Eine Befragung unter österreichischen Psychotherapeut/innen und Folgetherapeut/innen betroffener Patient/innen
Magdalena Schwabegger & Christiane Eichenberg
Psychotherapie-Wissenschaft 12 (1) 2022 77–85
www.psychotherapie-wissenschaft.info
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-1-77
Zusammenfassung: Sexuelle Grenzverletzungen und -überschreitungen im Rahmen einer Psychotherapie werden von etwa 10% aller Psychotherapeut/innen begangen. Ziel der Studie war, die Folgen für Betroffene und den therapeutischen Umgang von Folgetherapeut/innen aufzuzeigen. 330 österreichische Psychotherapeut/innen wurden hinsichtlich ihrer Erfahrungen und ihres therapeutischen Umgangs mit Patient/innen, die in Vortherapien sexuelle Grenzüberschreitungen erleben mussten, mittels eines selbstkonstruierten Fragebogens befragt. Jede/r sechste befragte Therapeut/in (16.1%, n = 53) wurde bereits von Patient/innen aufgesucht, die in einer früheren Psychotherapie sexuelle Grenzverletzungen erfahren haben. In allen berichteten Fällen zog der sexuelle Kontakt mit Psychotherapeut/innen schädliche Folgen bis hin zu Traumatisierungen nach sich. Entgegen den empfohlenen Regeln gab die Mehrheit der Befragten ein Vorgehen an, das nicht zunächst die Auswirkungen der sexuellen Grenzüberschreitungen in den Behandlungsmittelpunkt stellt. Sexuelle Grenzüberschreitungen in der Psychotherapie sollten in Aus-, Fort- und Weiterbildungen als Thematik obligatorisch verankert werden. Die Ergebnisse liefern Anhaltspunkte für diesbezügliche Inhalte.
Schüsselwörter: sexuelle Grenzverletzungen, sexuelle Grenzüberschreitungen, sexueller Missbrauch, Psychotherapie, Folgetherapie, Online-Befragung
Sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen durch Psychotherapeut/innen sind bereits gewisse Äusserungen oder Handlungen vonseiten der behandelnden Personen, die womöglich nicht gleich als solche erkannt werden. Dazu zählen Schilderungen eigener sexueller Erlebnisse gegenüber der/dem Patienten/in, ein voyeuristischer Befragungsstil im therapeutischen Gespräch, Bemerkungen über Aussehen und Kleidung sowie Berührungen, die Offenbarung von Liebesgefühlen verbunden mit dem Vorschlag, die Behandlung zu beenden, anzügliche Bemerkungen, Berührungen im Intimbereich, die als notwendig begründet werden, und sexuelle Handlungen, selbst dann, wenn sie von der/dem Patienten/in gewünscht sind (Tschan, 2001). Diese Entwicklung hin zum sexuellen Kontakt bzw. Geschlechtsverkehr als die schwerwiegendste Form der Grenzüberschreitung wird auch als «Slippery slope» oder «grooming» bezeichnet (ebd.). In Deutschland trat bereits 1998 der Paragraf §174c Abs. 2, 3 StGB Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses in Kraft (Schönke & Schröder, 2014). In Österreich hingegen gilt erst seit 2006 der Paragraf §212 Abs. 2 StGB Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses auch für Psychotherapeut/innen (Doralt, 2016). Trotz dieser Strafbarkeit kommt es nicht nur in Einzelfällen zu sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen im Rahmen einer Psychotherapie.
Sexuelle Grenzüberschreitungen an Patient/innen werden im Durchschnitt von ca. 10% aller Psychotherapeut/innen begangen (Löwer-Hirsch, 2017) und sind der zweithäufigste Beschwerdegrund unter negativen Effekten psychotherapeutischer Behandlungen (Kaczmarek et al., 2012). Jede/r zweite bis vierte Folgetherapeut/in gab in Befragungen an, mindestens eine/einen betroffenen Patienten/in in einer nachfolgenden Psychotherapie behandelt zu haben (Becker-Fischer et al., 2008). Als Folgetherapeut/innen werden jene Psychotherapeut/innen bezeichnet, die bereits betroffene Patient/innen behandelt haben.
In den überwiegenden Fällen sind problematische Folgen bis hin zu massiven Folgebeschwerden für die Betroffenen zu beobachten, die auch als «Professionales Missbrauchstrauma» beschrieben werden (ebd.). Dieses Missbrauchstrauma wird als professional bezeichnet, da es sich um den Missbrauch einer beruflichen Funktion handelt. Folglich können alle im psychosozialen Bereich tätigen Personen dieses Missbrauchstrauma verursachen. Das Machtgefälle in der therapeutischen Beziehung, die Ausnutzung der Machtposition der Therapeut/innen sowie insbesondere der Vertrauensbruch sind zentrale Kennzeichen dieser traumatischen Erfahrung. Hier verursacht nicht die sexuelle Handlung per se eine Traumatisierung, sondern die Funktion dieser Handlung, d.h. die Zerstörung des Vertrauens und der Missbrauch der Übertragungsbeziehung (ebd.).
Aufgrund dieser Schädigungen, aber auch aufgrund der Probleme und Primärerkrankung(en), derentwegen die Patient/innen die Ersttherapie oder eine weitere frühere Therapie aufgesucht haben, sind Folgetherapien nach sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen in den meisten Fällen eine notwendige und wichtige Massnahme. Psychotherapeut/innen müssen für eine erfolgreiche Folgetherapie, die nicht zu einer erneuten Traumatisierung führt, mit der Problematik sowie traumatherapeutischen Regeln vertraut sein, um mit den Besonderheiten und Schwierigkeiten einer Folgetherapie angemessen umgehen zu können. Da viele betroffene Patient/innen als Folge der Grenzverletzungen grosses Misstrauen gegenüber der Psychotherapie haben, stellt bereits der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung eine grosse Herausforderung dar. In einer Befragung an N = 77 betroffenen Patient/innen zeigte sich, dass 46% keine Folgetherapie in Anspruch nahmen, wobei dies am häufigsten damit begründet wurde, grundsätzlich das Vertrauen in Psychotherapeut/innen verloren zu haben («Einmal Täter/in, immer Täter/in») (Eichenberg et al., 2009).
