Beobachtungen zu Teen Dating Violence in Zeiten der Pandemie
Lucia Beltramini
Psychotherapie-Wissenschaft 12 (1) 2022 89–93
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-1-89
Zusammenfassung: Gewalt ist ein häufiges Phänomen in Beziehungen von Heranwachsenden. Daten aus Erhebungen, die vor der COVID-19-Pandemie durchgeführt wurden, haben erwiesen, dass in wenigstens einer von zehn Teenagerbeziehungen Mädchen Formen von psychologischer, physischer oder sexueller Gewalt erlebten. Diese Erfahrungen wirken sich zumeist deutlich auf deren Gesundheit aus. Gewalt kann sowohl im persönlichen Kontakt als auch online stattfinden; während der Lockdown-Phasen aufgrund des gesundheitlichen Notstands scheint sich gerade die zweite Art der Gewalt weiter verbreitet zu haben. Die Mädchen bzw. generell die Opfer dieser Gewalt bitten nur in den seltensten Fällen um Hilfe. Die Schliessung von Schulen und Diensten während der Pandemie hat die Suche nach Hilfe möglicherweise noch schwieriger gestaltet. Umso wichtiger ist es, dass man den Heranwachsenden zeigt, dass man ihnen glaubt, sie respektiert und unterstützt, wenn sie sich entschliessen, von ihren Erfahrungen zu berichten. Nur so kann aus diesem Moment der Mitteilung wirklich die Chance entstehen, persönlich an diesen Ereignissen zu wachsen und der Gewaltspirale zu entkommen.
Schlüsselwörter: Gewalt, Jugendliche, Beziehungen, Pandemie, Gesundheit, Psychotherapie
Die COVID-19-Pandemie hat einen gesundheitlichen und sozialen Notstand von ungeahntem Ausmass dargestellt. In jedem Teil der Erde haben Individuen, Gemeinden und Gesellschaften in kürzester Zeit dramatische Veränderungen miterlebt, die teils auch unumkehrbar sind: Trauer, Krankheit, Lockdown, Social Distancing, Abwesenheit von echten Bindungen, Arbeitsmarktkrisen, Mangel an vollwertigen und gemeinschaftlichen Beziehungserlebnissen, Verlust von Raum und Zeit ausserhalb der Familiengemeinschaft, begrenzter Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen. Jugendliche und Kinder waren lange zu Hause statt in der Schule, bei Freizeitaktivitäten, beim Sport, im Musikkurs; ganze Familien, junge und erwachsene Menschen, mussten neue Formen der Kommunikation, des Lernens und des Knüpfens von Beziehungen erlernen, wobei ständig der Gedanke der eigenen Sicherheit und der von anderen im Vordergrund stand.
Nunmehr rund zwei Jahre nach Feststellen der ersten Coronafälle sind die Auswirkungen der Pandemie auf die physische und psychologische Gesundheit, aber auch auf das wirtschaftliche und soziale Wohl der Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes eindeutig und ersichtlich. Weniger offensichtlich ist hingegen, was während des gesundheitlichen Notstands in anderen wichtigen Problembereichen gesundheitlicher, sozialer und politscher Natur vorging, so z.B. im Feld der geschlechterbasierten Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen stellt eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar und ist weltweit eines der grössten gesundheitspolitischen Probleme, betrifft es immerhin mindestens eine von drei Frauen im Laufe ihres Lebens, d.h.ca. 736 Millionen Frauen über 15 Jahren (WHO, 2021). Obwohl derzeit noch Untersuchungen in der Bevölkerung angestellt werden, um abzuschätzen, inwieweit die Pandemie und die Massnahmen zur Eindämmung des Virus, wie z.B. Lockdowns, zu einem Anstieg oder Rückgang der Gewalt führten, oder ob die Raten weitgehend stabil blieben, scheint der gesundheitliche Notstand durch COVID-19 zu einem erheblichen Anstieg der telefonischen und digitalen Anfragen von Frauen bei Not- und Schutzdiensten geführt zu haben – in einigen Ländern sogar um ein Fünffaches (UN Women, 2020). Dieser Anstieg könnte auch auf die Form der Gewalt zutreffen, die Mädchen und Frauen am meisten erleiden, nämlich Gewalt durch den (männlichen) Partner oder Ex-Partner.
