Windt, 2015). Das DMN scheint auch bei Träumen zuständig zu sein. Das sei ein neues Forschungsgebiet, über das noch nicht viel bekannt sei.
Kurzum: Der Traum bleibt etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, so Roesler im Schlusssatz, dem man nur zustimmen kann.
Isabelle Meier
Bohleber, W. (2012). Neue Befunde zum Traum und seiner Deutung. Psyche, 66(9–10), 769–775.
Windt, J. M. (2015). Dreaming. Cambridge: MIT Press.