In Folgetherapien muss beachtet werden, dass betroffene Patient/innen Reaktionen wie Ärger oder Wut (auf die/den missbrauchende/n Kollegen/in) und etwaige Abwehrhaltungen vonseiten der Folgetherapeut/innen äusserst sensibel wahrnehmen (Tschan, 2001). Da sie häufig emotional noch stark an die Ersttherapeut/innen gebunden sind, können solche Reaktionen eine Lösung von den Ersttherapeut/innen verhindern (Becker-Fischer et al., 2008). Günstige, hilfreiche Haltungen von Folgetherapeut/innen können mit dem Begriff «nicht-neutrale Abstinenzhaltung» zusammengefasst werden. Diese Haltung, auch als parteiliche Abstinenz bezeichnet, ist eine unabdingbare Voraussetzung in Folgetherapien (ebd.; Tschan, 2001). Eine neutrale Haltung von Folgetherapeut/innen gegenüber sexuellen Kontakten mit Psychotherapeut/innen kann hingegen zu einer erneuten Traumatisierung der Betroffenen führen (Schuppli-Delpy & Nicola, 1994). Für eine erfolgreiche Folgetherapie sind eine klare Position und die Anerkennung des Missbrauchs und der schädlichen Folgen vonseiten der Folgetherapeut/innen unbedingt erforderlich. In der ersten Phase von Folgetherapien gilt es, eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen und den Fokus auf die traumatischen Erfahrungen in der missbräuchlichen Therapie zu legen (Becker-Fischer et al., 2008). Die Primärstörungen können erst aufgearbeitet werden, wenn die Patient/innen in der Lage sind, die frühere Psychotherapie realistisch als missbräuchlich zu betrachten und die Verantwortung und Schuld für das Geschehene allein bei ihren früheren Psychotherapeut/innen zu sehen (ebd.; Schuppli-Delpy & Nicola, 1994). In jeder Phase einer Folgetherapie sind v.a. eine hohe Transparenz in der Arbeitsbeziehung und die Ermutigung, kritische Gedanken mitzuteilen, von grosser Bedeutung.
Studien, die den therapeutischen Umgang mit Betroffenen in solchen Folgetherapien explizit untersuchen, fehlen nicht nur in Österreich. Ein diesbezüglicher Mangel wurde schon zu Beginn der Erforschung dieses Problemfelds festgestellt. Zudem liegt zu dieser Thematik überwiegend ältere Literatur vor, in den letzten Jahren wurden seltener Forschungen über dieses Thema publiziert. Im deutschsprachigen Raum haben sich vor allem Becker-Fischer, Fischer und Eichenberg (2008) sowie Tschan (2001) in ihren Untersuchungen umfassend mit diesem Thema, dem «professionalen Missbrauchstrauma» und insbesondere mit Folgetherapien von betroffenen Patient/innen auseinandergesetzt. In der Hochphase der Erforschung zwischen 1980 und 2000 wurden in Befragungen von Therapeut/innen u.a. Einstellungen zu sexuellen Kontakten in der Psychotherapie, Beurteilungen von Ersttherapien und Folgetherapien, persönliche Erfahrungen mit betroffenen Patient/innen, Reaktionen der Psychotherapeut/innen auf Berichte von Patient/innen, Einschätzungen von Folgen für Patient/innen und die Häufigkeit von stationären Aufenthalten, Suizidversuchen und Suiziden als Folgen der sexuellen Kontakte sowie von formellen Beschwerden erhoben (Bouhoutsos et al., 1983; Gartrell et al., 1987; Pope & Vetter, 1991; Stake & Oliver, 1991). In einer dieser internationalen Studien (Bouhoutsos et al., 1983) wurde der therapeutische Prozess in Folgetherapien zwar genauer untersucht, jedoch wurde der Schwerpunkt nicht speziell auf den therapeutischen Umgang mit Betroffenen in Folgetherapien gelegt. Im deutschsprachigen Raum wurden lediglich in einer österreichischen Studie schwerpunktmässig Einstellungen von Psychotherapeut/innen zu sexuellen Kontakten in und nach Ende einer Psychotherapie wie auch Auswirkungen der sexuellen Kontakte untersucht (Haberfellner & Zankl, 2008). Diese Studie erhob zwar auch Angaben von Folgetherapeut/innen zu ihren Fällen von betroffenen Personen, die Berichte dieser befragten Folgetherapeut/innen bezogen sich aber vorrangig auf die missbräuchlichen Ersttherapien. In den erwähnten Studien wurden zudem keine offenen Fragen in den Fragebogen aufgenommen.
Aus diesem Grund war das vorrangige Ziel dieser Studie die quantitative und qualitative Untersuchung des therapeutischen Umgangs mit dieser besonderen Patient/innengruppe in Folgetherapien. Ein weiteres Ziel war die systematische Erfassung der Auswirkungen auf die betroffenen Patient/innen aus Sicht der Folgetherapeut/innen. Ausserdem lag der Fokus auch auf der Erhebung von Einstellungen zu der Thematisierung von sexuellen Grenzverletzungen und -überschreitungen in der Psychotherapie, nicht nur von Folgetherapeut/innen, sondern auch von denjenigen Psychotherapeut/innen, die noch keine Folgetherapie ausgeführt haben.