Wenn man an Gewalt in Beziehungen denkt, hat man üblicherweise das Bild eines Paares zweier erwachsener Menschen vor Augen, die verheiratet sind oder zusammenleben. In Wirklichkeit aber können sich solche Erlebnisse schon in den Beziehungen junger und sehr junger Heranwachsender ereignen, oft sogar in den allerersten Liebesbeziehungen.
Der englische Begriff Teen Dating Violence beschreibt gewalttätiges Verhalten zwischen Jugendlichen, die sich treffen, miteinander ausgehen oder ein Paar sind. Solche Verhaltensweisen reichen von «Dominanz und Kontrolle» (ständiges Anrufen der anderen Person; Verhindern, dass sie allein oder mit anderen ausgeht; permanentes Abfragen, was sie tut und mit wem) bis hin zu psychischer (Beleidigungen; Verspotten; Demütigungen, auch in der Öffentlichkeit; Drohungen) wie auch physischer Gewalt (Ohrfeigen; Schläge; Tritte; gewalttätige Attacken) und sexueller Gewalt (Erzwingen von Geschlechtsverkehr; Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung). Besonders betroffen sind Mädchen; sie erleben Gewalt sowohl häufiger als auch schwerer. Schon vor der Pandemie haben weltweit mehr als 640 Millionen Mädchen und Frauen (also ca. 26% der weiblichen Bevölkerung der Welt) Gewalt durch einen Partner erlebt. Unter denen, die eine Beziehung führten, hatte etwa jedes vierte Mädchen (24%) zwischen 15 und 19 Jahren bereits physische oder sexuelle Gewalt durch ihren Freund erfahren (WHO, 2021).
Eine in Italien durchgeführte Multi-Methoden Studie mit Fragebogen, die an mehr als 700 Schülerinnen und Schüler im letzten Jahr der Oberstufe ausgegeben wurden, und mit 10 Fokusgruppen mit 40 Mädchen und Jungen zwischen 15 und 18 Jahren (Romito et al., 2007), hat ergeben, dass mehr als jedes zehnte Mädchen bereits Gewalt in einer Beziehung erlebt hat. Aus den Fokusgruppen ging hervor, dass solche Erfahrungen nicht immer als Gewalt betrachtet werden: Dominierendes und kontrollierendes Verhalten kann als Zeichen des Interesses und der Liebe missgedeutet werden («Er möchte nicht, dass ich mit anderen spreche, weil ich ihm gehöre»); physische Gewalt wird heruntergespielt («Er hat mich nur geschlagen, weil er eifersüchtig war»); erzwungener Geschlechtsverkehr wird nicht als solcher erkannt («Wenn ich nicht ja sage, verlässt er mich»). Auch aufgrund der Mechanismen, solche Verhaltensweisen zu verharmlosen und zu verleugnen, laufen Jungen und Mädchen sehr schnell Gefahr, ein Beziehungskonzept zu entwickeln, das von Dominanz über das Gegenüber gekennzeichnet ist. Gerade damit sich diese Denkweise nicht auch in späteren Beziehungen im Erwachsenenalter wiederholt, ist ein frühzeitiges Eingreifen entscheidend (Beltramini, 2020).
Gleichwohl können einige Jugendliche natürlich ähnliche Dynamiken schon im eigenen familiären Umfeld erlebt haben: Die zuvor genannte italienische Studie ergab, dass etwa eine/r von zehn Jugendlichen schon einmal miterlebt hat, wie der Vater die Mutter geschlagen hat, und gar eine/r von fünf Jugendlichen Zeuge/in schwerer psychischer Gewalt gegen die Mutter wurde; Ergebnisse, die mit denen in der internationalen Fachliteratur übereinstimmen. Aber auch wenn das Miterleben von Gewalt im familiären Umfeld das Risiko erhöht, als Jugendliche/r oder Erwachsene/r selbst einmal Gewalt in der Partnerschaft zu erfahren (WHO, 2019), bedeutet dies nicht, dass alle Kinder, die Gewalt in der Familie miterlebt oder erfahren haben, selbst gewalttätige Erwachsene oder (erneute) Opfer werden, v.a. wenn ihnen die Möglichkeit geboten wird, die Erlebnisse als solche zu erkennen, sich mitzuteilen und die Erfahrungen aufzuarbeiten.