In Österreich waren zum Befragungszeitpunkt 23 verschiedene Therapierichtungen zugelassen, die sich in vier Gruppen einteilen lassen: Methoden mit tiefenpsychologisch-psychodynamischer, humanistisch-existenzieller, systemischer sowie verhaltenstherapeutischer Orientierung. Vor diesem Hintergrund der Vielfalt an Therapierichtungen wurden in dieser Studie Folgetherapien von Betroffenen im Detail behandelt. Hierfür wurden u.a. Vorgehensweisen in der therapeutischen Aufarbeitung sowie Besonderheiten und Probleme in Folgetherapien erhoben. Um eine grösstmögliche inhaltliche Abdeckung zu erzielen und den befragten Personen die Möglichkeit zu geben, ihre Antworten selbst zu formulieren und so spezifische Informationen zu diesem Thema zu erhalten, wurden offene Fragen bzw. Antwortformate in die Befragung aufgenommen.
Die Grundgesamtheit dieser Studie war die Gruppe aller in Österreich tätigen Psychotherapeut/innen, die eine abgeschlossene Psychotherapieausbildung vorweisen können und in die Psychotherapeut/innenliste des BMSGPK eingetragen sind. Diese Kriterien schliessen jene bereits tätigen Psychotherapeut/innen, die sich noch in Ausbildung unter Supervision befinden, aus der Stichprobe aus.
In einer Erhebung unter jenen ausgebildeten Psychotherapeut/innen in Österreich wurde eine Online-Befragung im Zeitraum von April bis Juli 2018 durchgeführt. Die Befragung über das Online-Befragungstool UNIPARK wurde per E-Mail an 6.655 Personen ausgesendet. Das Gesamtsample der Befragung umfasste 578 Personen, davon haben die Befragung 330 Personen vollständig beendet und 248 Personen abgebrochen, wobei die meisten Abbrecher/innen (73.4%, n = 188; N = 248) die Befragung auf den ersten beiden Seiten abbrachen, was ein typisches Muster hinsichtlich Befragungsabbrüchen darstellt (Knapp & Heidingsfelder, 1999). Folglich lag die Beendigungsquote bei 57.1% und die Rücklaufquote bei 5.6% (N = 330). Die Teilnehmenden wurden dahingehend instruiert, dass sich diese Befragung sowohl an Psychotherapeut/innen richtet, die bereits Patient/innen behandelt haben, die in einer vorherigen Psychotherapie sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen erlebt haben, als auch an Psychotherapeut/innen, die noch keine betroffenen Patient/innen behandelt haben.
Für die Online-Befragung wurde ein Fragebogen mit insgesamt 57 Items eingesetzt, die mit geschlossenen und offenen Antwortformaten formuliert wurden. Da in diesem Feld bis dato wenig Forschung mit evaluierten Fragebogen publiziert wurde, wurde ein neuer Fragebogen mit folgenden Themenblöcken entwickelt:
Die befragten Folgetherapeut/innen konnten bei der Frage nach betroffenen Patient/innen angeben, welche Art von sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen ihre Patient/innen erfahren haben (Mehrfachauswahl war möglich). Für diesen Fragebogen wurden Geschlechtsverkehr oder Berührungen im Intimbereich als sexuelle Grenzüberschreitung bzw. sexueller Missbrauch mit Intimkontakt zwischen Patient/in und Ersttherapeut/in definiert. Wenn es zu anzüglichen Bemerkungen, voyeuristischen Befragungen oder Austausch von Zärtlichkeiten etc. kam, wurde dies als sexuelle Grenzverletzung bzw. sexueller Missbrauch ohne Intimkontakt definiert.
Die statistischen Auswertungen und Analysen erfolgten mit der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics 24. Es wurde in einem ersten Schritt eine deskriptive Datenanalyse durchgeführt. In weiterer Folge wurden Effekte mittels verschiedener inferenzstatistischer Verfahren (Chi-Quadrat-Test nach Pearson, Mann-Whitney U-Test und Wilcoxon-Test; Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% [p = 0.05]) untersucht, um Zusammenhänge und Unterschiede hinsichtlich der Teilstichproben darzustellen.
Die Daten der Items mit offenem Antwortformat wurden mithilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet. Hierfür wurde die Technik der inhaltlichen Strukturierung gewählt. Insgesamt wurden sieben Kategoriensysteme mit induktiv am Material gebildeten Kategorien erstellt (Tab. 1). Dieses Material umfasste alle Antworten der befragten Psychotherapeut/innen zu den Items mit offenem Antwortformat. Zusätzlich wurde bei jenen ausgewerteten Items hinsichtlich der genannten Antworten eine Häufigkeitsanalyse entsprechend den gebildeten Kategorien durchgeführt. Demnach wurden die Daten einer Kombination aus qualitativer und quantitativer Inhaltsanalyse unterzogen.