Die COVID-19-Pandemie ist mit aller Macht in unser aller Leben eingedrungen. Während der Notlage hat sich Technologie als unverzichtbare Ressource und effektives Werkzeug bewährt, um mit anderen und generell der Welt in Verbindung zu bleiben. Parallel dazu sind jedoch auch die Schattenseiten der digitalen Welt zutage getreten: Distanz, Isolierung, Abkopplung vom realen Leben sowie belästigendes und gewalttätiges Verhalten online gegen Frauen und Mädchen, auch in Liebesbeziehungen.
Die Cyber-Gewalt in der Partnerschaft beschreibt gewalttätige Verhaltensweisen von Beziehungspartnern, die mithilfe der neuen Kommunikationsmittel ausgeübt werden, und umfassen unter anderem Bedrohungen, Einschüchterungen, Belästigung, Erpressung, Beleidigungen, die Nutzung der sozialen Netzwerke des anderen ohne Zustimmung, das Senden von Bildern mit unerwünschtem sexuellen Inhalt und sexuelle Nötigung. Obwohl im Kontext der digitalen Welt, handelt es sich häufig um dieselben Formen der Gewalt, die schon zuvor beschrieben wurden; umgesetzt werden sie jedoch mittels der neuen Medien.
Eine Studie aus den USA, durchgeführt an einer Stichprobe von mehr als 5.000 Jungen und Mädchen, ergab, dass mehr als eine/r von vier Heranwachsenden in einer Beziehung im Jahr vor der Erhebung Cyber-Gewalt durch den/die Partner/in erfahren hatte; Mädchen waren hiervon doppelt so häufig betroffen wie Jungen (Zweig et al., 2013). Diese Verhaltensweisen, die schon vor der Pandemie zu beobachten waren, scheinen sich während des gesundheitlichen Notstands verschärft zu haben, wie die Zunahme der Kontaktaufnahmen bei einigen Opferhilfediensten nahelegen (Ragavan et al., 2020). So zeigen z.B. Daten vom Dienst Love is Respect, eine Hilfsorganisation in den USA für Jugendliche und junge Erwachsene, die der National Domestic Violence Hotline untersteht, dass die Cyber-Gewalt in Partnerschaften, die telefonisch oder im Chat gemeldet wurde, von 2019 zu 2020 um 101% zugenommen hat.1 Auch wenn ein Anstieg der telefonischen Kontaktaufnahmen nicht notwendigerweise auch eine tatsächliche Zunahme der Gewalt bedeuten muss, ist dieser Anstieg doch eine relevante Information, solange Daten aus umfassenderen Untersuchungen in der Bevölkerung nicht vorliegen.
Grundsätzlich scheinen die intensive Nutzung technischer Kommunikationsmittel durch Jungen und Mädchen, geringe Kenntnisse und mangelndes Bewusstsein in den Familien rund um das Thema Online-Gewalt sowie die allgemeine Tendenz zur Verharmlosung von Gewalt in Liebesbeziehungen Heranwachsender, auch durch Erwachsene, Faktoren zu sein, die das Risiko von Missbrauch mithilfe digitaler Medien erhöhen können. Diese Form der Gewalt, die keinesfalls als «weniger real, weil virtuell» zu betrachten ist, kann ebenso negative Auswirkungen auf das Leben und die Gesundheit des Opfers haben, gerade auch wegen der Allgegenwärtigkeit und der fehlenden physischen oder zeitlichen Barrieren: Angreifende können Opfer potenziell zu jeder Tageszeit und aus jeder Entfernung kontaktieren; Bilder, Videos oder anderes Material können unkontrolliert an Dritte weitergegeben werden.
Gewalt, egal ob direkt und unmittelbar oder mithilfe digitaler Kommunikationsmittel ausgeübt, kann sich auf jeden Aspekt der Gesundheit auswirken, sowohl auf psychischer, physischer als auch auf sexueller Ebene. Mädchen, die Gewalt in einer Beziehung erleben, sind doppelt so häufig von Essstörungen, Panikattacken, Selbstmordgedanken und Depressionen betroffen; ähnlich verhält es sich bei Jungen, auch wenn diese weniger häufig Opfer von Gewalt werden (Romito et al., 2013). Andere Folgen von Gewalt können Schlafstörungen, Alkoholmissbrauch (bei Mädchen), geringes Selbstwertgefühl, Verlust des Interesses am Leben, sowohl im familiären und schulischen Kontext als auch anderweitig, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und Probleme in der Schule sein. Bei Opfern sexueller Gewalt treten häufig ebenso Scham- und Schuldgefühle, Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörung, Essstörungen, Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie Selbstmordversuche auf. Es besteht das Risiko ungewollter Schwangerschaften, gynäkologischer Folgeschäden und sexuell übertragbarer Krankheiten; bei einigen Mädchen sind als Reaktionen auf Gewalterfahrungen auch vorsätzlich ungeschützter Geschlechtsverkehr, Promiskuität oder hypersexuelles Verhalten zu beobachten. All diese Symptome können verschiedene Ursachen haben, sind aber bei Menschen, die Gewalt erlebt haben, häufig anzutreffen.