Kategoriensystem |
Bezeichnung |
Anzahl der Kategorien |
K1 |
schädliche Folgen des sexuellen Kontakts für alle sexuell missbrauchten Patient/innen der befragten Personen (n = 50) |
24 |
K4 |
anderes Vorgehen bei therapeutischer Aufarbeitung (n = 26) |
4 |
K5 |
Beschreibung des therapeutischen Vorgehens (n = 44) |
20 |
K6 |
Besonderheiten in der speziellen Situation als Folgetherapeut/in (n = 40) |
16 |
K7 |
schädliche Folgen des sexuellen Kontakts, die die Psychotherapeut/innen ohne persönliche Erfahrung in der Behandlung von betroffenen Patient/innen angaben (n = 222) |
31 |
Tab. 1: Ausgewählte Kategoriensysteme mit der Anzahl an induktiv gebildeten Kategorien
Deskriptive Ergebnisse zu den demografischen Angaben aller Psychotherapeut/innen, die an der Online-Befragung teilgenommen haben, sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Stichprobe |
N/n |
Frauenanteil |
Männeranteil |
Alter |
Dauer der Berufsausübung in Jahren |
Gesamtstichprobe |
330 |
230 (69.7%) |
100 (30.3%) |
M = 52.2, SD = 9.5 range: 29–81 |
M = 15.4, SD = 9.3 range: 1–41 |
Folgetherapeut/innen |
53 (16.1%) |
31 (58.5%) |
22 (41.5%) |
M = 55.9, SD = 8.6 range: 37–71 |
|
Psychotherapeut/innen, ohne persönliche Erfahrung in der Behandlung |
277 (83.9%) |
199 (71.8%) |
78 (28.2%) |
Tab. 2: Demografische Angaben der befragten Psychotherapeut/innen
Hinsichtlich der in Österreich anerkannten Therapierichtungen, in denen die befragten Psychotherapeut/innen ausgebildet sind, waren Mehrfachangaben möglich. Eingeteilt in die vier erwähnten Gruppen wurden am häufigsten Therapierichtungen mit humanistisch-existenzieller Orientierung (45%) ausgewählt, gefolgt von Richtungen mit tiefenpsychologisch-psychodynamischer (28.9%), systemischer (27.3%) sowie verhaltenstherapeutischer Orientierung (13%). Etwa die Hälfte der Befragten (47%, n = 152) gab mindestens eine zusätzliche psychotherapeutische Ausbildung an. Davon gaben wiederum 47.4% (n = 72) an, eine Traumatherapieausbildung zu haben.
Der Anteil an Folgetherapeut/innen in dieser Stichprobe lag bei 16.1%, d.h., n = 53 Personen haben bereits Patient/innen behandelt, die sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen in einer vorherigen Psychotherapie erlebt haben. Jeweils in 9.1% der angegebenen Fälle (n = 30; [N = 330]) wurde von den Folgetherapeut/innen die Antwortkategorie «Intimkontakt zwischen Patient/in und Therapeut/in» bzw. «kein Intimkontakt zwischen Patient/in und Therapeut/in» ausgewählt (Definition unter Stichprobe und Studiendesign). Ein kleiner Teil der Folgetherapeut/innen (2.1%, n = 7) hat beide Fälle von sexuellen Grenzverletzungen (mit bzw. ohne Intimkontakt) bei dieser Frage angegeben. Mehrheitlich lagen Fälle von sexuellen Grenzüberschreitungen bzw. sexuellem Missbrauch ohne Intimkontakt vor (65.3%, n = 32).
Insgesamt berichteten die befragten Folgetherapeut/innen von N = 159 Patienten, die in therapeutischer Folgebehandlung waren. Demnach waren im Durchschnitt drei betroffene Personen bei den befragten Psychotherapeut/innen in Behandlung. In 88% der Fälle (n = 140) sind diese Personen weiblich und in 12% der Fälle männlich.
Von allen Folgetherapeut/innen wurden schädliche Folgen bis hin zu Traumatisierungen durch den sexuellen Kontakt angegeben. Die am häufigsten genannten Folgen waren (Mehrfachnennungen möglich): Scham- und Schuldgefühle (32%, n = 16), (Re-)Traumatisierungen (28%, n = 14), Vertrauensverlust oder -probleme (24%, n = 12) und Selbstwertprobleme (20%, n = 10). Sechs befragte Folgetherapeut/innen (11.3%) gaben neben schädlichen Folgen durch den sexuellen Kontakt auch an, dass die betroffenen Personen z.B. davon berichteten, sich als Folge des sexuellen Kontakts begehrt und attraktiv gefühlt zu haben. Jedoch lagen nach Einschätzung der Folgetherapeut/innen in 76.3% aller berichteten Fälle Traumafolgestörungen aus dem gesamten Traumafolgespektrum vor, die auf den sexuellen Kontakt bzw. die Grenzverletzungen oder -überschreitungen durch die Ersttherapeut/innen zurückzuführen sind.
Ein Teil der Folgetherapeut/innen (n = 30) gab spezifische Informationen zu ihrer/ihrem letzten betroffenen Patienten/in an, die/den diese behandelt haben. In 86.7% der Fälle (n = 26) war eine Patientin betroffen, in 13.3% der Fälle (n = 4) ein Patient. In den häufigsten Fällen 26.7% (n = 8) fanden die sexuellen Grenzüberschreitungen oder -verletzungen länger als ein Jahr statt, in den seltensten Fällen 6,7% (n = 2) waren diese einmalig. In zwei Fällen (6.7%) kam es zu einer Anzeige der missbrauchenden Person, zu einer Verurteilung kam es jedoch in keinem Fall.
Ein auffallendes Ergebnis bezüglich des therapeutischen Umgangs betrifft die Reihenfolge in der Aufarbeitung der sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen und der Primärstörungen. Annähernd ein Drittel (30.2%, n = 16) bearbeitete zuerst die sexuellen Grenzverletzungen, 18.9% (n = 10) zuerst die Primärstörung(en). Die Mehrheit, 50.9% (n = 27), gab aber weder die sexuellen Grenzüberschreitungen noch die Primärstörung(en), sondern ein anderes Vorgehen im offenen Antwortfeld an. Diese inhaltsanalytisch ausgewerteten Angaben zeigten, dass in 53.9% der Fälle (n = 14) die Reihenfolge von den Bedürfnissen und Prioritäten der/des Patienten/in abhing. In 23.1% der Fälle (n = 6) wurden hier Angaben gemacht, die mit Ressourcenarbeit und Entlastung zusammengefasst werden können. In wenigen Fällen (19.2%, n = 5) wurde genannt, dass die sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen und die Primärstörung(en) gleichzeitig bearbeitet wurden.