Doch nicht immer sind die Folgen von Gewalt ersichtlich; einige Opfer entwickeln möglicherweise keine eindeutigen Anzeichen von Leid oder Schmerz.
Nichtsdestotrotz können Gewalterfahrungen einen enormen Einfluss auf das Wohlbefinden haben. Dennoch bitten Heranwachsende nur in den seltensten Fällen um Hilfe. In der Regel widerstrebt es Mädchen und Jungen, sich jemandem anzuvertrauen, vor allem Erwachsenen. Wenn sie sich dann doch überwinden können, dann öffnen sie sich eher meist einem Freund oder einer Freundin; wenn die Vertrauensperson erwachsen ist, handelt es sich zumeist um ein Familienmitglied (meistens die Mutter), manchmal auch um eine Lehr- oder Erziehungskraft.
Die Bitte um Hilfe kann mehr oder weniger direkt sein: Es kommt nicht selten vor, dass Nachrichten auf anonymen Zetteln weitergegeben oder Fragen und Tipps für eine/n vermeintliche/n Freund/in in Schwierigkeiten gestellt werden; das Unwohlsein ist dabei mal mehr und mal weniger offenkundig. Wenn sich Jugendliche entschliessen, von Geschehnissen zu berichten, können Einzelheiten durchaus auch nur «Stück für Stück» geschildert werden, einerseits um auszutesten, ob die erwachsene Person die Erlebnisse aufnehmen kann, andererseits um sich selbst als Opfer Raum und Würde zu verschaffen.
Als während der COVID-19-Pandemie die Schulen geschlossen waren oder nur Distanzunterricht angeboten wurde und auch viele persönliche Dienste nur eingeschränkt zur Verfügung standen, hat sich die Suche nach Hilfe für Jugendliche möglicherweise noch schwieriger gestaltet. In mehreren Fällen scheint es jedoch eine Zunahme der Online-Dienste für Opfer sowie eine grössere Reichweite von Blogs, Foren, Selbsthilfegruppen und Anti-Gewalt-Bewegungen zu geben, die im Internet und von Jugendlichen scheinbar neue Impulse und Anregungen erhalten haben.
Abgesehen von der Situation während der Pandemie kann das Thema Gewalt in Beziehungen von Jugendlichen auch allgemein für Psychotherapeut/innen aus verschiedensten Bereichen bedeutsam sein. Speziell für jene, die mit Jugendlichen und Familien arbeiten; die bei Seelsorgetelefonen oder mit Schulen, Beratungszentren oder Freizeit- und Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten; die auf geschlechterbasierte Gewalt, Diskriminierung und Menschenrechte spezialisiert sind; die auf die Behandlung von Traumapatient/innen spezialisiert sind. Im weiteren Sinne könnten sich auch alle damit befassen, die sich mit der Förderung der Gesundheit auseinandersetzen, einschliesslich im Bereich Sexualität und Reproduktion, mit der Prävention von Risikoverhalten, mit Essstörungen sowie mit der Suizidprävention. In jedem dieser und noch weiterer Bereiche ist es möglich, auf Mädchen und Jungen zu treffen, denen Gewalt widerfahren ist oder die Gewalt miterlebt haben und die in einigen Fällen dann den Mut finden könnten, von ihren Erlebnissen zu berichten.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Methodiken der klinischen Intervention bei Gewaltopfern im Detail zu untersuchen – es sei auf Fachtexte und internationale Leitlinien verwiesen (z.B. van der Kolk, 2014; WHO, 2017). Dennoch sollen zumindest einige Leitlinien für das Zuhören bei Jugendlichen zusammengefasst werden, die für all diejenigen nützlich sein könnten, die aus unterschiedlichsten Gründen ein Mädchen oder einen Jungen von Gewalterfahrungen berichten hören könnten.