Hinsichtlich wesentlicher Haltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Folgetherapeut/innen, die im Fragebogen angeführt wurden, wurden acht von elf von der Mehrheit als sehr wichtig eingeschätzt, wie «klare Grenzen, die von Folgetherapeut/innen respektiert werden» gefolgt von «Vermittlung von Sicherheit, dass kein sexueller Kontakt vorkommen wird» und «eine klare Position zum Missbrauch». Hingegen wurde u.a. die «Parteilichkeit für Patient/innen» nicht von der Mehrheit als sehr wichtig bewertet.
Die Folgetherapeut/innen konnten zum einen ihr therapeutisches Vorgehen im Umgang mit den sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen durch Ersttherapeut/innen in den Behandlungen von ihren betroffenen Patient/innen beschreiben. Diese Beschreibungen von n = 44 Personen fallen in insgesamt 20 induktiv identifizierte Kategorien. Die Bearbeitung von bestimmten Aspekten, Themen und Bedürfnissen, die als Folgen der sexuellen Grenzverletzungen aufgetreten sind, wird dabei am häufigsten genannt. Diese Kategorie und vier weitere Kategorien sowie ausgewählte Ankerbeispiele dieser fünf häufigsten Kategorien sind in Tabelle 3 angeführt.
Zum anderen konnten die befragten Personen angeben, welche Besonderheiten sie in ihrer speziellen Situation als Folgetherapeut/in in Bezug auf das Setting, die Beziehung oder auch eigene Gefühle erlebten (z.B. Gegenübertragungskonstellationen oder Konflikte). Die beschriebenen, erlebten Besonderheiten von n = 40 Befragten wurden insgesamt 16 induktiv gebildeten Kategorien zugeordnet. In dieser speziellen Situation sind «Verärgerung, Wut, Aggressionen» die häufigsten genannten Besonderheiten (Tab. 4).
Kategorie |
Ankerbeispiele |
N |
% |
K1: Bearbeitung von Aspekten, Themen, Bedürfnissen |
«Bearbeitung von Folgen im Alltag»; «Schuld- und Schamgefühle werden bearbeitet»; «Grenzverletzungen als reparabel behandeln – entdramatisieren! nicht auf Missbrauch reduzieren» |
18 |
40.9 |
K2: klare Haltung und Aufklärung |
«Grenzüberschreitungen der missbrauchenden Person werden klar aufgezeigt»; «klar Stellung beziehen, weil Opfer sexueller Übergriffe oft die Schuld bei sich selbst suchen» |
13 |
29.5 |
K3: Ressourcen stärken |
«Ressourcen- und Zielorientierung»; «soziales Netz sichern» |
12 |
27.3 |
K4: Vertrauens- und Beziehungsaufbau |
«achtsame Beziehungsarbeit»; «wichtigste Basis Vertrauen in die jetzige Therapie und in mich» |
12 |
27.3 |
K5: Stabilisierung, Unterstützung |
«Stützung, wenn erforderlich»; «wichtig scheint mir die Ermutigung, die Therapie fortzusetzen, da eine grosse Tendenz besteht, sich nur vorsichtig einzulassen, bei Hürden, Schwierigkeiten abzubrechen» |
10 |
22.7 |
Tab. 3: Kategorien des Kategoriensystems «Beschreibung des therapeutischen Vorgehens», denen am häufigsten Antworten zugeordnet werden konnten (n = 44)
Kategorie |
Ankerbeispiele |
N |
% |
K1: Verärgerung, Wut, Aggressionen |
«Verärgerung über gewisse narzisstische Kollegen»; «Aggressionen gegenüber missbrauchenden Therapeut/innen, die in der Supervision bearbeitet wurden» |
20 |
50 |
K2: spezifische Herausforderungen für den/die Therapeuten/in |
«Umgang mit den Erwartungen und Befürchtungen des/der Klienten/in»; «abstinent neutral sein ist anstrengend»; «manipulierende Abbruchsankündigungen» |
10 |
25 |
K3: erhöhte Anforderungen an den/die Therapeuten/in |
«erhöhte Komplexität in der Therapiegestaltung»; «extra feinfühliges Vorgehen»; «Schamdynamiken erfordern hohe Präsenz und Personzentrierung» |
8 |
20 |
K4: auf Grenzen achten |
«strengere Anforderungen an den eigenen Umgang mit Grenzen (Zeiten)»; «Grenzen immer wieder thematisieren, Stopp gilt» |
7 |
17.5 |
K5: Ambivalenz, Misstrauen, Unsicherheiten, Vorsicht seitens des/der Patienten/in |
«aufflammendes Misstrauen dem Berufsstand gegenüber»; «mit dem Misstrauen immer wertschätzend umgehen, ist nicht immer leicht»; «Unsicherheiten seitens des/der Klienten/in, wie habe ich etwas Bestimmtes gemeint» |
6 |
15 |
Tab. 4: Kategorien des Kategoriensystems «Besonderheiten in der speziellen Situation als Folgetherapeut», denen am häufigsten Antworten zugeordnet werden konnten (n = 40)
Neben den Folgetherapeut/innen nahmen auch Psychotherapeut/innen an der Online-Befragung teil, die noch keine persönliche Erfahrung mit jenen, von sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen betroffenen Patient/innen gemacht haben (Tab. 2). Annähernd alle Befragten (94.6%, n = 262) wären bereit, betroffene Patient/innen selbst psychotherapeutisch zu behandeln. Die Folgen, die sexuelle Kontakte zwischen Psychotherapeut/innen und Patient/innen nach sich ziehen können, wurden von 99.6% dieser Psychotherapeut/innen (n = 276) als schädlich eingeschätzt und folgende Auswirkungen am häufigsten angegeben: (Re-)Traumatisierungen (46.9%), Vertrauensverlust bzw. -bruch (30.6%), negative Auswirkungen auf die Psychotherapie (26.6%) und Abhängigkeiten (14%). Eine Person gab an, dass sexueller Kontakt «positive» Folgen habe, während sechs Personen angaben, dass sexuelle Kontakte keine Folgen nach sich ziehen würden.