Zunächst erstmal ist es äusserst wichtig, sich der eigenen Rolle und des Umfangs der eigenen Handlungsräume bewusst zu sein. Gewalt kann zu Verwirrung und innerer Zerrissenheit führen, weshalb man sich unbedingt über die eigene Position im Klaren sein und wissen muss, was man tun kann und was nicht. Zum Schutz der eigenen Gesundheit und der der Jugendlichen ist es des Weiteren ratsam, die Opferhilfswerke in der eigenen Region zu kennen und bzw. oder zu wissen, an welche speziellen Zentren oder geschulte Kolleg/innen man sich im Bedarfsfall wenden kann.
Spezifisch auf das Gespräch bezogen ist es von zentraler Bedeutung, die Erzählung offen anzunehmen, dem/der Jugendlichen ausreichenden Raum und genügend Zeit zu bieten und die Bereitschaft zu zusätzlichen Gesprächen zu signalisieren, wenn sich der/die Jugendliche nicht mehr in der Lage fühlt, das Gespräch zu diesem Zeitpunkt fortzuführen. In jedem Fall ist es dazu fundamental wichtig, den Berichten Glauben zu schenken, Verständnis zu zeigen, nicht zu urteilen und sich solidarisch zu zeigen, indem man aufmerksam, aber nicht aufdringlich zuhört.
Das Risiko der sekundären Viktimisierung sollte im Auge behalten werden: Wenn durch Verhalten und Reaktionen die Glaubwürdigkeit des Opfers infrage gestellt wird, die Auswirkungen des Erlebnisses heruntergespielt werden oder der Eindruck vermittelt wird, das Opfer könnte für die Geschehnisse mitverantwortlich sein, kann dies Wut, das Gefühl von Machtlosigkeit und Schuldgefühle beim Opfer verstärken. Die/der Heranwachsende könnte sich so zum Schweigen gezwungen sehen, gesundheitliche Probleme könnten sich verschlimmern. Es ist weiterhin wichtig, keine Versprechungen zu machen, die man nicht sicher einhalten kann; es sollte vermieden werden, Erwartungen zu wecken, die eventuell nicht erfüllt werden können, z.B., dass die Gewalt auf jeden Fall aufhören wird oder dass Täter/innen in jedem Fall bestraft würden, obwohl man sich dessen nicht absolut sicher ist. Ebenso sollte man auch nicht versprechen, dass alles Gesagte vertraulich behandelt wird, wenn man sich dessen nicht sicher ist. Ein/e Psychotherapeut/in kann sogar gesetzlich dazu gezwungen sein, Meldepflichten zu erfüllen – es ist in diesem Fall wichtig, der/dem Jugendlichen von dieser Verpflichtung zu berichten und zu vermitteln, dass das eigene Handeln dem Wohl der/des Jugendlichen dient und diese/r das Recht hat, über alles informiert zu werden, was geschieht.
Ausserdem ist es immer wichtig, dem/der Jugendlichen alle Informationen über Opferhilfsdienste zu geben, an die sich bei Bedarf gewendet werden kann, um Hilfe zu erhalten: Einerseits vermittelt dies, dass es auch in dieser Situation Unterstützung gibt; anderseits erhält das Mädchen/der Junge so zumindest teilweise das Gefühl der «Kontrolle» über das eigene Leben zurück, das durch die Gewalterfahrung möglicherweise erschüttert wurde. Aus denselben Gründen ist es auch notwendig, die «Grenzen» des/der Jugendlichen zu respektieren, auch im physischen Sinne: Man sollte nicht davon ausgehen, dass eine Berührung wie eine Umarmung oder eine Hand auf der Schulter immer gewollt ist.
Für Besprechungen und Interventionen, die online ablaufen, wie es in der Pandemie sehr üblich geworden ist, gelten im Grunde die gleichen Hinweise, wobei auch in der Distanz der Sicherheit des/der Jugendlichen Priorität einzuräumen ist; er/sie muss sich in einer sicheren Umgebung befinden und frei sprechen können. Ausserdem sollte eine erwachsene Person in der Nähe sein, an die er/sie sich direkt wenden könnte (Ragavan et al., 2020).