Ein weiteres zentrales Ergebnis zeigt auf, dass die überwiegende Mehrheit aller Befragten der Meinung war, dass sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen durch Psychotherapeut/innen weder in Psychotherapieausbildungen (67%, n = 221) noch in Fort- und Weiterbildungen, Supervisionen und Intervisionen (73%, n = 241) ausführlich genug behandelt werden. Rund 55% der befragten Folgetherapeut/innen (n = 29) setzten sich mit der Problematik am häufigsten im Rahmen der Psychotherapieausbildung auseinander. Dies gilt auch für die Mehrheit der Psychotherapeut/innen (41.5%, n = 115), die selbst noch keine Folgetherapie durchgeführt haben (Mehrfachauswahl bezüglich der Auseinandersetzung mit der Thematik war möglich).
Ein signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe der Folgetherapeut/innen und der Gruppe der Psychotherapeut/innen ohne persönliche Erfahrung in der Behandlung Betroffener betrifft das Wissen um den Paragrafen §212 StGB, der den Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses unter Strafe stellt. Der Gruppe der Folgetherapeut/innen war dieser Paragraf §212 StGB signifikant häufiger bekannt als der anderen Gruppe (χ2 (1) = 9.86, p = .002). Zusammengefasst kannten fast 20% aller befragten Psychotherapeut/innen diesen Paragrafen §212 StGB nicht.
Die Stichprobe dieser Online-Befragung bildet die zentralen Charakteristika der Population der österreichischen Psychotherapeut/innen hinsichtlich Geschlecht, Alter und Therapierichtungen weitgehend ab (Sagerschnig & Tanios, 2017). In dieser Befragung ist der Anteil der Folgetherapeut/innen (16.1%, n = 53) deutlich kleiner im Vergleich mit anderen Befragungen von Psychotherapeut/innen, Psychiater/innen und anderen im psychosozialen Bereich tätigen Personen zu diesem Thema (36–65% hatten betroffene Patient/innen in Folgebehandlung) (z.B. Bouhoutsos et al., 1983; Gartrell et al., 1987; Pope & Vetter, 1991; Stake & Oliver, 1991; Haberfellner & Zankl, 2008). Dieser Unterschied ergibt sich womöglich aufgrund der Stichprobengrösse und -zusammensetzung, da in den anderen Studien mitunter auch Psychiater/innen oder Psycholog/innen befragt wurden. Hingegen kann die durchschnittliche Anzahl von drei Fällen mit den Ergebnissen anderer Studien (4.2 bzw. 2.3 Fälle) verglichen werden (Becker-Fischer et al., 2008; Haberfellner & Zankl, 2008). Auch im Vergleich der Ergebnisse zu den schädlichen Folgen und häufigsten Beschwerden für Betroffene besteht eine weitgehende Übereinstimmung (Löwer-Hirsch, 2017; Becker-Fischer et al., 2008; Fischer & Eichenberg, 2007). Zusammengefasst sind die häufigsten negativen oder schädlichen Folgen der sexuellen Kontakte Scham- und Schuldgefühle, (Re-)Traumatisierungen, Ängste vor Alleinsein oder vor körperlicher Nähe und Panikattacken, Selbstwert- sowie Vertrauensprobleme (vgl. Becker-Fischer et al., 2008; Fischer & Eichenberg, 2007). Weitere Störungen und Beschwerden, die in der Befragung angegeben wurden, finden sich auch in der Literatur und anderen Studien wie z.B. somatische Beschwerden, sexuelle Probleme und Funktionsstörungen, Schlafstörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen (z.B. Löwer-Hirsch, 2017; Becker-Fischer et al., 2008; Amendt-Lyon et al., 2001; Heyne, 1995; Luepker, 1999).
Entgegen den empfohlenen Regeln wird von der Mehrheit ein Vorgehen angegeben, das nicht die Auswirkungen der sexuellen Grenzverletzungen oder -überschreitungen zunächst in den Behandlungsmittelpunkt stellt. Wie zuvor bereits dargelegt wurde, sollte bei der Aufarbeitung nach empfohlenen traumatherapeutischen Regeln vorgegangen werden und in der Anfangsphase einer Folgetherapie der Fokus vorerst nur auf die in vielen Fällen traumatischen Erfahrungen in der Ersttherapie gelegt werden (Becker-Fischer et al., 2008; Schuppli-Delpy & Nicola, 1994). Im Zuge der Einschätzung der Wichtigkeit von Haltungen und Verhaltensweisen im Rahmen einer Folgetherapie wurde die «Parteilichkeit für Patient/innen» nicht von der Mehrheit der Befragten als sehr wichtig bewertet. Diese Parteilichkeit oder «parteiliche bzw. nicht-neutrale Abstinenzhaltung» ist jedoch von grundlegender Bedeutung, um eine mögliche erneute Traumatisierung in der Folgetherapie zu verhindern (Tschan, 2001; Becker-Fischer et al., 2008).
Im Hinblick auf den therapeutischen Umgang und die Vorgehensweise in einer Folgetherapie sollte nicht ausser Acht gelassen werden, dass die therapeutische Aufarbeitung der sexuellen Grenzüberschreitungen auch von der Orientierung und dem/den Therapieverfahren abhängt, die die befragten Folgetherapeut/innen vertreten bzw. erlernt haben. Da in Österreich über 20 verschiedene Richtungen anerkannt sind, sollte hier hinterfragt werden, ob unterschiedliche Vorgehensweisen im Rahmen einer Folgetherapie von Betroffenen zur Anwendung kommen können oder ob gewisse Verfahren für die Aufarbeitung von sexuellen Grenzverletzungen, die in einer Psychotherapie stattfanden, nicht geeignet sind. Gerade die Tatsache, dass die meisten Patient/innen nach sexuellen Grenzüberschreitungen in ihrer Psychotherapie Traumafolgestörungen entwickeln, legt nahe, dass eine psychotraumatherapeutische Kompetenz der Nachbehandler/innen wichtig ist.
Die überwiegende Mehrheit aller befragten Psychotherapeut/innen vertrat die Meinung, dass sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen durch Psychotherapeut/innen sowohl in Ausbildungen als auch in Fort- und Weiterbildungen nicht ausreichend thematisiert werden, was sich auch daran zeigt, dass ca. ein Fünftel den Paragrafen §212 StGB, der den Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses unter Strafe stellt und folglich auch für Psychotherapeut/innen gilt, nicht kannten. Weitere Ergebnisse der Online-Befragung verdeutlichen, dass zum einen nur etwas mehr als die Hälfte der Folgetherapeut/innen, zum anderen weniger als die Hälfte der Psychotherapeut/innen ohne persönliche Erfahrung mit betroffenen Patient/innen in ihrer Psychotherapieausbildung mit diesem Thema konfrontiert war und über die Problematik aufgeklärt wurde.
Als gravierendste Limitation dieser Online-Befragung muss die Rücklaufquote von 5.6% reflektiert werden, die sehr gering und somit die Stichprobe (N = 330) nicht repräsentativ für alle österreichischen Psychotherapeut/innen ist. In Bezug auf die daraus resultierende Grösse der unterschiedlichen Teilstichproben muss angemerkt werden, dass folglich die Prävalenzzahlen klein sind sowie viele Ergebnisse der statistischen Analysen nicht signifikant sind. Die geringe Rücklaufquote lässt sich durch die Vermutung begründen, dass eine grosse Anzahl von E-Mails mit der Einladung zur Online-Befragung in den Spam-Ordnern der Empfänger/innen gelandet ist, verursacht durch eine Klassifizierung als Spam aufgrund von Textstellen wie «sexueller Missbrauch» und dem enthaltenen Link zur Online-Befragung. Zudem könnten die Schwierigkeit und Problematik des Themas Gründe sein, dass Personen nicht an der Befragung teilgenommen haben. Womöglich könnten bei jenen Psychotherapeut/innen Widerstände bestehen, sich mit schweren Missständen im eigenen Berufsfeld auseinanderzusetzen. Da bei der Ausschreibung der Online-Befragung zum einen darauf geachtet wurde, alle Psychotherapeut/innen zur Teilnahme zu motivieren, d.h. nicht nur diejenigen, die besonders schwere Fälle von sexuellen Grenzüberschreitungen in der Psychotherapie behandelt haben, kann davon ausgegangen werden, dass keine einseitige Stichprobenzusammensetzung vorliegt. Zum anderen wurde nicht nur nach negativen und schädlichen Folgen durch den sexuellen Kontakt, sondern auch nach für die Patient/innen möglicherweise angenehmen Folgen gefragt, um einer möglichen Verzerrung entgegenzuwirken.
Die referierten Ergebnisse können als Anhaltspunkte für weitere Studien mit grösseren und repräsentativen Stichproben gesehen werden, die diese Problematik u.a. auch auf dem Hintergrund der «#MeToo-Bewegung» untersuchen. In nachfolgenden Studien sollten z.B. auch die Herausforderungen, Schwierigkeiten und spezifischen Probleme, die in Folgetherapien auftreten, vertieft, d.h. mit qualitativen Interviews, untersucht werden. Ausserdem könnte im Hinblick auf die grosse Anzahl an anerkannten Therapierichtungen in Österreich ein Forschungsschwerpunkt auf die unterschiedlichen Vorgehensweisen entsprechend den angewandten Methoden in den Behandlungen von betroffenen Patient/innen gelegt werden. Zum anderen können die Ergebnisse auch als Anhaltspunkte für Fort- und Weiterbildungen zu diesem Thema für Psychotherapeut/innen dienen, die obligatorisch angeboten und v.a. auch in die Ausbildung implementiert werden sollten. In diesen könnten dann auch die grundlegenden Fähigkeiten, Kenntnisse und Vorgehensweisen für die Behandlung in Folgetherapien vermittelt werden. Inhaltliche Anregungen sind in der Infobox zusammengestellt.
Amendt-Lyon, N., Korbei, L., Hutterer-Krisch, R., Pawlowsky, G., Rauscher-Gföhler, B. & Wiesnagrotzki, S. (2001). Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie und im Ausbildungsverhältnis. In R. Hutterer-Krisch (Hrsg.), Fragen der Ethik in der Psychotherapie: Konfliktfelder, Machtmißbrauch, Berufspflichten (S. 651–667). Wien: Springer.
Becker-Fischer, M., Fischer G. & Eichenberg, C. (2008). Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie: Orientierungshilfen für Therapeut und Klientin. Kröning: Asanger.
Bouhoutsos, J., Holroyd, J., Lerman, H., Forer, B.R. & Greenberg, M. (1983). Sexual intimacy between psychotherapists and patients. Prof. Psychol.: Res. Pract., 14(2), 185–196.
Doralt, W. (Hrsg.). (2016). Kodex des Österreichischen Rechts. Strafgesetzbuch. Wien: LexisNexis.
Eichenberg, C., Dorniak, J. & Fischer, G. (2009). Sexuelle Übergriffe in therapeutischen Beziehungen: Risikofaktoren, Folgen und rechtliche Schritte. PPmP, 59(09/10), 337–344.
Fischer, G. & Eichenberg, C. (2007). Sexuelle Kontakte innerhalb therapeutischer Beziehungen. Psychotherapie Forum, 15, 189–191.
Gartrell, N., Herman, J., Olarte, S., Feldstein, M. & Localio, R. (1987). Reporting practices of psychiatrists who knew of sexual misconduct by colleagues. Am. J. Orthopsychiatry, 57(2), 287–295.