Wenngleich Gewalt bereits Teil des Lebens von Heranwachsenden in Liebesbeziehungen ist, ist es doch nicht immer leicht, im Blick zu behalten, was Jugendlichen in diesem heiklen Spannungsfeld passieren kann. Im Zusammenhang mit der weltweiten Pandemie ist dies zweifelsohne noch komplexer. Sowohl bei der Erkennung gewalttätigen Verhaltens als auch bei den zu ergreifenden Präventions- und Gegenmassnahmen sind zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen.
Es gilt als erwiesen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen kein «Notstandsphänomen» ist, sondern strukturell mit der Geschlechterdynamik unserer Gesellschaften zusammenhängt (Europarat, 2011). Dennoch zeigt die Forschung, dass Gewalt in Zeiten schwerer Krisen – wie Pandemien, Kriege, Naturkatastrophen – enorm zunehmen kann und es deswegen spezielle Massnahmen zur Unterstützung der Opfer und zur Prävention erfordert. In diesem Sinne sind viele der Einschränkungen, die wir in dieser pandemischen Krise hinnehmen mussten, wie z.B. die Schliessungen von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, der Rückgang von Präventionsveranstaltungen in diesen Einrichtungen und die zunehmenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Sozial- und Gesundheitsdiensten, eindeutige Hindernisse bei der Bekämpfung dieses Phänomens. Andererseits ist zu hoffen, dass die gesellschaftliche, politische und mediale Aufmerksamkeit, die den Hilferufen der Opfer während des Notstandes zuteil wurde, es ermöglicht, die Opferhilfedienste zu stärken, die Behörden für das Thema zu sensibilisieren, den Einsatz von Mitteln zur Prävention, zum Schutz der Opfer und zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter/innen zu verstärken, so wie es die einschlägigen Rechtsvorschriften vorsehen (ebd.), und das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein für das Ausmass und die Auswirkungen zu verbessern, die Gewalt auf Wohlbefinden und Gesundheit haben kann. Ausgebildete Psycholog/innen und Psychotherapeut/innen können dabei eine Schlüsselrolle spielen, indem sie sich der Herausforderung der Intervention annehmen, sowohl bei der Prävention als auch bei der Unterstützung oder Behandlung von Opfern.
In der Ungewissheit, die unsere Zeit kennzeichnet, gibt es daher einige Gewissheiten: Gewalt kommt häufig vor und wird oft totgeschwiegen, ist dadurch aber nicht weniger schmerzhaft; den Anfang des Weges aus der Gewaltspirale können ein Raum für authentisches Zuhören sein sowie eine offene und nicht wertende Konfrontation, die Möglichkeit, von seinen Erlebnissen zu berichten und sich dabei respektiert, unterstützt und ernst genommen zu fühlen – auf individueller, aber auch auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene.
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Violence in teen dating
Observations on teen dating violence in times of the pandemic
Abstract: Violence is a common phenomenon in adolescent relationships. Data from surveys conducted prior to the COVID-19 pandemic have demonstrated that in at least one in ten teenage relationships, girls experienced forms of psychological, physical, or sexual violence. For the most part, these experiences have a significant impact on their health. Violence can occur both in person and online; during lockdown periods due to health emergencies, it is the second type of violence that appears to have become more prevalent. The girls, or victims of this violence in general, rarely ask for help. The closure of schools and services during the pandemic may have made seeking help even more difficult. This makes it all the more important to show adolescents that you believe them, respect them, and support them when they decide to tell you about their experiences. Only in this way can this moment of sharing truly become an opportunity for personal growth based on these events and escape the spiral of violence.
Keywords: violence, teenagers, relationships, pandemic, health, psychotherapy
Die Autorin
Lucia Beltramini ist Psychologin, Psychotherapeutin, Doktorin der Neuro- und Kognitionswissenschaften und Dozentin an der Universität Triest, wo sie das Fach «Gewalt gegen Frauen und Minderjährige» unterrichtet. Sie befasst sich mit der Prävention geschlechterbasierter Gewalt sowie der Förderung der Chancengleichheit und bietet Forschungs-, Schulungs- und Interventionsmassnahmen an. Sie hat mehrere wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht und ist Autorin des Buches La violenza di genere in adolescenza. Una guida per la prevenzione a scuola (2020, zu Dt.: Geschlechterbasierte Gewalt bei Jugendlichen. Ein Leitfaden für die Prävention in der Schule).
Kontakt
E-Mail: dr.luciabeltramini@gmail.com