Haberfellner, E.M. & Zankl, S. (2008). Einstellung zu sexuellen Kontakten in der Psychotherapie: Ergebnisse einer Befragung unter oberösterreichischen Psychotherapeuten. Psychotherapie Forum, 16(2), 92–97.
Heyne, C. (1995). Grenzverletzungen in Therapie und Beratung: Typische Abläufe im Spannungsfeld von Machtmißbrauch und Manipulation. In U. Sonntag (Hrsg.), Übergriffe und Machtmißbrauch in psychosozialen Arbeitsfeldern: Phänomen – Strukturen – Hintergründe (S. 55–73). Tübingen: dgvt-Verlag.
Kaczmarek, S., Passmann, K., Cappel, R., Hillebrand, V., Schleu, A. & Strauß, B. (2012). Wenn Psychotherapie schadet … Systematik von Beschwerden über psychotherapeutische Behandlungen. Psychotherapeut, 57, 402–409.
Knapp F. & Heidingsfelder, M. (1999). Drop-Out-Analyse: Wirkungen des Untersuchungsdesigns. https://www.gor.de/archive/gor99/tband99/pdfs/i_p/knapp.pdf (08.06.2021).
Löwer-Hirsch, M. (2017). Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie. Fallgeschichten und Psychodynamik. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Luepker, E.T. (1999). Effects of practioners’ sexual misconduct: a follow-up study. J.Am. Acad. Psychiatry Law, 27(1), 51–63.
Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim, Basel: Beltz.
Pope, K.S. & Vetter, V.A. (1991). Prior therapist-patient sexual involvement among patients seen by psychologists. Psychotherapy, 28(3), 429–438.
Sagerschnig, S. & Tanios, A. (2017). Psychotherapie, klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie. Statistik der Berufsgruppen 1991–2016. Wien: Gesundheit Österreich GmbH.
Schönke, A. & Schröder, H. (2014). Strafgesetzbuch. Kommentar. München: C.H.Beck.
Schuppli-Delpy, M. & Nicola, M. (1994). Folge-Therapien mit in Psychotherapie sexuell mißbrauchten Patientinnen. In K.M. Bachmann & W. Böker (Hrsg.), Sexueller Mißbrauch in Psychotherapie und Psychiatrie (S. 123–138). Bern: Huber.
Stake, J.E. & Oliver, J. (1991). Sexual contact and touching between therapist and client: A survey of psychologists’ attitudes and behavior. Prof. Psychol.: Res. Pract, 22(4), 297–307.
Tschan, W. (2001). Missbrauchtes Vertrauen – Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen: Ursachen und Folgen: eine transdisziplinäre Darstellung. Basel: Karger.
Therapeutic border violations in psychotherapy
A survey among Austrian psychotherapists and follow-up therapists of affected patients
Abstract: Approximately 10% of all psychotherapists commit sexual violations and cross sexual boundaries in the context of psychotherapy. The aim of the study was to show the consequences of those affected and the therapeutic treatment of follow-up therapists. 330 Austrian psychotherapists were asked about their experiences and their therapeutic treatment of patients, who had experienced sexual transgressions in previous therapies by using a self-designed questionnaire. Every sixth therapist who was interviewed (16.1%, n = 53) has already been consulted by patients who have experienced sexual violations. In all reported cases, the sexual contact with psychotherapists entailed harmful consequences up to traumatization. Contrary to the recommended rules, the majority of the respondents indicated a procedure that did not initially focus on the effects of violations of sexual transgressions in the context of psychotherapy. Crossing sexual boundaries in the context of psychotherapy should be made a compulsory subject of training and further education. The results provide indications for related contents.
Keywords: Therapeutic border violations, sexual abuse, psychotherapy, follow-up therapy, online survey
Violazione e superamento dei confini della sfera sessuale dei pazienti in psicoterapia
Un sondaggio tra psicoterapeuti austriaci dei pazienti coinvolti
Riassunto: Il 10% di tutti gli psicoterapeuti ha violato e superato i confini della sfera sessuale dei loro pazienti durante la psicoterapia. L’obiettivo dello studio è quello di evidenziare le conseguenze riscontrate nei pazienti coinvolti e l’approccio terapeutico adottato dai terapisti successivi. 330 psicoterapeuti austriaci hanno risposto a un questionario autonomamente redatto in relazione alle esperienze avute con pazienti che hanno subito violazioni della loro sfera sessuale durante le sedute della fase conoscitiva della terapia e del loro approccio verso tali pazienti. Uno psicoterapeuta su sei (16,1%, n = 53) era stato già contattato da pazienti che avevano subito delle violazioni della sfera sessuale durante una terapia precedente. In tutti i casi riportati il contatto sessuale con lo psicoterapeuta ha avuto conseguenze dannose fino a condurre alla traumatizzazione. Contrariamente alle regole raccomandate, la maggioranza dei professionisti intervistati ha riportato di non aver seguito un approccio che ponesse al centro della terapia le conseguenze del superamento dei confini della sfera sessuale del paziente. Tale violazione in psicoterapia dovrebbe diventare una tematica obbligatoriamente trattata nei corsi di formazione, di aggiornamento e di perfezionamento. I risultati forniscono delle indicazioni su possibili spunti di trattazione in tal senso.
Parole chiave: violazione dei confini della sfera sessuale, superamento dei confini della sfera sessuale, abuso sessuale, psicoterapia, psicoterapia successiva, sondaggio online
Die Autorinnen
Magdalena Schwabegger, MSc., hat Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und Berlin studiert. Derzeit ist sie als Klinische Psychologin in Ausbildung im Klinikum Anton Proksch Institut in Wien tätig.
Christiane Eichenberg, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., ist Psychoanalytikerin und Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Medizinischen Fakultät der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien.
Kontakt
E-Mail: eichenberg@sfu.ac.at